Marina O. Hertrampf, „Ein Plädoyer für (mehr) Ästhetik im französischen Literaturunterricht“, erscheint in Romanische Studien 6 (2017), Rubrik „Ars legendi“.
Vorabdruck
Marina Ortrud Hertrampf (Regensburg)
Chloé Gabathuler, Apprécier la littérature: la relation esthétique dans l’enseignement de la lecture de textes littéraires (Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 2016), 272 S.
Chloé Gabathulers literaturdidaktisches Buch Apprécier la littérature: la relation esthétique dans l’enseignement de la lecture de textes littéraires richtet sich zwar an muttersprachlich französische Lehrer von der Grundschule (Erstkontakt mit literarischen Texten) bis zur Sekundarstufe II, kann aber aufgrund seiner zentralen Fragestellungen auch wichtige Impulse für den schulischen Umgang mit literarischen Texten allgemein und – mit Einschränkungen – auch für den fremdsprachlichen Literaturunterricht liefern.
Ohne auf das EU-Projekt LiFT-2 Bezug zu nehmen,1 gehen die Hauptforderungen der Autorin in eine ganz ähnliche Zielrichtung: Geht es bei LiFT-2 darum, einen Europäischen Referenzrahmen für die Entwicklung literarischer Kompetenzen im Schulunterricht der Sekundarstufe aufzubauen, bei dem die Förderung des erlebnis- und erfahrungsorientierten sowie des beteiligten, erkundenden und fokussierenden Lesens im Mittelpunkt steht, so geht es der Autorin um die Frage, wie Kindern und Jugendlichen im schulischen Literaturunterricht Lust auf (selbstständiges) Lesen gemacht werden kann. Der Fokus ihres Ansatzes liegt dabei auf einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem der Leseprozess literarischer Texte als ästhetisches Erlebnis gestaltet werden soll. Auch schulisches Lesen, so der Wunsch der Autorin, soll zu einer ästhetischen Erfahrung werden, die den Leser ergreift und affiziert. Einerseits verweht sich die Autorin damit gegen einen rein kompetenz- und wissensorientierten Ansatz des Literaturunterrichts, bei dem es allein um schematisch-formale Analysen und Interpretationen literarischer Texte geht. Andererseits will sie sich aber auch nicht in realitätsfernen, ,kuschelpädagogischen‘ Träumereien oder gar in einer subjektiv geleiteten Literaturdidaktik ,aus dem Bauch heraus‘ verlieren. Sie will den Kontext des Lehrens und Lernens bei ihren Überlegungen zur Förderung der Lesebegeisterung des „élève lecteur“ (10) nicht aus dem Blick verlieren: „[…] nous présupposons que la relation esthétique n’est pas spontanée et qu’elle nécessite un enseignement et un apprentissage.“ (14) Ohne die Kenntnis und Beherrschung metasprachlicher Grundbegriffe lassen sich schließlich, so die Autorin (46), weder subjektive Leseerfahrungen noch axiologische oder/und ästhetisch-rhetorische Textbeobachtungen artikulieren und diskutieren. Letztlich versucht die Autorin einen pragmatisch-realistischen Mittelweg zwischen traditioneller und experimentell-ganzheitlicher Herangehensweise an literarische Texte zu entwickeln, der den Rezeptionsweisen der Schüler in ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe und der Vermittlung der erwünschten Lernziele entgegenkommt.
Mit dem Fokus auf der écriture von Texten und der Neubeleuchtung der schulischen Behandlung ästhetischer Aspekte literarischer Texte schreibt sich der hier vertretene Ansatz in die sogenannte ,rhetorische Wende‘ ein, die auch in der deutschsprachigen Literaturdidaktik seit einigen Jahren neu diskutiert wird.2 Dabei gilt es aber freilich zu beachten, dass der – im Gegensatz zu Deutschland – traditionell unvergleichlich größere Stellenwert der Rhetorik im Literatur- und Sprachunterricht in Frankreich sowie der französischen Schweiz zwar durchaus auch an Bedeutung eingebüßt hat, zumindest aber als dispositio in der Form der dissertation française stets weiter vermittelt und praktisch umgesetzt wurde und wird.
