Jordi Balada Campo, „Autonomie und Literaturgeschichte: zur Història de la Literatura Catalana, hrsg. von Àlex Broch“, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien (2017), Vorabdruck.

Àlex Broch, Hrsg., Història de la Literatura Catalana, Volums I, II, III (Barcelona: Enciclopèdia Catalana i Editorial Barcino, 2013–2020).

Zum aktuellen Anlass:


Vorabdruck der Rezension

Autonomie und Literaturgeschichte

Zur Història de la Literatura Catalana, hrsg. von Àlex Broch

Jordi Balada Campo (Regensburg)

Àlex Broch, Hrsg., Història de la Literatura Catalana, Volums I, II, III (Barcelona: Enciclopèdia Catalana i Editorial Barcino, 2013–2020).1

In Anbetracht der letzten politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Spanien und Katalonien ist die Frage angebracht, ob eine neue Geschichte der katalanischen Literatur zunächst als politisches oder als literaturwissenschaftliches Projekt verstanden werden muss? Alle nationalen Literaturgeschichten konstruieren Oppositionen gegen andere Nationalliteraturen und grenzen ihre Spezifizität ab, politisch, sprachlich wie ästhetisch. Soll aber der an einer katalanischen Nationalliteratur Interessierte Forscher daraus eine Einschränkung des akademischen und wissenschaftlichen Wertes schließen? Die Rahmenbedingungen dieses Projekts müssen selbstverständlich berücksichtigt werden, um den Perspektivwechsel dieser neuen Geschichte im Gegensatz zu den älteren Werken etwa von Martí de Riquer u.a. in seiner ganzen Tragweite zu verstehen und die Aufteilung der literarischen Perioden in den acht Bänden nachvollziehen zu können2.

2006 wurde im katalanischen Parlament ein neues Estatut d’Autonomia verabschiedet. Dreißig Jahre nach dem Ende der Diktatur und 27 Jahre nach dem ersten Estatut d’Autonomia versuchte die katalanische Regierung damit, neue Ansatzpunkte für eine autonome Regierung und Selbstverwaltung zu schaffen. Dass das vom katalanischen Parlament verabschiedete Regionalgesetz nie in Kraft trat, ist in Bezug auf die vorliegende Història de la Literatura Catalana zwar nicht relevant. Zu bemerken ist allerdings, dass das Projekt im Jahr 2007 begann, der erste Band dann im Jahr 2013 veröffentlicht wurde: Die katalanische Politik und Literaturwissenschaft wollten gleichermaßen einen Neuanfang. Für die Erstere ist es noch zu früh zu entscheiden, ob mit Erfolg. Für die Letztere kann man nach dem Stand der Dinge – der vierte Band ist inzwischen im Dezember 2016 publiziert worden – nur teilweise beurteilen, ob die neue Història wirklich ‚neu‘ ist und tatsächlich bahnbrechende Perspektiven der Literaturwissenschaft im katalanischen Sprachraum eröffnet. Die Darstellung des Projekts und der Prolog zum ersten Band sollen jedoch bereits darauf hinweisen, dass diese Història sich zwischen der Treue zur traditionellen Darstellung der katalanischen Literatur und neuen Impulsen zur Erneuerung des Selbstbildes der bisher genannten Dekadenz befindet:

Una nova Història de la Literatura Catalana només serà útil i necessària si pot avançar en l’estadi de coneixement que estaven els estudis literaris abans de la seva redacció. […] [Joaquim Molas] és qui seguint els ensenyaments de Rubió recollits en la seva història i aportant la seva pròpia reflexió metodològica, comença a qüestionar l’oportunitat i els inconvenients de l’oposició Decadència/Renaixença. […] Arribats aquí no ha de sorprendre l’índex general que presentem […] Hem vertebrat ihomogeneïtzat les etapes a partir d’una terminologia que és útil i que té el consens reconegut en descriure ls grans etapes de la història de la humanitat: medieval, moderna i contemporània. […] [E]ls volums IV i V tenen una significació especial en la construcció, la reordenació o la reinterpretació de la nostra història literària.3

