Christine Wolter, „Ariosts ‚Rasender Roland‘: Frauen, Ritter, Liebeswahn“, Neue Zürcher Zeitung, 21.8.2016:

Die Frauen, die Ritter, die Waffen, die Liebe, / die höfischen Sitten, die kühnen Taten sing ich, / aus jener Zeit, als die Mohren aus Afrika / übers Meer kamen und Frankreich verwüsten . . .
Mit dieser Ankündigung beginnt Ariosts Dichtung. Der Kampf der Christen unter Karl dem Grossen gegen die aus Afrika einfallenden Sarazenen unter einem erfundenen König Agramante ist der Drehpunkt der Handlung, aber nicht mehr: Hier laufen die vielen Wege und wirren Pfade zusammen, auf denen Ariost seine Ritter und die ebenso kühnen und in prächtigen Rüstungen verborgenen Jungfrauen durch den Wald der Abenteuer irren lässt. Das Ritterthema war nicht neu. 1487 hatte Matteo Boiardo seinen «Verliebten Roland» veröffentlicht, der Motive karolingischer und bretonischer Ritterepen benutzte. Ariost setzte diese Geschichte fort – ein Sequel gewissermassen –, um sie in schöneren Versen als sein noch ungeschickter Vorgänger in die Höhen höfischer Kunst zu heben.

Albert Gier, „500 Jahre ‚Orlando furioso‘: auf dem Rücken des Hippogryphen“, Neue Zürcher Zeitung, 21.8.2016:

In seiner ersten Hälfte ist «Orlando furioso» ein märchenhaft bunter Bilderbogen unterschiedlichster Geschichten. Die Stammeltern der Este, Ruggiero und Bradamante, sind hier nur ein Liebespaar unter vielen, und ihre Rollen sind komisch vertauscht: Nicht der Ritter sucht nach der gefangenen oder verzauberten Geliebten, sondern die Heldenjungfrau Bradamante will den recht passiven Ruggiero wiederfinden. In der zweiten Hälfte verändert sich der Charakter der Dichtung: Die Kämpfe zwischen Mauren und Christen treten in den Vordergrund, und Ruggiero agiert jetzt als tapferer Krieger und energischer Heerführer. Als Maure, dessen Vater Christ und ein Nachfahre Hectors von Troja war, verkörpert er exemplarisch die Hybridität, die Ariosts Epos mit Weltbüchern von der «Odyssee» bis zum «Don Quijote» (oder der «Suche nach der verlorenen Zeit») gemeinsam hat: Welthaltigkeit und Tiefe grosser epischer Dichtungen resultiert, so scheint es, wesentlich aus der disparaten Fülle des darin verarbeiteten Materials.

Rolf Schönlau, „Die Mutter aller Fantasy-Romane: Ludovico Ariostos ‚Orlando furioso‘ – Ein Stück Weltliteratur“, literaturkritik.de, 11.08.2016.

Ein Musterbeispiel edlen Rittertums ist der Zweikampf zwischen Orlando und dem Tartarenkönig Agrican im 18. und 19. Gesang. Die beiden kämpfen schon einen ganzen Tag lang, ohne dass eine Entscheidung gefallen wäre. Müde vom Kampf legen sie sich spät nachts friedlich nebeneinander ins Gras und betrachten die Sterne. Orlando spricht über den christlichen Gott und Agrican bedauert, nie von ihm gehört zu haben. Am Morgen geht der Zweikampf weiter. Als Orlando Agrican tödlich verwundet, bittet dieser ihn um die Taufe.

In Wirklichkeit war das Rittertum 1516, als Ariostos Orlando erschien, bereits am Ende. Einen letzten Aufschwung genommen hatte die Ritterwelt mit Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von 1508-19. In Frankreich versuchte der sogenannte Ritterkönig Franz I. in den 1520er Jahren noch einmal vergeblich, das Ritterleben zu reaktivieren.

Schon 200 Jahre vorher hatte sich angedeutet, dass die Ritter militärisch bald ausgedient hätten. Flandrische Bauern schlugen das französische Ritterheer in der Sporenschlacht von 1302 mit Knüppeln zusammen und sammelten hinterher körbeweise die Goldsporen ein. Gut organisierte Fußtruppen, Artillerie und leichte Reiterei übernahmen die Vorherrschaft auf dem Schlachtfeld. Panzerreiter waren zu unbeweglich und wurden mit Piken von den Pferden gestoßen.

Ludovico Ariosto: 500° anniversario dell’Orlando furioso. Fascicolo monografico della rivista online «Romanische Studien» – Themenheft der Online-Zeitschrift Romanische Studien, hrsg. von Christian Rivoletti und Kai Nonnenmacher

Ill.: Eugène Delacroix, Marphise, 1852.

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