Erzählende und erzählte Aufklärung: DGEJ-Tagung 2015

Beiträge, Französisch, Italienisch

Tagungsbericht von Christian Reidenbach, „Erzählende und erzählte Aufklärung: Die DGEJ erarbeitet in Halle eine ‚historische Narratologie‘ des 18. Jahrhunderts“, im kommenden Heft 3 der Romanischen Studien.

Zur Jahrestagung 2015 der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung der Aufklärung (DGEJ), die vom 28. bis 30. September 2015 in Halle a. d. Saale stattfand. | Organisation: Prof. Dr. Frauke Berndt (Tübingen) und Prof. Dr. Daniel Fulda (Halle) | Abstracts der Sektionsvorträge.

Sektionen

I Narration und Narrative der Aufklärung

  • Sektion 1: ‚Die Aufklärung‘: Historische Erzählungen (Leitung: Iwan-M. d’Aprile)
  • Sektion 2: Stimme(n) der Vernunft: Philosophische Erzählungen (Leitung: Heiner Klemme)
  • Sektion 3: Aber/Glauben: Religiöse Erzählungen (Leitung: Sabine Volk-Birke)
  • Sektion 4: Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen (Leitung: Birgit Neumann)
  • Sektion 5: ‚Die Aufklärung‘ in der Gegenwart (Leitung: Stephan Kammer)

II Narratologie des 18. Jahrhunderts

  • Sektion 6: Theorien und Modelle un/möglicher Welten (Leitung: Martin Mulsow)
  • Sektion 7: Medien des Erzählens: Inter- und Transmedialität (Leitung: Jörg Robert)
  • Sektion 8: Narration, Perspektive, Ambivalenz: Szenen und Rollen des Erzählens (Leitung: Fritz Breithaupt)
  • Sektion 9: Narration, Kognition und Affekt: Fühlen, Empfinden, Erkennen (Leitung: Yvonne Wübben)
  • Sektion 10: Erzählen in den Wissenschaften – wissenschaftliches Erzählen (Leitung: Anita Traninger)

Erläuterung der Organisatoren:

[responsivevoice voice=“Deutsch Female“]

Zu erzählen heißt, amorphes Geschehen zu einer nachvollziehbaren Geschichte mit einem ‚Ereignis‘ zu konfigurieren und eine spezifische Perspektive darauf anzubieten. Diese Operation ist keine objektive Wiedergabe, sondern stellt eine poietische Form dar, die Welt zu ordnen und zu deuten. Das gilt auch für das Erzählen der Aufklärung, und zwar für das Erzählen der Aufklärer ebenso wie für das Erzählen von der Aufklärung. Im 18. Jahrhundert wird auf bestimmte Weisen erzählt – und zwar zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Zeit. Erzählen zeigt sich als lokalisiertes Faktum, das freilich sehr weitreichende Ansprüche erheben kann, wenn es bis zu geschichtsphilosophischen Entwürfen ausgreift: Indem die Aufklärer (oder ihre Gegner) von der Aufklärung erzählen, bildet sich das Narrativ ‚Die Aufklärung‘. Zwischen Erzählungen, von denen die Identitätsbildung einzelner Individuen abhängt, und den ‚Großen Erzählungen‘, welche die intersubjektive Kommunikation und gesellschaftliche Sinnbildung steuern, bildet insbesondere der Begriff des Ereignisses das Relais, das die Zustandsveränderungen, von denen erzählt wird, als springenden Punkt der Erzählung markiert. Durch die Erzählung solcher Ereignisse entstehen „kulturprägende Narrative“, die „als Institutionen im Reich der Semantik aufgefasst werden“ können (Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2012, S. 293).

Im europäischen Erzählschatz spielt das Metanarrativ der Aufklärung eine zentrale Rolle. Auf der einen Seite verbindet es bis heute nicht nur Europa mit Amerika, sondern auch alle Kulturen miteinander, die sich dem Projekt der Aufklärung verpflichten, z. B. der Freiheit des bzw. der Einzelnen, der Trennung von Staat und Kirche oder dem Prinzip der Gewaltenteilung. Auf der anderen Seite haben sowohl das Metanarrativ der Aufklärung als auch die wichtigsten Erzählformen der Moderne ihren Ursprung im 18. Jahrhundert. Dort werden sie in verschiedenen Medien, insbesondere in der Literatur, eingeübt und reflektiert. Ist die Aufklärung also als genuin erzählerische Epoche zu begreifen?

Bei der Beantwortung dieser Leitfrage ist auch zu berücksichtigen, dass das Erzählen im 18. Jahrhundert zu einer zentralen Wissensform avancierte. Wie trugen die flexiblen Formen des Erzählens sowie seine Fähigkeit, sachliche Differenzen in zeitliche aufzulösen, dazu bei, differenziertes Wissen zu repräsentieren? Von ihren Erfahrungen oder beobachteten ‚Fällen‘ erzählten nun Ärzte, Psychologen, Reisende, Naturforscher und sogar Philosophen. In Groß-britannien wurde eine moderne Geschichtsschreibung erfunden, die Quellenforschung und erzählerische Darstellung verband; in der deutschen Historiographie stand die Erzählung als dringendes Desiderat auf der Tagesordnung. Neue Medien wie die Moralischen Wochen-schriften bedienten sich intensiv narrativer Formen. Der zunehmend kritischer beurteilten systematischen Deduktion machte das ‚induktive‘ Erzählen ebenso Konkurrenz wie dem wahrnehmungsnahen Medium des Bildes. Diese vielfältigen Formen und Funktionen des Erzählens soll die Tagung nicht nur mit Blick auf ein ‚reines‘ Erzählen, sondern ebenso in inter- und transmedialen Mischformen rekonstruieren.

