Die Wiederentdeckung und Rezeption der klassisch-antiken Rhetorik, verstanden als Theorie und Praxis argumentativer persuasio und affektischer Rede, in der französischen Lyrik des 16. Jahrhunderts steht in einem radikalen Gegensatz zur mittelalterlichen Konzeption einer ornatus-Rhetorik, die noch die Praxis der Rhétoriqueurs bestimmt. Dieser Bruch, der sich insbesondere in unterschiedlichen inventio– und elocutio-Verfahren manifestiert, wird anhand je eines Epikedeions von Jehan Molinet und Pierre de Ronsard illustriert.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts rekurrieren Philosophie, Wissenschaften, Architektur, Bildhauerei und Dichtung bekanntlich in mehr oder minder ausgeprägtem Maße auf Modelle und Autoritäten der klassischen Antike – darunter auch diejenigen Künste, die seit dem Trivium der mittelalterlichen Universität die Basis aller literarischen Produktion bilden, nämlich Grammatik, Rhetorik und Poetik. Aber die einzelnen Epochen – in diesem Falle Mittelalter und Renaissance – unterscheiden sich grundlegend hinsichtlich Umfang und Art ihres jeweiligen Antike-Bezugs.
Diese Differenz betrifft – knapp skizziert am Beispiel der Rhetorik:
Schon die antiken Definitionen der Rhetorik lassen unterschiedliche Interpretationen zu: Die nähere Bestimmung der Rhetorik als „ars bene dicendi“ bei Quintilian1 oder als „dicere apposite ad persuasionem“ in Ciceros De inventione2 ist an sich ambig bzw. erfordert eine Präzisierung von „bene“ bzw. „apposite“. Denn diese Adverbien können offenbar stehen für logisch-argumentative Qualitäten, d.h. eine Rede, die durch ihre Argumente und in ihren Konklusionen überzeugt, oder aber für emotionale Qualitäten, d.h. eine Rede, deren Pathos-Mittel die intendierte Wirkung auf die Affekte der Zuhörer erreichen, oder schließlich für ästhetische Qualitäten, nämlich eine schöne Rede, die sich durch poetische Qualitäten von der Alltagsrede abhebt.
Die relativ freie Version von Ciceros De inventione, die Brunetto Latini im 13. Jahrhundert in seinem Livres dou Tresor bietet, übersetzt „dicere apposite ad persuasionem“ mit „parler apenseement por faire croire ce qu’on dit“.3 Aber wenn er dann im folgenden den eigentlichen Gegenstand der Rhetorik von demjenigen des philosophischen Diskurses zu unterscheiden sucht, ist eine deutliche Verschiebung zu konstatieren von der persuasiven und somit pragmatischen Funktion der Rhetorik hin zu einer dominant ästhetischen Dimension der Rede:
Mais tout ce que l’on ne dit artifielment, ce est à dire par nobles paroles griès et replenies de bones sentences […] est hors de ceste science et loing de ces rueles.4
In Brunetto Latinis italienischer Version, die den Titel La rettorica trägt, wird die Verschiebung noch deutlicher. Dort ist „apposite“ mit „ornatamente“ übersetzt.5
Und Pierre Fabri, dessen Traktat Le Grand et Vrai Art de pleine Rethorique noch 1521 in ihren Grundzügen und im Detail auf Brunettos Rhetorik rekurriert, preist sein Werk zur „eloquence“ an, „[l]aquelle demonstrera et enseignera a facillement et aornement composer et faire de toutes sortes de oraisons […].“6
Etwas vereinfachend vielleicht, aber im Kern wohl zutreffend läßt sich sagen: Das Mittelalter – von der ars dictaminis und der ars versificatoria bis hin zu Pierre Fabri und der Poesie der Rhétoriqueurs – betrachtet die Rhetorik als eine Kunst der schönen Rede, wobei die inventio-Theorie, verstanden als Findung von geeigneten Argumenten, weitgehend vernachlässigt bleibt und der ornatus der elocutio auf eine Poetisierung der Rede zielt mittels semantischer Figuren, die unter dem Terminus ‚ornatus difficilis‘ zusammengefaßt sind, sowie der phonologischen Figuren des ornatus facilis, die v.a. auf Wiederholungsstrukturen und Klangeffekten beruhen.7
Die Renaissance entdeckt demgegenüber wieder die klassischen inventio-Verfahren und konzipiert Rhetorik und Poetik – entsprechend der klassisch-antiken Tradition – wieder als Affekt-Rhetorik, d.h. der rhetorische bzw. poetische Text versteht sich als Repräsentation einer emotionalen Rede, die mittels spezifischer Verfahren der inventio, dispositio und elocutio die Leidenschaften des Rezipienten zu erregen sucht.8
Rest des Artikels in
Romanische Studien 6 (2016):
2. Rhetorik und Poesie der Rhétoriqueurs – Jehan Molinet, Le Trosne d’Honneur
2.1. Die inventio
2.2. Die elocutio
2.3. Die amplificatio
2.4. Die inventio im dritten Teil des Textes
3. Poesie und Rhetorik in der Renaissance
3.1. Spuren eines Wandels
3.2. Pierre de Ronsard, Epitaphe de Jean de la Péruse Angoumois
3.2.1. Poesie als Abbildung einer Rede
3.2.2. Inventio und dispositio
3.2.3. Elocutio
3.3. Epistemologische Gründe einer Transformation der Rhetorik
Ill.: Jean Molinet präsentiert sein Buch Philippe de Cleves, aus: Jean Molinet, Le roman de la rose moralisé et translaté de rime en prose, 1500