Der Artikel untersucht die narrativen Parallelen zwischen roman courtois und phantastischem Thriller anhand von Bernard Leonettis „polar arthurien“ La Quête brestoise. Dabei rückt das Hauptmotiv der (Grals-)Queste in den Vordergrund, das im mittelalterlichen Roman als ritterliche aventure und im Kriminalroman als actiongeladene Suche jeweils den strukturgebenden Handlungsrahmen darstellt und aufgrund des Kontrasts zwischen der früheren Lebenswelt des Protagonisten Chevalier und dem modernen Brest zahlreiche parodistische Züge erhält. Eine wichtige Rolle in der Analyse spielt ferner die Raum-Zeit-Struktur, die mit Bachtin als wunderbare Welt, in der die Zeit des Abenteuers vorherrscht, beschrieben werden kann und demnach derjenigen des höfischen Romans ähnelt: Beim letzten Gefecht, welches auf einer Yacht ausgetragen wird, die im Inneren eine Steingrotte birgt, scheint die Zeit stillzustehen und eigenen – phantastischen – Gesetzen zu unterliegen.
Auszug aus dem Artikel
von Anna Isabell Wörsdörfer
Ort ist die französische Hafenstadt Brest unserer Tage. Die Protagonisten sind ein kränkelnder Barbesitzer, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat, ein ehrgeiziger Immobilienhai, der sich die Stadt mit unlauteren Mitteln einzuverleiben gedenkt… auf den ersten Blick keine Zutaten für einen Fantasy-Roman – wäre da nicht die Tatsache, dass es sich bei ersterem um die Reinkarnation des Fischerkönigs Pelles, bei letzterem um jene des korrumpierten Artusritters Gauvain handelt, und dass Chevalier, der typisierte Held der Geschichte, ein über Jahrhunderte schlafender Ritter ist, der nun wiedererweckt wurde, um seinem Erzfeind bei der Suche nach einem geheimnisvollen Artefakt zuvorzukommen. La Quête brestoise – reich an phantastischen Elementen wie helfenden und schadenden Feen, mysteriösen Nebeln, heilenden Elixieren und Zauberdosen – ist ein modernes Fantasy-Abenteuer in unserer Wirklichkeit, in der gute und finstere Mächte zu ihrem Endkampf im Finistère – am „Ende der Welt“ – aufeinandertreffen.
Der vorliegende Beitrag hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen mit „polar arthurien“, d.h. Artus-Krimi, untertitelten Roman unter dem Aspekt der narrativen Parallelen zwischen roman courtois und phantastischem Thriller – als eine Untergattung des Kriminalromans – zu untersuchen und damit erste Vergleichsstudien über analoge Denk- und Handlungsmuster in mittelalterlicher Literatur einerseits und jungem Fantasy-Genre andererseits zu erweitern.1 Dabei sollen vor allem die Ähnlichkeiten in den Gattungsstrukturen in den Blick genommen und das gemeinsame Hauptmotiv der Queste herausgearbeitet werden: Sowohl bei der mittelalterlichen Aventürenfahrt als auch bei der actiongeladenen Krimi-Handlung geht es um eine (Grals-)Suche, die bei Leonetti, u.a. aufgrund des Kontrasts zwischen Chevaliers früherer Lebenswelt und dem modernen Brest, einige parodistische Züge erhält: So hat sich der „Ritter“ in einem Abenteuer etwa einem „geifernden Ungeheuer“ – in Form eines Wasserrohrbruchs – zu stellen und damit einer „Dame in Nöten“ beizustehen. Ein andermal trifft er auf seinem feuchtfröhlichen Streifzug durch die bretonischen Bars (von denen er in einer den gesuchten Gegenstand vermutet) eine in seinen geheimen Auftrag Eingeweihte, die ihn auf die richtige Fährte zurückführt, indem diese „Fee“ ihm unter Einflößung eines – stark alkoholischen – „Kräutertranks“ eine „Weissagung“ zuteilwerden lässt. Nicht zuletzt soll auch die Raum-Zeit-Struktur des Fantasy-Thrillers analysiert werden, die als Heterotopie nach Foucault und mit Bachtin als wunderbare Welt, in der die Zeit des Abenteuers vorherrscht, beschrieben werden kann und derjenigen des höfischen Romans ähnelt: Beim letzten Gefecht, das auf einer Yacht ausgetragen wird, die im Inneren eine Steingrotte birgt, umgeben von dichtem Nebel, steht die Zeit still und scheint eigenen phantastischen Gesetzen zu gehorchen.
