Frank-Rutger Hausmann, „Fachgeschichte von Innen und Unten: zum Pionier-Charakter des Bandes ‚Nach Szondi‘ von Irene Albers“, Rezension zur Veröffentlichung in Romanische Studien 7 (2017)
Vorabdruck der Rezension von Frank-Rutger Hausmann:
Frank-Rutger Hausmann (Wasenweiler a.K.)
Nach Szondi. Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, hrsg. von Irene Albers (Berlin: Kultur-Verlag Kadmos, 2. korrig. Aufl., 2016), 542 S.
Der vorliegende Band ist erstmals im Jahr 2015 aus Anlass des 50. Geburtstags des „Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ (AVL-Institut) an der FU Berlin erschienen und hat es in kurzer Zeit auf eine 2. Auflage gebracht. Zu Recht, denn der originelle und professionell gemachte Band kann im Bereich der jüngeren Fachgeschichte der Geisteswissenschaften Pionier-Charakter beanspruchen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Darstellung „von Oben“ (organisiert von Universität / Hochschule, Rektorat, Fakultät / Fachbereich), auch nicht „von Außen“ (verfasst von einem einzelnen Fachhistoriker oder einem Autorenkollektiv, das mit der gefeierten Einrichtung nicht verbunden ist), sondern „von Innen und Unten“ (zu Wort kommen Zeitzeugen, und zwar vornehmlich Professoren, Dozenten, Assistenten, Doktoranden, Studierende, Bibliothekarinnen und Sekretärinnen, seien sie Ehemalige oder noch am Institut Beschäftigte). Dabei werden die Zeitzeugenberichte durch Fotos, faksimilierte Dokumente und Zeitungs-Ausschnitte, Briefe, Reden, Interviews usw. ergänzt. Irene Albers, seit 2004 Professorin am AVL-Institut der FU, die ihre Aufgabe als Herausgeberin mit Bravour gelöst hat, schreibt dazu:
Die Geschichte des Instituts nur aus Schriften, Vorlesungsverzeichnissen und Verwaltungsakten zu rekonstruieren, würde ein unvollständiges und unausgewogenes Bild ergeben. Wir haben daher von Anfang an ehemalige Lernende und Studierende aus allen Institutsepochen kontaktiert und befragt, davon viele, die sich noch nie zu ihrer Zeit am AVL-Institut geäußert hatten und bisher in der Institutsgeschichte, wie sie Eberhard Lämmert 2012 veröffentlicht hatte[1], nur am Rande vorkamen. Dabei hat sich gezeigt, daß die Gründungserzählung von der Herausbildung der AVL als neuem Fach gegen die Germanistik und die Philologien die internen Differenzen, die sich schon in der Konstitutierungsphase ergeben haben, überdeckt hat. Schon in den 60er Jahren gab es innerhalb des Seminars Auseinandersetzungen zwischen hermeneutisch und sozialhistorisch Interessierten auf der einen und den LeserInnen von Derrida und Lacan auf der anderen Seite. (13)
Wie gesagt, eine derartige Darstellungs- oder Vorgehensweise ist für frühere Phasen der Wissenschaftsgeschichte mangels einer repräsentativen Zahl von erhaltenen Zeugnissen nicht möglich. Sie gleicht einem Raster, das aus der Nähe zwar ein Gesamtbild ergibt, sich bei einigem Abstand jedoch in zahllose Punkte auflöst. Sie wird dem Desiderat, eine fachgeschichtliche Darstellung solle den drei „I“-s Rechnung tragen (Individuen, Institutionen, Inhalte / Ideologien), in besonders effektiver Weise gerecht.[2]
Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass Stimmen „von Außen“, z. B. von anderen, besonders deutschsprachigen Komparatisten, die Besonderheit des Berliner AVL-Instituts relativiert und zugleich der Einseitigkeit, in die sich eine „verschworene Gemeinschaft“ allzu leicht begibt oder doch begeben kann, ein Korrektiv entgegengestellt hätte. So erstaunt, dass von Kontakten zu anderen Komparatistischen Instituten des deutschen Sprachraums nur ganz selten die Rede ist.[3]
Der Band ist klar gegliedert, was eine rasche Orientierung wie auch ein leichtes Nachschlagen erlaubt. Die drei Hauptteile sind „Dokumente: Kommentar und Erinnerungen“, „Rückblicke: Texte und Gespräche“ und „Dokumentation“ überschrieben. Innerhalb der einzelnen Teile sorgt eine chronologische bzw. topographische Abfolge für weitere Übersichtlichkeit (Das Institut von Peter Szondi, 1965–1971; Das Interregnum, 1971–1977; Von der „Orchidee“ zum „Filetstück“, vom Kiebitzweg zur ,Hütte‘“, 1977–2005; Erweiterungen und Ausblicke, 2005–2015). Ist es nur Pietät, dass in den Überschriften als einziger Name „Peter Szondi“ erscheint und Eberhard Lämmert, Peter Brockmeier, Winfried Menninghaus, Gert Mattenklott u.a. im Kollektiv versinken, oder hat sich das AVL-Institut bis heute nicht aus Szondis Bann gelöst?