Je intensiver die Aufklärung in den vergangenen Jahren erforscht worden ist, desto schwieriger ist es anzugeben, was diese Epoche ausmacht, und desto zweifelhafter erscheint, ob ihre Akteure einem gemeinsamen Grundmotiv folgen. Auf diese Verunklärung des Epochenprofils reagierend, hat der kalifornische Romanist Dan Edelstein unlängst vorgeschlagen, die Aufklärungsforschung solle nicht mit einem Merkmalbündel ‚aufklärerischer‘ Ziele, Denkweisen und Praktiken starten, sondern die Frage stellen, wo sich die historischen Akteure von dem Bewusstsein leiten ließen, zur Aufklärung beizutragen. Dabei bindet Edelstein aufklärerisches Selbstbewusstsein weniger an den Gebrauch von Begriffen wie aufklären, aufgeklärt oder gar Aufklärung (oder lumières, éclairé, to enlighten…), als vielmehr an ein „historical narrative“, das die eigene Gegenwart in einer für die europäische Geistesgeschichte ganz neuen Weise als Fortschritt gegenüber aller Vergangenheit definierte (D. Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy, 2010, S. 13). Stellt die Aufklärungsbewegung also auch in der Hinsicht ein genuin narratives Unternehmen dar, dass sie sich durch die Absetzung von einer (schlechteren) Vergangenheit definiert? Muss Aufklärung erzählt werden? Und wenn heute die ‚Großen Erzählungen‘ (angeblich) an ihr Ende gekommen sind: lässt sich dann allenfalls in vielen kleinen Geschichten von Aufklärungen reden? Diesen für die Aufklärungsforschung grundlegenden Fragen soll interdisziplinär sowie in internationaler Perspektivenpluralitiät nachgegangen werden.

Bis heute ist das Wieder- und Weiterzählen von Narrativen, die sich die Akteure der Aufklärung selbst zurechtgelegt haben, ein weit verbreitetes Phänomen, das wissenschaftlich aber nicht unproblematisch ist. Es ist daher dringend geboten, dass sich die Aufklärungsforschung Rechenschaft über ihre Art und Weise ablegt, vom 18. Jahrhundert zu erzählen. Dabei sind sowohl die in der Forschung bzw. in der gesellschaftlichen Debatte verbreiteten Narrative kritisch in den Blick zu nehmen als auch die Erzählungen, mit deren Hilfe die Aufklärer sich definierten, ihr Unternehmen begründeten und gegen ihre Widersacher durchzusetzen versuchten. Um die wissensformierenden und legitimierenden Formen und Funktionen von Erzählungen umfassend analysieren zu können, bieten sich einerseits Rückgriffe auf die aktuellen Entwürfe der post-klassischen Narratologie(n) an, wie sie unter anthropologischen, historischen, kulturwissenschaftlichen, gender-theoretischen oder kognitionswissenschaftlichen Vorzeichen in den vergangenen Jahren erprobt worden sind. Andererseits ist diesen Formen und Funktionen mit Blick auf die (seinerzeit neuen) erzählerischen Gattungen, Medien und Formen sowie auf die poetologischen Debatten des 18. Jahrhunderts nachzuspüren, um zu rekonstruieren, was die Aufklärer von ‚ihren‘ Erzählungen erwarteten und mit welchen erzählerischen Mitteln sie kalkulierten. In diesem Sinne möchte die Tagung wesentliche Bausteine zu einer historischen Narratologie der Aufklärung erstellen – und zwar im Sinne einer Bestandsaufnahme sowohl der zeitgenössischen theoretischen Behandlung der Erzählung (etwa in der Romanpoetik oder der Historik) als auch der typischen Erzählformen und -funktionen, sei es in der schönen Literatur, in den Geistes- und den Naturwissenschaften, in der Philosophie oder in den neuen Massenmedien.

Die Tagung verfolgt demnach notwendig ein doppeltes Ziel: 1. eine historische Narratologie des 18. Jahrhunderts in Angriff zu nehmen und 2. die Erzählungen von dieser Epoche, die in den verschiedenen an der Erforschung der Aufklärung beteiligten Wissenschaften (Philologien, Geschichte, Philosophie, Theologie, Kunst-, Musik- und Wissenschaftsgeschichte) verbreitet sind, auf ein narratologisch reflektiertes Fundament zu stellen. Für die Aufklärungsforschung sind diese eng miteinander verbundenden Anliegen zentral, denn sie betreffen einerseits das Spezifische ihres Gegenstands, andererseits die eigenen Verfahren der Gegenstandsmodellierung. Für die Erzählforschung – sei sie eher narratologisch-modellorientiert oder einzeltextbezogen-interpretatorisch angelegt – verspricht der Ansatz der Tagung eine wesentliche Horizonterweiterung, weil sie die Analyse von Texten (teilweise auch von anderen Artefakten) mit der Analyse der narrativen Konstruktion des Epochenkontextes verbindet.

[/responsivevoice]

Offline lesen: