Georg Kremnitz, „Panorama des literarischen Sprachwechsels: zu Werner Helmichs ‚Ästhetik der Mehrsprachigkeit‘“, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien.

Werner Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit: zum Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur, Studia Romanica 196 (Heidelberg: Winter, 2016), 633 S.


Vorabdruck der Rezension

Panorama des literarischen Sprachwechsels

Zu Werner Helmichs Ästhetik der Mehrsprachigkeit

Georg Kremnitz (Wien)

Wenn ein Spezialist für die Soziologie der Kommunikation das Werk eines Literaturwissenschaftlers bespricht, ist die Gefahr von Missverständnissen groß, auch wenn sie (teilweise) dasselbe Feld bearbeitet haben. Die Erkenntnisinteressen beider sind nicht gleich, daher ist auch die Wahrnehmung der Resultate der Bemühungen des einen durch den anderen fast notwendig divergent. Dennoch soll die Annäherung hier versucht werden – in der Hoffnung auf Nachsicht des Autors.

Der Titel des Werkes ist sprechend: es geht dem Verfasser um die ästhetische Wahrnehmung des Phänomens der literarischen Mehrsprachigkeit, und zwar der textinternen Mehrsprachigkeit (damit rückt die Frage der Mehrsprachigkeit der Autoren weiter an den Rand), vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er konzentriert sich, seinen sprachlichen Kompetenzen entsprechend (wie er schreibt, 42), auf fünf romanische Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch), das Deutsche und teilweise das Englische – der Leser darf allerdings sogleich hinzufügen, dass lateral auch eine Reihe anderer Sprachen erwähnt werden (es ist ein wenig schade, dass er nicht in stärkerem Maße auch dominierte romanische Sprache berücksichtigen konnte, sie hätten vielleicht an manchen Stellen die entstehenden Eindrücke etwas nuanciert). Das umfangreiche Literaturverzeichnis (555–601) lässt erkennen, dass er sich auf gewaltiges Material stützt, das in einer langen Reifungsperiode (seit den neunziger Jahren, 13) zusammengetragen und analysiert wurde. Ein kurzes Wort zum Verfasser: Werner Helmich hat nach Tätigkeiten an verschiedenen (süd-)deutschen Universitäten 1992–2009 einen Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft in Graz innegehabt, er ist nun emeritiert.

Das erste Kapitel (13–46) befasst sich mit den theoretischen Grundlagen und Ausgangsfragen, es behandelt neben der Abgrenzung des Objekts und einigen terminologischen Klärungen Aspekte der Forschungsgeschichte, das eigene Erkenntnisinteresse und die daraus erwachsenden Fragestellungen sowie verschiedene formale Analysemöglichkeiten. Natürlich muss der Vf. relativ ausführlich auf mögliche ästhetische Funktionen der Verwendung unterschiedlicher Sprachen in einem einzelnen Text eingehen. Er macht das geschickt, indem er zunächst die seit Elwert (1960) in der Forschung vorgeschlagenen Funktionen Revue passieren lässt (34ff.) – die so viele unterschiedliche Möglichkeiten gar nicht erwähnen, wenn man die Aufstellung aufmerksam durchliest – um daraus seine Synthese zu bilden. Es geht ihm in der Folge darum, die Werke weitgehend selbst sprechen zu lassen, die am Ende der einzelnen Kapitel stehenden „Befunde“ wird man als vorsichtig und zurückhaltend bezeichnen dürfen.

Letztlich liest sich der Band wie ein breites Panorama, fast wäre ich versucht zu sagen: eine Enzyklopädie (würde sich nicht der Vf. implizit gegen eine solche Interpretation wehren), der vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgefassten Werke in den genannten Sprachen; oft wird in Rückgriffen auch auf Vorläufer eingegangen. Ausdrücklich strebt der Vf. keine Vollständigkeit an (sie wäre für einen einzelnen schwer zu erreichen) – er will sich, mit wenigen erklärten Ausnahmen, nur auf anspruchsvolle Literatur stützen –, die Breite der beschriebenen Materialien öffnet indes den Raum für Extrapolationen. Insofern kommt dem Band eine über das engere Objektfeld hinausgehende Bedeutung zu.