Dafür spricht jedenfalls der Titel des Sammelbandes, der doppelt deutbar ist, hat doch die Präposition „nach“ eine temporale wie eine modale (Art und Weise, Vorbild) Bedeutung. Szondi selber[4] kommt zu Beginn zu Wort, vor allem mit dem wichtigen Brief an den Dekan der FU vom 25.5.1965 (hier 21–2), der eine Art Gründungsurkunde des AVL-Instituts darstellt. Darin steht der Satz: „Zur historischen Untersuchung der faktischen Zusammenhänge zwischen den Nationalliteraturen, die einst die einzige Aufgabe des Fachs bildete, ist längt eine systematische, aufs Ganze der Literatur zielende theoretische Bemühung hinzugekommen, die nicht dem Vergleich von Unterschiedenem, sondern der Erforschung von Gemeinsamem gilt“. Im Einzelnen werden Theorie der Literatur, Gattungspoetik, Geschichte der Literaturbetrachtung und Literatursoziologie genannt, als Vorbilder Paul Van Tieghem und (indirekt) René Wellek. In diesem Kontext vermisst man einen Hinweis auf Szondis Brief an Wellek (Zürich, 10.9.1966), in dem er über den Aufbau der Berliner Komparatistik berichtet.[5] Anzumerken ist, dass das AVL-Institut der FU „eine der ersten Institutsgründungen für einen Intellektuellen jüdischer Herkunft der Nachkriegszeit“[6] war. Szondi war sich seiner Sonderstellung bewusst. Zu den übrigen komparatistischen deutschen Lehrstühlen wollte er Distanz halten, „solange der Schatten von Kurt Wais auf die deutsche Komparatistik fällt“.[7]
Der vorliegende Band könnte durchaus eine Szondi-Renaissance einleiten, dessen Bedeutung, obwohl er als Mensch und Wissenschaftler herausragte, langsam in Vergessenheit zu geraten droht.[8] Bezüglich seiner Biographie ist der Band äußerst diskret, doch ist Szondis Impuls zur Schaffung des Berliner AVL-Instituts nicht ohne seinen biographischen Hintergrund zu verstehen. Ihm, dem Sohn ungarischer Eltern (der Vater war der bekannte Psychiater Leopold Szondi,[9] die Familie gehörte zum assimilierten Budapester Judentum) war der Kosmopolitismus in die Wiege gelegt und wurde durch die nationalsozialistische Verfolgung noch ausgeprägter. Die Familie Szondi hatte zwar das Glück, im Gefolge der „Becher-Kastzner-Aktion“ dem Holocaust zu entgehen und im Dezember 1944 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in die Schweiz zu gelangen, aber wie andere Überlebende auch (z.B. Paul Celan, Primo Levi, Bruno Bettelheim, Jean Améry u.a.), konnte Szondi diese Bürde offenkundig nicht tragen, die für seinen Freitod mit verantwortlich gewesen sein dürfte.[10]
Die von Szondi favorisierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft war einseitig westeuropäisch geprägt und beschränkte sich auf die deutsch-, englisch- und französischsprachigen Literaturen, auf Werke in Sprachen, die Szondi selber beherrschte. Ausdruck dieser Prägung war der von Studenten bei der Aufnahme ins Hauptseminar zu beantwortende „Fragebogen zur deutschen, englischen und französischen Literatur seit der Renaissance vom 25. Januar 1967“ (32–4) bzw. die „Leseliste des Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (ca. 1971)“ (87–92), die selbst etablierte Germanisten, Anglisten