Ausgangspunkt von Gabathulers Überlegungen zu einer Neuausrichtung des Literaturunterrichtes sind die Formulierungen der aktuellen französischen und schweizer Lehrpläne, in denen literarischen Texten eine besondere Bedeutung zuteilwird. Die Analyse der Curricula mit Blick auf die Literaturvermittlung zeigt, so Gabathuler: „L’accent est porté sur la dimension ‚appréciative‘ de la lecture de textes littéraires.“ (12) Die frankophone (Literatur-),Didaktik hat sich bislang jedoch noch nicht sehr intensiv mit den ganz praktischen und im schulischen Alltag auch realistischen Methoden und Formen auseinandergesetzt, dieses Ziel zu erreichen:
[…] peu d’études se sont intéressées à la manière dont cette relation esthétique se construit (ou ne se construit pas) en classe. […] C’est précisément l’ambition de cet ouvrage que de déterminer la forme que peuvent prendre, dans des pratiques effectives, cette relation esthétique et le rôle qui lui est conféré dans le cadre de la lecture de textes littéraires à l’école. (12)
Innovativ an Gabathulers Studie ist ferner die Jahrgangsstufen übergreifende Anlage der Studie, die es ihr ermöglicht, Kontinuitäten und Entwicklungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Reaktion seitens der Schüler auf literarische Texte einerseits und bei den didaktischen Tendenzen hinsichtlich der präferierten Vermittlungsweise literarischer Texte in den unterschiedlichen Schulstufen andererseits aufzuzeigen und zu interpretieren. Interessant ist dabei die Erkenntnis der doch großen Ähnlichkeiten zwischen Grundschule und Sekundarstufe I: „Nos analyses montrent […] une forme de ‚porosité‘, d’interpénétration entre le primaire et le secondaire.“ (218)
Um die Bandbreite der unterschiedlichen Einsatz-, Rezeptions- und Reaktionsformen literarischer Texte in verschiedenen Schulstufen exemplarisch aufzeigen zu können, wählt die Autorin zudem zwei Texte, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Mit Jean de la Fontaines Fabel „Le loup et l’agneau“ (1668) wird ein klassischer Text des traditionellen Kanons ,großer‘ Literatur gewählt, der vielfach auch im deutschen Französischunterricht behandelt wurde bzw. wird. Die Wahl der Kurzerzählung „La négresse et le chef des avalanches“3 des zwar mit zahlreichen Preisen bedachten doch international fast völlig unbekannten frankophonen Schweizer Gegenwartsautors Jean-Marc Lovay (*1948) ist hingegen eher unerwartet.
Eine Stärke des Buches liegt schließlich auch darin, dass es sich es sich nicht um die rein theoretische Reflexion über mögliche Erfolge und Resultate methodischer Unterrichtsmodelle und didaktischer Konzepte handelt, sondern dass die Autorin ihre Thesen und Vorschläge mit Unterrichtsbeobachtungen untermauert und das ganz konkrete, methodisch-didaktische „Wie“ anhand von erprobten Lektüreunterrichtssequenzen sorgfältig auswertet und umfassend dokumentiert.
Die Autorin beginnt den ersten der insgesamt drei Teile mit theoretischen und konzeptuellen Überlegungen zu Stellung und Relevanz von Literatur im bzw. für den Bildungsprozess. Das erste Kapitel („Enseignement de la littérature: théorisations et ‚didactisations‘“, 19–47) wird eröffnet mit einer darstellenden Lektüre der Essays von Todorov, Schaeffer und Citton über die Krise des schulischen und universitären Literaturunterrichts. Die dargebotenen Überlegungen zur individuellen respektive kollektiven Rezeption literarischer Texte aus der Literaturtheorie rundet die Autorin mit einem kleinen Exkurs in die pädagogische Psychologie ab, indem sie auf die Lerntheorie des sowjetischen Psychologen Lew Wygotski (1896–1934) eingeht. Wygotskis auf soziokulturelle Interaktion beruhender, ko-konstruktiver Ansatz, der heute vor allem in der modernen Kindergartenpädagogik rezipiert wird,4 geht davon aus, dass ästhetische Reaktionen auf Kunst aktive Verarbeitungs- und Entwicklungsprozesse des Individuums in Gang setzen, die untrennbar mit den Interaktionen des sozialen Kontextes verwoben sind. Just hierin sieht Gabathuler die Anwendbarkeit seiner Überlegungen für die schulische Literaturdidaktik (44 und 66–7). Es folgt ein kurzer Abriss der historischen Entwicklung der französischen (Literatur-),Didaktik. Die Autorin schließt das erste Kapitel mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Aneignung literaturanalytischer Metasprache, da diese jedwede Artikulation von Leseeindrücken, seien sie subjektiv oder analytisch, überhaupt erst ermöglicht. Das zweite Kapitel („Relation esthétique: éclairissements théoriques“, 49–68) präsentiert unterschiedliche konzeptuelle Auffassungen von ,Ästhetik‘, um abschließend ihren allein auf die Rezeption literarischer Texte im schulischen Kontext begrenzten Terminus der relation esthétique als dynamisches Konstrukt von sozialkontextuell bedingtem, subjektivem Geschmacksurteil und dem durch kollektive Be- und Verhandlung objektivierten literarisch-ästhetischen und inhaltsbezogenen Bewertungs- und Beurteilungsvermögen literarischer Texte zu beschreiben. Kapitel