Das Gesamtprojekt der Literaturgeschichte umfasst acht Bände, die zwischen 2013 und 2020 veröffentlich werden sollen. Die bisher publizierten drei Bände sind der mittelalterlichen Literatur gewidmet. Sie sind in vielerlei Hinsicht eine Kollektivarbeit: Die Publikation dieser Literaturgeschichte ist die Kooperation zweier Verlage – der Enciclopèdia Catalana und der Editorial Barcino – und zweier Institutionen – des Ajuntament de Barcelona und des Departament de Cultura der Generalitat de Catalunya. Àlex Broch koordiniert die Veröffentlichung der acht Bände, wobei jeder Band von einem renommierten akademischen Vertreter betreut wird: die Ramon Lull-Forscherin Lola Badia (Universitat de Barcelona) ist für die drei ersten Bände verantwortlich (Literatura medieval), der Renaissance- und Barock-Forscher Josep Solervicens (Universitat de Barcelona) betreut den vierten Band (Literatura moderna: Renaixement, Barroc i Il·lustració), Enric Cassany (Universitat Autònoma de Barcelona) und Josep Domingo (Universitat de Barcelona) den ersten der zeitgenössischen Literatur gewidmeten Band (Contemporània: Vuit-cents), Jordi Castellanos (Universitat Autònoma de Barcelona) und Jordi Marrugat (Universitat Autònoma de Barcelona) die Bände sechs und sieben (Modernisme i Noucentisme und Del 1922 al 1959) und Àlex Broch (Universitat Rovira i Virgili) den letzten Band (Del realisme històric a la postmodernitat). Insgesamt über 60 Forscher aus dem katalanischen, italienischen (Stefano Maria Cingolari, Università degli Studi di Roma „La Sapienza“) und britischen (Barry Taylor, British Library) akademischen Raum wirken bei der Publikation dieser Literaturgeschichte mit.4

Die Beibehaltung traditioneller katalanischer Literaturgeschichtsschreibung ist vor allem an der Gliederung des Gesamtwerkes zu erkennen. Mehr als ein Drittel der Bände (drei von acht) beschäftigen sich mit der mittelalterlichen Literatur, nur einer behandelt die Literatur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts (von Cristòfol Despuig und Joan Pujol bis Baró de Maldà und Joan Rais über die Volkslieder des 17. und 18. Jahrhunderts), und vier Bände schließlich thematisieren die Literatur seit der ‚Wiederbelebung‘ der Sprache, der Literatur und des Nationalbewusstseins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Postmoderne. Diese Gliederung ist nicht wirklich auffällig, denn die Relevanz und Bedeutung des Mittelalters für die katalanische Tradition steht außer Frage: Die problematischen Beziehungen zwischen der Grafschaft Barcelona und der Grafschaften jenseits der Pyrenäen zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert und anschließend das goldene Zeitalter des katalanischen Handels und Expansionismus im Mittelmeer im 13. und 14. Jahrhundert hatten als Pendant eine Blütezeit der katalanischen Literatur. Diese Hochphase hat nicht nur das politische und literarische Bewusstsein der Katalanen bis heute geprägt, sondern fand auch außerhalb des katalanischen Sprachraums Echo: Nicht wenige der Trobadors waren Katalanen, Ramon Llulls Einfluss auf Leibniz’ Philosophie5 ist ebenfalls bekannt und erforscht6, Ausiàs Marchs (1400–1459) Nachleben in der spanischen Lyrik durch die Freundschaft Joan Boscàs (1492–1542) mit Garcilaso de la Vega (1498–1536) ist auch von der spanischen Literaturwissenschaft Dokumentiert worden7, Tirant Lo Blanch, der altkatalanische Ritterroman von Joanot Martorell (1490), wurde von Cervantes in El Quijote aufgrund seines Realismus gelobt und vor der Bücherverbrennung gerettet. Es sollte also nicht überraschen, dass mehr als ein Drittel des mehrbändigen Werkes einem literarischen Zeitalter gewidmet ist, das das heutige Katalonien politisch und kulturell prägt und als Nachweis für seinen diesbezüglichen Reichtum dient.