und Romanisten zum Schwitzen gebracht hätte, zumal ein frecher Student, der sich die Mühe machte zu berechnen, wie lange man für die Lektüre aller Bücher auf der Liste benötige, bei einem täglichen Pensum von 400 Seiten auf 120 Jahre kam (93). Derartige Anforderungen waren, auch wenn sie nicht einlösbar waren, Ausdruck eines Elitebewusstseins, das sich offenkundig mit der um diese Zeit einsetzenden (linken) Politisierung der Studenten, die im Szondi-Institut stark ausgeprägt war, vertrug. Szondi sympathisierte politisch mit linken Ideen, schraubte deswegen jedoch seine Ansprüche nicht zurück.[11] Niveau und Ansehen des AVL-Instituts an der FU wurden zunächst dadurch begünstigt, dass es mit der Lehrerbildung nicht befasst war, Magisterstudiengänge gerade erst im Entstehen waren und somit die Promotion zum Regelabschluss wurde. Die Liste der abgeschlossenen Promotionen (523–9) umfasst 150 Namen, d. h. etwa drei pro Jahr, bei einem kleinen Fach ein sehr gutes Ergebnis. Es wird durch die beeindruckende Zahl von 28 Habilitationen (530–1) abgerundet.
An der germanistisch-romanistisch-anglistischen[12] Ausrichtung hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert, wie die bereits erwähnte Liste der Promotionsthemen der Jahre 1967–2015 belegt, die nur wenige „Exoten“ verzeichnet, fast ausschließlich dann, wenn der Doktorand aus einem anderen Kulturkreis stammt. Slavische, skandinavische, romanische (mit Ausnahme der französischen) Literaturen waren kein eigentlicher Gegenstand, ganz zu schweigen von den Literaturen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Zwar war die Überwindung der sich gegeneinander abgrenzenden „Nationalliteraturen“ ein wichtiges Ziel Szondis, der den Blick auf das Wesen der Literatur lenken wollte, aber kann man die Frage „nach dem, was Literatur ist, sowie nach den Bedingungen, unter denen sie entsteht und wirksam wird“, wirklich in der Begrenzung auf deutsch-, englisch- und französischsprachige Werke beantworten? Wenn Methodenfragen offenbar wichtiger waren als der Literaturvergleich, so hatte das seinen Grund in den methodischen Defiziten der Neuphilologien, die auch noch in den ersten zwanzig Jahren nach 1945 unübersehbar waren.
Vermutlich ist das Berliner AVL-Institut das am stärksten in der Öffentlichkeit wahrgenommene seiner Art im deutschen Sprachraum, was wiederum Szondi zuzuschreiben ist, der national wie international bestens vernetzt war. Man denke nur an seine Freunde und Korrespondenten, unter denen sich Theodor W. Adorno, Jean Bollack, Paul Celan, Claude David, Peter Demetz Jacques Derrida,[13] Hans-Georg Gadamer, Peter Härtling, Geoffrey H. Hartman, Rudolf Hirsch, Karl Kerényi, Ivan Nagel, Hans Paeschke, Helmut Schelsky, Ernst Schnabel, Gershom Scholem, Emil Staiger, Jean Starobinski, Peter Suhrkamp, Siegfried Unseld, René Wellek u.v.a. befanden, Verleger, Schriftsteller, Philosophen, Literaturwissenschaftler usw., mehrere mit jüdischem Hintergrund, die selber nur mit Glück dem Holocaust entgangen waren. Dadurch war dem Berliner AVL-Institut ein breiter Kosmopolitismus selbstverständlich.