Das zweite Kapitel geht auf die „Vorgeschichte“ ein, es erwähnt Beispiele für mehrsprachige literarische Texte von der Antike über das Mittelalter: dabei spielt vor allem das Nebeneinander von Latein und gesprochenen Sprachen – die die Bezeichnung Sprache lange Zeit nicht erhalten – eine Rolle, Dante ist unvermeidlich, Raimbaut de Vaqueiras und Oswald von Wolkenstein können nicht fehlen, neben den makkaronischen Autoren ist Rabelais unumgänglich (für mich ist erstaunlich, dass die – bescheidene – deutsche Makkaronik nicht erwähnt wird), später folgt Molière, neben und vor ihm die Commedia dell’arte, spätere Autoren sind bereits der Romantik und dem Naturalismus zuzurechnen, allerdings beginnt gleichzeitig – mit dem modernen Nationalismus – die Ablehnung der Mehrsprachigkeit, zunächst vor allem in der Ablehnung der Wahl einer anderen Literatursprache als der biographisch „eigenen“, danach auch mit der (vielfach zu beobachtenden) Reduzierung fremdsprachiger Anteile in literarischen Texten. Dadurch entsteht eine Spannung zwischen nationalistischem Anspruch und deutlicher werdender diffuser gesellschaftlicher Realität; viele der Autoren, die ihre potentielle literarische Mehrsprachigkeit einsetzen, laufen Gefahr, gerade auch deshalb abgelehnt zu werden; das gilt für Frank Wedekind ebenso wie für Oscar Wilde. Es erstaunt mich ein wenig, dass der Vf. auf diesen Aspekt kaum eingeht, obwohl ihm ein ästhetisches Moment – mindestens auf Seiten der Rezeption – innewohnt.

Die Kapitel 3 bis 13 behandeln unterschiedliche Aspekte des Phänomens der literarischen Mehrsprachigkeit, vor allem in der Erzählliteratur (im weitesten Sinne), die meisten sind nach den Grundsprachen der jeweiligen Werke geordnet. Von diesem Prinzip weicht Kapitel 3 ab, das die Sprachverwendung in (vor allem) italienischen und französischen Berichten über KZ behandelt, dann Kap. 6, das sich mit der Mehrsprachigkeit im Theater befasst, und Kap. 13, das die polyglotte Lyrik zum Thema nimmt. Es ist ein wenig schade, dass der Vf. im Kap. 3 nicht auch einen Blick auf die (nicht sehr zahlreiche) KZ-Literatur auf Spanisch und Katalanisch wirft, sie ist im deutschsprachigen Raum nicht ins kollektive Bewusstsein eingedrungen, obwohl etwa im nahen Mauthausen Tausende von (politisch gesprochen) Spaniern litten (aber das ist natürlich ein nicht-literarisches Argument). Man wird behaupten dürfen, dass gerade dieses Kapitel nicht primär wegen der ästhetischen Resultate eingefügt wurde; es zieht seine Notwendigkeit aus der Geschichte.

Die Kap. 4 und 5 befassen sich mit der Widerspiegelung gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, zunächst in der „Alten“, dann in der „Neuen“ Welt. Der Vf. stellt recht unterschiedliche Situationen nebeneinander, aus seinem Blickwinkel der Suche nach der Ästhetik ist das sicher gerechtfertigt. Allerdings denke ich, dass die Grundsituationen recht unterschiedlich sind: (die meisten heutigen) Sprecher des Okzitanischen in Südfrankreich, Arbeitsmigranten etwa aus Italien in Deutschland und Kreolischsprechende auf den Antillen haben, wenigstens nach meinen Erfahrungen, recht unterschiedliche Bewusstseinslagen im Hinblick auf ihre sprachliche Situation. Die Einbeziehung etwa des Sizilianischen, nicht nur in der besonderen Form, die Andrea Camilleri „erfunden“ hat, bringt eine weitere Facette ins Spiel. Der Befund verkompliziert sich, wenn wir (post-) koloniale Situationen in beiden Amerika daneben stellen. Natürlich können die Resultate an der Oberfläche ganz ähnlich aussehen, aber sind es auch die (verwenden wir den Begriff ruhig einmal) „Tiefenstrukturen“?