Dass sich der im hochmittelalterlichen roman courtois und seinen spätmittelalterlichen Prosa-Remaniements verarbeitete Artusstoff im Allgemeinen als überaus langlebig und damit auch als ausgesprochen anschlussfähig an die moderne Literatur2 erweist, liegt zum großen Teil in den ihm eigenen Unbestimmtheitsstellen begründet, die jenseits des unveränderlichen Kerns seine kontinuierliche Aktualisierung und Adaptierbarkeit in ganz unterschiedlichen Kontexten und innerhalb der verschiedensten Nationalliteraturen gewährleisten.3 Dass sich die Matière de Bretagne besonders in der französischen Kriminalliteratur nach der Jahrtausendwende großer und anhaltender Beliebtheit erfreut,4 ist einerseits mit der generellen Offenheit dieses Genres für phantastische Elemente5 zu erklären, von denen der bretonische Stoffkreis bekanntlich ebenfalls eine große Anzahl aufweist. Andererseits ist die gegenseitige Affinität, so die hier vertretene These, auf die vielgestaltigen Gattungsparallelen zurückzuführen, die zwischen Ritterroman auf der einen und Detektiv-/Agentenroman auf der anderen Seite existieren. Der Agentenroman oder Thriller wird hier nach Peter Nusser6 als eine der beiden Untergattungen des Kriminalromans definiert, der den Gegenpol zum Detektivroman bildet und sich im Gegensatz zu diesem durch Aktion und Zukunftsgerichtetheit auszeichnet: Nicht ein in der Vergangenheit liegendes, rätselhaftes Verbrechen, das es durch Spürsinn und Kombinationsgabe aufzuklären gilt, sondern der nach einem Auftrag stattfindende, lineare Wettlauf zwischen zwei gegnerischen Parteien um das Erreichen eines bestimmten Ziels mit finalem Showdown steht im Thriller im Zentrum.
Wie aus dem Vorausgegangenen hervorgeht, weisen die primären Handlungselemente dieses Kriminalsubgenres einige Parallelen zu denjenigen mittelalterlicher Ritterliteratur auf: In beiden Fällen ist die Makrostruktur des Romans durch das Questenmotiv bestimmt. Ritter wie auch Agenten befinden sich auf einer abenteuerlichen Suche, an deren Ende das Erlangen eines kostbaren Gegenstands (des Grals, eines seltenen Heil- oder Kampfmittels) und/oder die Wiederherstellung der gestörten Ordnung steht. Bei dieser Aufgabe behindert werden sie, die eindeutig auf der Seite des Guten und des Gesetzes stehen, immer wieder durch ihre bösen Widersacher („schwarze“ Ritter, Ungeheuer oder irdische Bösewichte), die eigene, korrupte Pläne verfolgen. Am Ende kommt es immer zur entscheidenden Konfrontation, bei welcher der Held in der „Funktion des Drachentöters“7 seinen Erzfeind überwältigt und also – in der mittelalterlichen Literatur teilweise im wahrsten Wortsinne – als Sieger vom (Schlacht-)Feld geht. Darüber hinaus sind weitere Übereinstimmungen in den sekundären Elementen der zwei Romangattungen festzustellen: Dem Protagonisten stehen Gefährten (Knappen, ritterliche Waffenbrüder oder sogenannte „Watson-Figuren“) hilfreich zur Seite. Diese begleiten den Helden an die mitunter zwielichtigen Orte des Abenteuers – sei es wie im mittelalterlichen Kontext die Wildnis/der Wald8 oder seien es Spelunken und Bordelle wie im Kriminalgenre geläufig. In Zusammenhang mit letzteren Stätten sind auch die beiden Nebenmotive des Alkohols und der Liebe/Sexualität zu erwähnen, die oftmals mit der Aventürenfahrt bzw. der kriminalistischen Handlung (v.a. derjenigen der hard boiled-Krimis) in Beziehung stehen. Die nicht gleich so offensichtliche Verbindung zwischen ersterem und der Artusliteratur besteht in der Gralsmotivik, handelt es sich bei dem mysteriösen Objekt des Heiligen Grals doch schließlich gemäß der auf Robert de Boron zurückgehenden Erzähltradition – angeblich – um den (Wein-)Kelch des Letzten Abendmahls.9 Hieran lässt sich auch schon das parodistische Potenzial der Matière de Bretagne und des Gralsstoffs erahnen, wenn sie in der mit den unterschiedlichen Stilebenen spielenden (post-)modernen Kriminalliteratur aufgenommen und entsakralisiert werden. Doch bevor diese strukturellen Analogien im Detail am Beispiel von Leonettis Roman zu konkretisieren sind, soll die literarische Artus- und Gralsrezeption als inhaltlicher Referenzpunkt mit den für den polar arthurien wichtigsten Inspirationsquellen vorangestellt und expliziert werden.