Nach Szondis frühem Tod geriet das AVL-Institut mehrmals in Gefahr, aufgelöst, woanders angegliedert oder umorganisiert zu werden und somit seinen Kern zu verlieren. Durch die Berufung Eberhard Lämmerts im Jahr 1977, der das Institut bis zu seiner Emeritierung 1992 leitete, wurde seine Existenz jedoch konsolidiert und gesichert. Lämmert, der von 1976 bis 1983 auch Präsident der FU war, hielt seine Hand schützend über das Institut und sorgte für die Aufstockung der Professuren. Im Jahr 1980 wurde Peter Brockmeier berufen, im Jahr 1990 Winfried Menninghaus; ihre Nachfolge traten Gert Mattenklott, Joachim Küpper, Irene Albers und Georg Witte an, Letztgenannter von Hause aus Slavist.
Die Geschichte des Berliner AVL-Instituts, dessen materielle und institutionelle Rahmenbedingungen bisher in Umrissen nachgezeichnet wurden, wird im zweiten Hauptteil des hier anzuzeigenden Bandes in kurzen Erinnerungen von, oder in Gesprächen mit „Ehemaligen“, die am Institut studiert, gelehrt oder gearbeitet haben, verlebendigt. Zweiundzwanzig Beiträge gelten dem „Kiebitzweg 23“, wo das Institut bis 1979 untergebracht war, fünfzehn weitere der Rheinbabenallee 14, dem Hüttenweg 9 und der Habelschwerdter Allee 45 (Rostlaube), wohin das AVL-Institut jeweils umzog (der Orientierung der Institutsgeschichte dient die instruktive „Chronik“ [451–529], die eine Institutsgeschichte in nuce darstellt).
Die Erinnerungen und Gespräche unter dem Zwischentitel „Kiebitzweg“ kreisen um die Persönlichkeit Szondis, an der sich die Geister bis heute scheiden. Bewunderung und Verehrung kontrastieren mit unverhohlener Ablehnung, wobei sich die Erinnerungen (hier von den ebenfalls lesenswerten Gesprächen abgehoben) vielfach als höchst elaborierte und anspruchsvolle Prosastücke erweisen. Fast alle Autoren haben Karriere gemacht, als Hochschullehrer [Hans-Thies Lehmann, Theaterwissenschaftler in Gießen und Frankfurt a. M., Werner Hamacher als Komparatist an der Johns Hopkins University, in Yale, New York und Frankfurt a. M., Samuel Weber als Anglist und Komparatist an der University of California in Los Angeles und der Northern University in Evanston, zeitweise auch als Dramaturg an der Frankfurter Oper, Bernhard Lypp als Philosoph an der Akademie der Bildenden Künste München, Jürgen Sieß als Komparatist in Caen, Jochen Rehbein als Sprachwissenschaftler in Bochum, Hamburg und Ankara, Bernd-Peter Lange als Anglist in Braunschweig, Oldenburg und Magdeburg, Gunter Gebauer als Philosoph und Linguist an der FU Berlin, Carol Jacobs als Komparatistin an mehreren nordamerikanischen Universitäten, Lilian Weissberg als Komparatistin und Ausstellungs-Kuratorin in Baltimore (Johns Hopkins) und an der University of Pennsylvania], oder in anderen Bereichen [Wolfgang Fietkau als Journalist und Verleger, Knut Boeser als Dramaturg und Drehbuchautor, Hanns Zischler als Übersetzer, Dramaturg und Schauspieler, Ginka (Gisela) Steinwachs als Schriftstellerin, Dozentin und Regieassistentin, Senta Metz als Lektorin und Gymnasiallehrerin, Peter Gente als Verleger, Hella Beister als Übersetzerin, Katharina Enzensberger als freie Publizistin; Hanna Kaapke war die erste Bibliothekarin des Instituts, Gisela Reß-Zielinksi Szondis Sekretärin]. Ihre Berichte liefern ein facettenreiches Bild Szondis, das mehrheitlich positiv ausfällt. Szondi war „einmalig“, wie Werner Hamacher schreibt:
Dieses Institut ist mit dem Tod von Peter Szondi, für den es eingerichtet und von dem es weniger geleitet als animiert worden ist, untergegangen. Darin vor allem liegt seine Besonderheit. Über das krude Faktum dieses Todes und dieses Untergangs kann keine geschichtliche Darstellung hinweggehen, aber keine solche Darstellung, und wäre sie noch so detailliert, kann diesem Faktum entsprechen. Könnte sie es, so würde sie das krude in ein positives Faktum verwandeln und suggerieren, es sei begrifflich erfaßt, analytisch in seine Elemente aufgelöst oder narrativ in ein fließendes Kontinuum gebettet; nichts stockte. (293)
Szondi faszinierte seine Studenten und Mitarbeiter, doch zugleich schuf er zu ihnen, so Bernhard Lypp, eine irritierende Distanz:
Trotz seines jugendlichen Alters erzeugte Szondi, jedenfalls in meinen und bestimmt in den Augen vieler anderer Studierender eine Atmosphäre der Unbedingtheit, der kompromißlosen Autorität in philologicis – man war sich nahezu sicher, daß man dem damit verbundenen Anspruch nicht werde entsprechen können. Ich habe noch in Erinnerung, mit welcher Unerbittlichkeit er Referate und Seminarbeiträge in ihrer sprachlichen und begrifflichen Verfaßtheit, auch der im Verlaufe der sechziger Jahre um sich greifenden Theoriebeladenheit auseinandernahm. […]
Das untrügliche Gefühl für gedankliche und sprachliche Gefügtheit, dieses, wie ich es nennen möchte, absolute Gehör für den Ton der Werke der Literatur und der Kunst, war der Glutkern von Szondis literarischer Hermeneutik. (330)
Jochen Rehbein hingegen übt strenge Kritik an Szondis didaktischen Fähigkeiten im Umgang mit Studierenden:
Szondis Reaktion (von Kritik kann man nicht sprechen) war eine Un-Reaktion, offenbar wurde eine Einschätzung verweigert. Wahrscheinlich vermochte ich sein Interesse nicht zu wecken. Es ist mir im übrigen auch in späteren Sprechstunden – nur diese waren über das grüßende Nicken hinaus Orte der Begegnung zwischen Professor und Student – nie gelungen, den großen Szondi in ein beide Seiten interessierendes Gespräch zu verstricken und der Sphinx, die an der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches thronte, das rettende Wort entgegenzuschleudern und sie in den Abgrund zu stürzen. […] Szondis grundlegende, höchst attraktive und höchst wirkungsvolle Form der Kommunikation war die Negation, niederschmetternd für die Studierenden, die so werden wollten wie er, zumindest um seine Anerkennung rangen, herausfordernd jedoch gegenüber dem Vater, wer auch immer dessen Macht ausübte. (347–8)
Das sind kontrastierende subjektive Einschätzungen, die genügen sollen, um Szondis Persönlichkeit zu charakterisieren.
Der zweite Teil der „Rückblicke“, der das AVL-Institut in der Rheinbabenallee, dem Hüttenweg und der Rost-/Silberlaube betrifft, ist weniger homogen als der erste. Die Zeit eines alles dominierenden Ordinarius, sei er nun als väterlicher Freund oder als verschlossener und strenger Lehrer wahrgenommen worden, war vorbei. „Ab 1989 – als die Zahl der eingeschriebenen Studierenden innerhalb weniger Jahre auf mehr als tausend angewachsen war – gab es drei Professuren mit sehr unterschiedlichen Profilen und auch einen recht großen Mittelbau mit vielen eigenständigen WissenschaftlerInnen. […] Aber, noch einmal, eine Hauslinie gab es nicht“ (Menninghaus, 398). Anders gesagt, auch das AVL-Institut war in der Wirklichkeit der Massenuniversität angelangt.