III („La transposition didactique comme cadre de référence“, 69–95) beschäftigt sich sehr viel konkreter mit den einzelnen Lehr- und Lerninhalten des schulischen Literaturunterrichtes. Zunächst wird die triadische Differenz zwischen Wissensgegenstand, zu vermittelndem Gegenstand (objet à enseigner) und Unterrichtsgegenstand (l’objet d’enseignement/enseigné) unter praxeologischen Gesichtspunkten und den daraus resultierenden didaktischen Transformationsprozessen diskutiert (69–76). Daran an schließt sich eine historisch konzipierte Skizze der zentral zu vermittelnden Elemente des schulischen Literaturunterrichtes wie Rhetorik, Analyse/Interpretation und Literaturgeschichte. Die weiteren Ausführungen des zweiten Teils beschäftigen sich mit den aktuell, d.h. 2016, gültigen curricularen Vorgaben zur Literaturvermittlung an Schulen in Genf und der französischen Schweiz. Der erste Teil endet mit einer kurzen Synthese (Kapitel IV, 97–98), in der die zentrale These des Buches kondensiert formuliert wird:
Nous postulons ainsi que la relation esthétique est au cœur de l’enseignement de la lecture de textes littéraires et se manifeste dans les discours en classe par la formulation de jugements esthétiques, éthiques et émotionnels. La nature des jugements varie en fonction des niveaux de la scolarité : jugements émotionnels et éthiques au primaire vs jugements esthétiques au secondaire II. La formulation des jugements sur les textes est indissociable de la lecture de textes littéraires, mais ne fait pas systématiquement l’objet d’un enseignement. (98)
Mit dem zweiten Teil des Buches beginnt der praktische Teil der Studie. Wie der Titel des fünften Kapitels – „Dispositif semi-expérimental et recueil des données“ (101–15) – bereits andeutet, wird hier die methodologische Vorgehensweise der Studie präsentiert. Die ,halb-empirische‘ Vergleichsuntersuchung beruht darauf, dass die Autorin, wie bereits erwähnt, zwei per se sehr unterschiedliche Texte – Jean de la Fontaines Fabel „Le loup et l’agneau“ und Jean-Marc Lovays Kurzerzählung „La négresse et le chef des avalanches“ – für unterschiedliche Jahrgangsstufen literaturdidaktisch aufbereiten und umsetzen lässt, um so zu Erkenntnissen hinsichtlich der unterschiedlichen Reaktionen und Textbewertungen, kurz Rezeptionsweisen zu gelangen und daraus wiederum Rückschlüsse auf Wirkungs- und Funktionsweisen diverser Darbietungs-, Vermittlungs- und Erarbeitungsmethoden und -verfahren ziehen zu können. Bei der folgenden didaktischen Analyse der schulischen Vermittlungsschwerpunkte der La Fontaine’schen Fabel (moralischer, poetisch-rhetorischer, literatur- und kulturhistorischer Wertgehalt) geht Gabathuler erneut auf Wygotski ein, für den der Kern der pädagogischen Beschäftigung mit Fabeln nicht in ihrem moralischen Gehalt zu sehen ist, sondern in ihrer Poetizität (104–5). Neben den „klassischen“ Unterrichtszielen – „Les élèves sont amenés à apprécier les bons préceptes, à s’en imprégner“ und „[inviter] les élèves à apprécier la belle langue de La Fontaine, par l’entremise d’une analyse des procédés stylistiques et par l’acquisition de savoirs relatifs aux spécificités du style de cet auteur par rapport à ses contemporains“ (106) – nennt die Autorin zwei, wie sie sagt, „reformpädagogische“ Ansätze: Zum einen soll es um die aufmerksame Beobachtung der Leseeffekte gehen; was ,macht‘ der Text mit dem Leser, ist hierbei die zentrale Frage, die darauf abzielt, dass: „L’accent est mis sur la dimension de plaisir éprouvé à la lecture de textes patrimoniaux“ (107). Zum anderen nennt sie eine ,kommunikative‘ Textbehandlung: „Dans ce cadre-là, la relation esthétique disparaît au profit d’exercices portant plus spécifiquement sur la compréhension des textes“ (107). Da Jean-Marc Lovays Kurzerzählung weder in Schul- und Lesebüchern noch in jedweden Handreichungen auftaucht, präsentiert die Autorin eine ausführliche narrative Analyse des in sich leerstellenreichen und in vielerlei Hinsicht mehrdeutig offen bleibenden Textes (108–12). Gerade die Ambiguität und Polysemie des Textes, der eindeutigen und einfach schematisierbaren narrativen Mustern widerstrebt, macht für die Autorin den Reiz der Erzählung für ihre Projektstudie aus (108). Schließlich werden die zentralen Fragen der empirisch durchgeführten Unterrichtsbeobachtungen formuliert: Ist die relation esthétique im Literaturunterricht der Primar- oder Sekundarstufe ausgeprägter? Inwiefern spielt die unterschiedliche literaturwissenschaftliche Grundlagenausbildung von Lehrern der Grundschule respektive Sekundarschule eine Rolle bei der Vermittlungsform und deren Reaktionen bei den Schülern? Inwiefern unterscheiden sich die von den Lehrern in der Primar- und Sekundarstufe eingesetzten Methoden und Verfahren? Greifen die Lehrer bei dem klassischen Text tendenziell eher auf traditionelle Unterrichtsmethoden und Lernziele zurück? Und wird der zeitgenössische Text im Umkehrschluss mit reformpädagogisch geprägten Verfahren er- und bearbeitet?