In den bisher publizierten Bänden lässt sich beobachten, dass sich die Erhaltung eines politisch und literarisch bedeutsamen Korpus einerseits und andererseits eine kritische Auseinandersetzung mit den Werken bzw. die aktuelle Literaturanalyse nicht ausschließen. Die konkrete Analyse der Autoren und Werke (beispielsweise der vier katalanischen Chroniken: El llibre dels fets des Jaume I, El llibre del rei En Pere von Bernat Desclot, die Crònica von Ramon Muntaner, und die Crònica general von Pere III el Ceremoniós; der Trobadors katalanischen Ursprungs wie Cerverí de Girona, die Analyse der lyrischen und philosophischen Aspekte Ramon Llulls Werke, die Auseinandersetzung mit den Lyrikern Ausiàs March und Jordi de Sant Jordi, so wie mit den Rotterromanen wie Curial e Güelfa oder Joanot Martorells Tirant lo Blanc u. a.) wird durch ihre Verortung im kulturellen katalanischen und im europäischen Kontext ergänzt. Der Vergleich mit der Erzählliteratur auf Okzitanisch, die Darstellung der Modelle aus anderen Traditionen (so aus Italien Dante, Petrarca oder Boccaccio und die Modelle der französischen Epik), die Kontextualisierung der Werke im westeuropäischen Kultur- und Geschichtsraum usf. vermitteln ein Bild der katalanischen Literatur als Empfängerin kultureller und literarischer Bewegungen der europäischen Tradition und als Teil eines gemeinsamen kulturellen Raums. Auch wenn es sich hier also um eine nationale Literaturgeschichte handelt, wird der komparatistische Anteil der Literaturanalyse nicht außer Acht gelassen, was auch die Mitwirkung von Forschern wie Stefano Maria Cingolari (Italien, Romanische Philologie), Barry Taylor (Großbritannien, European Studies) und Francisco Rodríguez Risquete (Spanien, Spanische Philologie) bezeugt.

Auffällig mag jedoch die Abwesenheit einer dekadenten Periode sein: Der vierte Band trägt als Untertitel Renaixement, Barroc i Il·lustració. Nach der Umsiedlung des Macht- und Wirtschaftszentrums von Barcelona nach València im 15. Jahrhundert erlebte die katalanische Kultur eine Periode des Niedergangs im Vergleich zur Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert, aber auch in Gegensatz zur kastilischen literarischen Produktion. 1714 vertiefte sich die kulturelle Stagnation durch das Verbot des Katalanischen und der katalanischen Gesetze. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich die Ansätze einer Wiederbelebung des kulturellen und literarischen Lebens feststellen: die sog. Renaixença. Die Periode zwischen dem 16. bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird seit dem Sumario de la historia de la literatura española von Antoni Rubió i Lluch aufgrund der Verminderung der Produktion und Qualität als die Decadència bezeichnet, die Zeit des Niedergangs der katalanischen Kultur. Das Bild einer eineinhalb Jahrhunderte langen dekadenten Periode blieb bis zu den 1960er erhalten. Antoni Comas stellte aber bereits in seiner zusammen mit Martí de Riquer publizierten Geschichte der katalanischen Literatur fest, dass es trotz der zahlenmäßig wie qualitativ reduzierten literarischen Produktion keine echte Zäsur gab. Die Analyse einer gewissen Kontinuität zwischen der literarischen Produktion in der Decadència und der Renaixença war der Beitrag von Joaquim Molas in Un segle de vida catalana (1961) zur Neuinterpretation der Periode. Jordi Rubió i Balaguer (Sohn des Antoni Rubió i Lluch) versuchte dann, dieses Zeitalter in den 1980er Jahren neu zu definieren.8 Das Projekt einer Història de la Literatura Catalana des 21. Jahrhunderts will (soweit man bisher sehen kann) eine neue Periodisierung versuchen und weiter die konkrete Analyse des katalanischen literarischen Kanons durch die Einbeziehung des komparatistischen Ansatzes, der aktuellsten Forschung und des historischen Kontextes bereichern. Diese neue katalanische Literaturgeschichte soll deswegen nicht nur für Katalanisten eine Bereicherung der Nachschlagewerke sein. Auch Komparatisten und Romanisten können daraus Nutzen ziehen. Die Einbeziehung der Kontakte der katalanischen Literatur zu den anderen Literaturen sowie der Rolle der Autoren und Werke im europäischen Literatur- und Kulturgut soll ihnen nicht nur einen Einblick in die Literatur der katalanischsprachigen Regionen (die allzu oft wegen nichtliterarischer Gründe außer Acht gelassen worden ist) ermöglichen, sondern diese auch im Kontext des europäischen Projekts wahrzunehmen helfen. Dem Nicht-Katalanischsprecher soll der Einblick in diese Literatur jedoch nicht versperrt bleiben. In Kindlers neues Literatur Lexikon sind über 150 Artikel zur katalanischen Literatur erschienen. Im Literaturwissenschaftlichen Wörterbuch für Romanisten9 stehen in 75 Artikeln Bemerkungen oder ausführliche Beiträge. Die katalanische Literatur von der Renaixença bis zur Gegenwart von Johannes Hösle gilt auch als ein fundiertes Nachschlagewerk für das 19. und 20. Jahrhundert.10 Schließlich trägt die Zeitschrift für Katalanistik zur deutschen akademischen Auseinandersetzung mit der katalanischen Kultur bei.