Am Ende des 12. Jahrhunderts findet der (zunächst noch nicht heilige) Gral Eingang in die Artusliteratur:10 Chrétien de Troyes beschreibt ihn im letzten seiner fünf höfischen Romane Perceval bzw. Conte del Gral (ca. 1180–1190) als eine Schale, die den dahinsiechenden Roi Pêcheur und Gastgeber Percevals täglich ernährt. Da es der junge Held versäumt, die erlösende Frage nach dem Wesen der Krankheit und des Artefakts zu stellen, sind Personen und Gral am nächsten Morgen verschwunden, was den Beginn der Suche nach dem mysteriösen Objekt darstellt. Die geheimnisumwobene Aura des Grals rührt nicht zuletzt auch von der Tatsache, dass Chrétien die auf zwei parallele Handlungsstränge angelegte Queste – nämlich die Percevals und die Gauvains – nicht vollendet hat und seine Nachfolger vor die schwierige Aufgabe der Fortsetzung und Vollendung des Fragments stellt.11 Unabhängig davon liefert der bereits erwähnte Anglonormanne Robert de Boron12 etwa zeitgleich zum Conte del Gral mit dem ersten Buch seiner Gralstrilogie, Joseph d’Arimathie (ca. 1190–1201/02), die christliche Vorgeschichte des nun ‚Heiligen‘ Grals: Gemäß Robert handelt es sich dabei um den Kelch des Letzten Abendmahls, in welchem der Anhänger und Grabspender Jesus dessen Blut nach der Kreuzabnahme aufgefangen haben und den sein Verwandter Bron, der spätere Fischerkönig, nach Europa gebracht haben soll. Beide Stofftraditionen verschmelzen schließlich in den Prosafassungen des 13. Jahrhunderts, im umfangreichen Lancelot-Graal-Zyklus,13 miteinander, der mit dem Scheitern der Mehrheit der Gralssucher und dem Untergang des Artusreichs endet. Doch sind es nicht die Remaniements, die in der Folge die neuzeitliche Rezeption maßgeblich bestimmen, sondern die 21 Bücher umfassende mittelenglische Mammutkompilation Morte Darthur (1469/70) von Thomas Malory14 in der Druckfassung von Caxton (1485). Aufgrund des pessimistischen Ausgangs der Artusepik und der damit einhergehenden Konjunktur anderer ritterlicher Vorbilder (Charlemagne, Amadis) verschwindet die Gralsthematik bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend aus der französischen Kultur und Literatur,15 wohingegen der Stoff in England durch die Malory-Rezeption und die mythische Legitimierung der Monarchie eine ungebrochene Aufmerksamkeit und eine zweite Heimat erhält.16 Das im 19./20. Jahrhundert zu beobachtende Ringen um das kulturelle Erbe der Matière de Bretagne zwischen Frankreich und England und die daraus resultierende Abgrenzung17 weicht heutzutage zunehmend einer literarischen Mischkultur,18 präsentiert sich der Artus- und Gralsstoff heutzutage doch als ein Konglomerat aus frankophonen und anglophonen Traditionen, wobei auch der Beitrag der USA19 nicht zu verachten ist, sodass sich selbst Indiana Jones (Steven Spielberg, Indiana Jones and the last Crusade, 1989) und Robert Langdon (Dan Brown, The Da Vinci Code, 2003) auf die abenteuerliche Gralssuche begeben.