Die empirische Studie wurde in Zusammenarbeit mit jeweils zehn Lehrpersonen aus den Bereichen Grundschule, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II durchgeführt, die jeweils ihrerseits Unterrichtssequenzen zu den Texten von La Fontaine und Lovary erstellten und in ihren Klassen durchführten. Die Unterrichtseinheiten wurden audiovisuell mitgeschnitten. Grundlage der im dritten Teil des Buches dargebotenen Auswertungen einzelner Analyseaspekte sind die Transkriptionen der Gesamtheit aller aufgenommenen Unterrichtseinheiten. Die Analyseeinheiten präsentiert die Autorin in Kapitel VI („Unités d’analyse“, 117–23). Hier liegt der Fokus entsprechend des Erkenntnisziels der Studie auf den Unterrichtsphasen, in denen die relation esthétique im Zentrum steht. Hinsichtlich der Untersuchungskriterien führt die Autorin aus:
En fonction de notre cadre théorique et de nos données empiriques, nous avons construit une unité d’analyse, le ‚jugement‘, que nous considérons comme le révélateur d’une relation esthétique au texte littéraire en classe. Il s’agit de portions de textes qui contiennent au minimum une caractérisation d’un objet textuel d’un point de vue esthétique, éthique, ou émotionnel, dimensions définies en fonction de notre cadre théorique. Le repérage des jugements s’est donc opéré en fonction de trois critères : énonciation à propos d’un élément du texte ; caractérisation de cet élément ; dimension esthétique, éthique ou émotionnelle. (118)
Bei der makrostrukturellen Auswertung der Transkriptionen der jeweiligen Unterrichtseinheiten längerer Unterrichtssequenzen liegt das Augenmerk der Autorin in erster Linie auf dem Stellenwert, den die relation esthétique grundsätzlich in den Einzelstunden einnehmen, an welcher Stelle im Stundenverlauf diese auftreten und mit welchen Arbeits- und Aktionsformen (genres d’activités scolaires, GAS) gearbeitet wird:
D’un point de vue opérationnel, nous considérons comme relevant de la relation esthétique toutes activités scolaires, orales ou écrites, réalisées individuellement ou collectivement, menant à la verbalisation des impressions personnelles et des avis relativement aux deux textes. (127)
Die Auswertung des ersten Analysekapitels (Kapitel VII, „Impressions, réactions à chaud, avis personnels…lorsque la relation esthétique fait l’objet d’activités scolaires“, 127–45) bestätigt die Hypothese, dass der Kanontext tendenziell über traditionelle Lehrmethoden vermittelt wird, während die zeitgenössische Erzählung den Einsatz freierer und interaktiverer Methoden zu begünstigen scheint. Insgesamt zeigt sich, dass Arbeitsaktivitäten in Bezug auf die relation esthétique vorwiegend mündlich erfolgen. Zudem wird deutlich, dass die ästhetische Lektüre in der Primar- und Sekundar-I-Stufe erst nach mehrstufigen kognitiven Texterarbeitungsformen möglich ist (145). Das Kapitel VIII („Les jugements dans la lecture de textes littéraires“, 147–66) wertet die Bewertungen statistisch aus. Hierbei ergeben sich nicht wirklich überraschende Ergebnisse: Zwar sind mit zunehmendem Schüleralter mehr jugements zu verzeichnen, jedoch kommen diese zunehmend von den Lehrern, die Schüler äußern sich weniger häufig. Auch zeigt sich eine mit dem Alter zunehmende Objektivierung der Argumentationsweise: Im Falle von La Fontaines Fabel sinken mit ansteigender Schulstufe die Anzahl emotionaler und ethischer Bewertungsurteile zugunsten ästhetischer (im Sinne der klassischen Literaturanalyse) vergleichsweise stark ab (151). Etwas anders verhält es sich im Falle von Lovarys Text: Auch hier steigt die ästhetische Kategorie während die emotionale absinkt, doch steigt die ethische an; die Autorin begründet dies