Auch diesbezüglich kommen Ehemalige zu Wort, doch der Zauber der Anfänge ist verflogen. Das gilt für die meisten Hochschullehrer [Winfried Menninghaus, Komparatist am AVL-Institut bis 2013; Peter Brockmeier, Romanist und Komparatist in Mannheim, am AVL-Institut und der HU Berlin; Eberhard Geisler, Iberoromanist in Mainz; Chetana Nagavajara, Germanist an der Silpakorn University Thailand; Robert Stockhammer, Komparatist, Inka Müller-Bach, Germanistin, und Werner v. Koppenfels, Komparatist, alle Drei an der LMU München; Wolfram Ette, Vertretungsprofessor an verschiedenen Universitäten]. Axelle Putzbach war sechzehn Jahre lang Institutssekretärin, Rosa Baumgartner und Benjamin Schlosser sind gegenwärtig BA-MA-Studierende in der Endphase ihres Studiums. Im außeruniversitären Raum arbeiten Michael Angele, Chefredakteur der Schweizer Zeitung Freitag; Uta Werner, freie Autorin in Berlin; Ralf Fiedler, Dramaturg an verschiedenen Theatern; Monika Rinck ist freie Übersetzerin und Dichterin Lina Kokaly Redakteurin, Reporterin und Moderatorin bei Radio Bremen.
Wolfram Ette thematisiert in seinem Beitrag die „produktive Macht der Erinnerung“, die eng an den Abschied gebunden ist. Gemeint ist nicht nur der Abschied von Szondi, sondern auch von der Universität, die man einerseits als Ordinarienuniversität bekämpfte, in der aber die Begriffe Einsamkeit und Freiheit noch gültig waren. In den späten achtziger Jahren sei diese Zeit ausgelaufen:
Etwas ging in diesen Jahren objektiv zu Ende, dessen letzten Glanz wir am Institut noch mitbekamen. Die vergleichsweise liberalen Universitätsstrukturen, die uns die Entscheidung über die Länge des Studiums, die Auswahl der Seminare, über Form und Umfang der Seminararbeiten weitgehend überließ, traf hier noch mit der vielleicht letzten Generation zusammen, die ein gesellschaftliches Urvertrauen mit sich führte. […] Der Kinderglaube daran, daß man, unbeschadet aller trotzigen Verlautbarungen, daß wir einer Zukunft als promovierten Sozialhilfeempfängern entgegensehen würden, unterkommen werde, daß man letztlich gar nicht rausfallen könne, gab uns die Lizenz und die Kraft, so frei zu studieren, wie wir wollten, diese Freiheit auf der anderen Seite aber auch auszuhalten. Es geht nicht um irgendein Verdienst sondern um eine historische Konstellation. (428)
Peter Brockmeier setzte sich konsequenter Weise dafür ein, auch den „Normalstudenten“ zu erreichen, indem er versuchte, die Mehrstimmigkeit literarischer Texte zu beschreiben und durch intertextuelle Fragestellungen zu erklären. Doch er erregte das Missfallen des „Patrons“ des Instituts, der sich dem Andenken Peter Szondis verpflichtet fühlte:
[E]r beanspruchte einen hohen Rang, eine weit ausgreifende Interdisziplinarität für die Komparatistik, wenn er von der ,erkenntniskritische[n] Weitsicht der Literaturwissenschaft‘ sprach und das Institut mit seiner gut ausgesuchten Bibliothek, einem ,literarischen Kosmos, als eine Art ,Denkschule‘ lobte. Ich konnte da nicht so recht mithalten, weil ich mich nicht als Vor-Denker fühlte. (408)
Das AVL-Institut war in der Alltagswirklichkeit angekommen. Auch hier galt jetzt ein tot capita, tot sententiae. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das Institut am 26. Oktober 2005 in Peter-Szondi-Institut umbenannt wurde.
Der vorliegende Band, von der Alumni-Vereinigung und der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde und Förderer und Ehemaligen der FU e.V. unterstützt, wurde „aus der zweiten Reihe finanziert“ (537). Er stellt eine höchst originelle fachhistorische Publikation dar und sei jedem Literaturwissenschaftler zur Lektüre empfohlen. Doch keine Freude ist ungetrübt! An den Graustich der Abbildungen in heutigen Büchern hat sich der Leser längst gewöhnt; eine Zumutung, nicht nur für Brillenträger, ist jedoch die kleine Drucktype, die ein kontinuierliches Lesen zur Qual macht. Aber vielleicht verbirgt sich dahinter eine List der Vernunft, denn man kann die Seiten nicht einfach überfliegen und sich an Schlüsselbegriffen und Namen festhalten, nein, man muss gründlich lesen, und das lohnt sich!
Ill.: Fassade der „Rostlaube“ der FU Berlin, Habelschwerdter Allee