Leonettis La Quête brestoise weist schon im Titel explizit auf die Abenteuerstruktur der Geschichte hin. Auch die Überschriften der vier großen Romanpartien schlagen mehrheitlich die Richtung eines an mittelalterliche Erzählweisen angelehnten Narrativs ein: Mit L’Entrée en Lice betreten Chevalier und seine Gegner symbolisch das Turnierfeld, darauf folgt in La Piste die (Grals-)Suche im engeren Sinne und schließlich kommt es in Brumes, dem für Brest typischen Nebel (an die ‚Nebel von Avalon‘20 erinnernd), zum Endkampf.21 Und nicht zuletzt bergen auch die Titel der Einzelkapitel – wie etwa Le chevalier sans nom und Le roi pêcheur oder Le secret de la licorne und La Belle au Bois dormant – nicht selten Anspielungen auf in der ritterlich-höfischen Literatur wie auch im modernen Schmelztiegel eines wunderbar-märchenhaften Universums beheimatete Gestalten und Motive. Auf diese Weise fügen sich die Romanfiguren – ähnlich wie in Terry Gilliams Film The Fisher King (1991) – wie Reinkarnationen mittelalterlicher Protagonisten in die Kulisse des modernen Brest ein: Initiator des „Abenteuers“ ist Jo(seph), eine Postfiguration Josephs von Arimathäa, der den Gral im vorliegenden Roman für einen Schluck Wein in einer Hafenkneipe verschachert hat. Als Besitzer derselbigen stellt sich im Laufe der Handlung Le Bernique alias Pellec22 heraus, der an einer namenlosen Krankheit leidet (Symptom: Blut im Urin) und als inkarnierter Fischerkönig im Brester Seemannsmilieu nicht passender hätte verankert sein können. Auf der Gegenseite fungiert der heutige (Marcel) Gauvain als zwielichtiger Unternehmer und Inhaber von BREIZ IMMO, der es auf das Penfeld, das Hafengebiet von Brest, abgesehen hat und der seinem – einstmals mustergültigen, aber seit dem französischen Prosazyklus allzu diesseitig-sinnlich orientierten – mittelalterlichen Vorfahr23 im unbeständigen Umgang mit Frauen (er betrügt seine Gattin und verführt hier sogar eine Praktikantin gegen ihren Willen) in Nichts nachsteht. Der bretonische Ermittler24 bzw. Agent der Geschichte ist der unter einem entpersonalisierten „Decknamen“25 auftretende Hieronymus Chevalier, der einzig überindividuelle ritterliche Merkmale aufweist, und demnach – wie auch die übrigen Figuren (Aimée: die Geliebte, l’ennemi/le vilain: der Erzbösewicht) – in erster Linie einen Stereotyp (des mittelalterlichen Romans) repräsentiert. Auch die helfenden und schadenden Nebenfiguren – die Dame Blanche und la fille gothique sowie L’Hun et l’Autre – sind mit sprechenden Namen ausgestattet, die das Typenhafte und Entindividualisierte sowohl der Frauengestalten als feenhafte Wesen als auch der Ganoven über die Homonymie „l’un et l’autre“ deutlich hervortreten lassen.
Fortsetzung des Artikels in den
Romanischen Studien 5 (2016)
Ill.: King Arthur’s knights, gathered at the Round Table to celebrate Pentecost, see a vision of the Holy Grail. The Grail appears as a veiled ciborium, made of gold and decorated with jewels, held by two angels. From BNF 112, a manuscript of the prose Lancelot attributed to Walter Map (Gaultier Moap) or Michel Gantelet. 1470. Latina: Arthurum regem et equites Mensae Rotundae. (Public Domain)