qualitativ mit dem in der Erzählung problematischen Gebrauch des Begriffs „négresse“ (152), der hier wie ein ,Reizwort‘ fungiere und Diskussionen anrege. Die tiefergehende qualitative Analyse zeigt, dass in den behandelten Texten unterschiedliche Begriffe, stilistische Formulierungen etc. enthalten sind, die als „catalysateurs de jugements“ (153) fungieren. Im Kapitel IX („Interactions esthétiques sur les textes“, 167–205) untersucht die Autorin ausgewählte Beispielszenen kommunikativer Interaktionen von Lehrern und Schülern, in denen die ästhetischen Qualitäten der beiden Versuchstexte in Form individueller Meinungsäußerungen explizit thematisiert werden. Hierbei zeigt sich, dass in der Grundschule dem einzelnen Schüler Zeit gegeben wird, seinen persönlichen Leseeindruck verbal Ausdruck zu verleihen, im Sekundarschulbereich fördert die Lehrperson im Falle von Lovarys Erzählung zunehmend die argumentative Präsentation und Verteidigung der (gerade mit Blick auf die moralische Dimension) subjektiven Leseerfahrung im diskursiven Austausch im Sozialgefüge des Klassenverbundes. Im Falle von La Fontaine geht es hingegen mit ansteigender Klassenstufe um eine zunehmende Objektivierung und analytische Versachlichung des Diskurses (186). Das abschließende Kapitel X („Synthèse des analyses empiriques“, 207–12) fasst – ebenso wie die darauf folgende Conclusio (213–23) – noch einmal sämtliche Thesen und Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zusammen. Angesichts der Tatsache, dass die Autorin bereits jedes Kapitel mit einer Wiederholung des vorangegangenen Kapitels einleitet und dann mit einer Zusammenfassung beschließt, wäre die recht ausholende doppelte Synthese sicher nicht unbedingt notwendig gewesen, ermöglicht so aber auch ein schnelles Nachlesen der wesentlichen Ergebnisse.
Chloé Gabathulers theoretisch fundierte und empirisch belegte Studie Apprécier la littérature: la relation esthétique dans l’enseignement de la lecture de textes littéraires ist letztlich ein engagiertes Plädoyer für eine stärkere Ausrichtung des (französischen) Literaturunterrichts aller Jahrgangsstufen an den ästhetischen Dimensionen literarischer Texte. Zugleich ist es ein Plädoyer für die schulische Behandlung zeitgenössischer Texte, deren Potentiale die Autorin vor allem darin sieht, dass Lehrer bei der Bearbeitung dieser sehr viel aufgeschlossener gegenüber reformpädagogisch geprägten, innovativen Lehr- und Lernmethoden zu sein scheinen als bei der Behandlung kanonischer Klassiker. Mehr noch, die Behandlung von zeitgenössischen, widerständigen und ,schweren‘ Texten kann nicht nur den literarischen, sondern auch den allgemein kulturell-ästhetischen und sprachlich-argumentativen Bildungsprozess von Kindern und Jugendlichen befördern; und dies wiederum macht den schulischen Literaturunterricht – in der Mutter- wie in der Fremdsprache – so wichtig und letztlich unabdingbar: Die Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern im Literaturunterricht
[…] permettent aux enseignants de faire émerger et de stabiliser une certaine doxa sur l’art contemporain, puis dans un deuxième temps d’élargir ou de transformer l’horizon d’attente des élèves vis-à-vis de ces œuvres. Cette transformation passe par la prise de conscience des élèves de la nécessité de posséder des connaissances spécifiques permettant d’accéder plus facilement à un certain rapport à ces œuvres, généralement peu comprises, voire rejetées. Si la manière de formuler un avis ou une impression n’est pas explicitement enseignée, ces interactions esthétiques spontanées permettent aux enseignants, de manière indirecte, de justifier l’enseignement de la littérature à l’école. (212)