  1. Rezensionen und Reaktionen zur Història de la Literatura Catalana sind bisher sparsam geblieben und beschränken sich auf Zeitungsartikel. Diese sind auch online zu finden: http://www.ara.cat/suplements/llegim/Enciclopedia_Catalana-Barcino-Ajuntament_de_Barcelona_0_925107696.html, http://www.ub.edu/web/ub/es/menu_eines/noticies/2015/06/026.html, http://www.btv.cat/btvnoticies/2013/07/16/alex-broch-director-duna-nova-historia-de-la-literatura-catalana, alle aufger. am 17.07.2016.
  2. Besonders relevante katalanische Literaturgeschichten sind: Manuel Milà i Fontanals, Resenya històrica y crítica dels antichs poetas catalans (1865); Joaquin Rubió y Ors, Breve reseña del actual renacimiento de la lengua y literatura catalanas (1880); Otto Denk, Einführung in die Geschichte der altcatalanischen Litteratur, (1893); Martín de Riquer, Resumen de literatura catalana (Barcelona: Seix Baral, 1947); Jordi Rubió i Balaguer, Literatura catalana (Barcelona: Editorial Vergara, 1949–1958); Martí de Riquer und Antoni Comas, Història de la literatura catalana (Barcelona: Ariel, 1964); Arthur Terry, Catalan literature: A Literary History of Spain (London: Barnes & Noble, 1972), Rudolf Brummer, Katalanische Sprache und Literatur (München, 1975); Història de la literatura catalana, hrsg. von Joaquim Molas (Barcelona: Ariel, 1986–1988). Eine komplette Liste der bisher publizierten katalanischen Literaturgeschichten (einige davon zugänglich) sind unter der Càtedra Màrius Torres zu finden: http://www.catedramariustorres.udl.cat/materials/biblioteca/histories/index.php?tipus=histories, aufger. am 17.07.2016.
  3. Història de la Literatura Catalana, hrsg. von Àlex Broch (Barcelona: Enciclopèdia Catalana, Editorial Barcino, 2013), 5–6.
  4. http://grupenciclopedia.cat/obres/historia-de-la-literatura-catalana-primers-dos-volums/, aufger. am 17.07.2016.
  5. G. W. Leibniz, Dissertatio de arte combinatoria, 1666, Sämtliche Schriften und Briefe (Berlin: Akademie Verlag, 1923), A VI 1.
  6. Frederick Copleston, History of Philosophy, Vol. II (London: Image, 1993); P. E. Longpré, „Lulius“, in Dictionnaire de théologie catholique, Bd. IX.
  7. Siehe dazu Breve historia de la literatura española, Carlos Alvar, José-Carlos Mainer und Rosa Navarro (Madrid: Alianza, 1997), 264; Kathleen McNerney, The Influence of Ausiàs March on Early Goden Age Castilian Poetry (Amsterdam: Rodopi, 1982); María del Pilar Arrando, Ausias March y Garcilaso de la Vega, poetas del dolorido amor (Mexico, 1948); Pere Bohigas, „La estela de Ausias March“, Quaderni Iberoamericani 3 (1956): 95–102.
  8. Jordi Rubió i Balaguer, Història de la literatura catalana (Barcelona: Departament de cultura de la Generalitat de Catalunya, 1984–1986).
  9. Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten (Tübingen: Francke Verlag, 2002).
  10. Johannes Hösle, Die katalanische Literatur von der Renaixença bis zur Gegenwart (Tübingen: Max Niemeyer, 1982).

 

Ill.: Toshiko Sakurai: 20-S | Street protests in BCN, 20.9.2017, „Street protests in Barcelona after the Spanish police detained Catalan government officials during operations against the Independence Referendum next October 1st“

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