Ich möchte das kurz am Beispiel von Martinique (173ff.) ausführen: erstaunlicherweise fehlt der Name von Aimé Césaire, der zwar nur auf Französisch geschrieben hat (letztlich, weil er das aus psychologischen Gründen musste, erst dann konnte er Gehör finden), seine Texte sind jedoch voll von bewusst eingesetzten Kreolismen (das u. a. führt zu ihrer bisweilen gerügten schweren Verständlichkeit; abgesehen davon war er – auch auf Kreolisch – ein begnadeter, auch politischer Redner). In seiner Folge haben Autoren wie Joseph Zobel, zunächst in seinem Erstling Diab’-là (1946), zahlreiche kreolische Einzelwendungen in ihre Texte eingefügt (und in den späteren in Paris veröffentlichten Auflagen teilweise wieder getilgt – war das im vorliegenden Falle Zobel selbst oder der Verlag? Eine Neuauflage des Erstdruckes wäre ein Desiderat). Edouard Glissant hat sich später, nach seinen ersten Romanen, gegen die Überbetonung der négritude (die Césaire damals auch schon überwunden hatte) gewehrt und dagegen die antillanité gesetzt, seine Anhänger Bernabé, Chamoiseau und Confiant haben schließlich den Begriff der créolité geprägt. Das alles war auch ein (vielleicht unumgänglicher) symbolischer Vatermord1. Die unterschiedlichen Bezeichnungen spiegeln auch die verschiedenen Bewusstseinslagen in Bezug auf die eigene Existenz wider; nicht zuletzt haben sich die Bedingungen für die Existenz des Kreolischen auf Martinique in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert, das Französische ist – fast über Nacht – dank der Medien omnipräsent geworden. Die wieder aufgenommene Verwendung des Französischen durch Chamoiseau und Confiant (und auch Bernabé) wird von diesen als Konzession an die politisch-soziale Lage angesehen, letztlich als Eingeständnis eines (teilweisen) Misserfolges, weniger als die Anerkennung der (literarischen) Überlegenheit des Französischen (173). Übrigens (175): die Békés sprachen bis vor kurzem alle fließend Kreolisch (im Gegensatz zur farbigen Bourgeoisie, die sich lange Zeit dagegen abgrenzen wollte), ich weiß nicht, wie das heute ist. Diese unterschiedlichen Positionen und historischen Momente verleihen dem Auftauchen des Kreolischen in den Texten verschiedener Autoren jeweils ganz spezielle Funktionen.

Eine kleine Randbemerkung bez. Seite 147: die haquetía ist ursprünglich die Sprache der marokkanischen Juden, die sich vom Sephardischen unterscheidet; die (ehemaligen) Sprecher legen auf diesen Unterschied großen Wert2.

Die Kap. 7–10 zeigen die literarische Mehrsprachigkeit in der italienischen, spanischen, lateinamerikanischen und französischen Literatur. Es wird deutlich, dass die ursprüngliche Reserviertheit gegenüber solchen Einschüben in der französischen Literatur der Vergangenheit angehört. Andererseits zeigt sich, in welchem Maße die gesellschaftlichen Verhältnisse die literarische Sprachwahl beeinflussen können. Juan Goytisolo geht ziemlich am Beginn von Coto vedado ausführlich auf seine Sprachbiographie ein (der Band wird als Autobiographie von Helmich nicht behandelt), zu der aufgrund des Aufwachsens in einer weitgehend franquistischen Familie die Abwendung vom Katalanischen gehört. Man geht wohl nicht ganz irre in der Annahme, dass in dieser komplizierten Biographie auch eines der Motive für seine komplexe Verwendung anderer Sprachen – und nicht zuletzt des Arabischen – in seinem Werk gehört.

Das Kap. 11 behandelt die Verwendung fremder Sprachen in der deutschsprachigen Literatur. Der Vf. hat mich erst auf das erstaunliche Faktum aufmerksam gemacht, dass Heinrich Mann in seinen beiden Henri IV-Bänden zwar mit der Verwendung des Französischen nicht geizt, okzitanische (gaskognische) Zitate indes fehlen (401–2), obwohl bekannt ist, dass der König diese Sprache bis an sein Ende vielfach benützte. Dieser Befund ist eher für den Autor von Bedeutung als für das Werk; war Heinrich Mann zu sehr „Dritte Republik“, als dass er die Realität hätte akzeptieren können?

Spannend ist das Kap. 12, in dem der Vf. den Einsatz von Phantasiesprachen diskutiert. Er geht auch hier bis auf Dante und Oliver Swift zurück, konzentriert sich aber wieder auf das 20. Jahrhundert und fördert neben dem Bekannten – Borges, Cortázar und Le Clézio – auch weniger Bekanntes wie den französisch-wardwesânischen Autor Frédéric Werst zutage (471–5).

„Ergebnisse“ werden in einem eigenen Kapitel (541–53) zusammengetragen. Dabei diskutiert der Vf. das Gewicht und die Imagologie der Einbettungssprachen, ihre (mögliche) ästhetische Wirkung und nicht zuletzt den Begriff der (literarischen) Hybridität bzw. des métissage. Er sieht einen Höhepunkt der mehrsprachigen Literatur in den fünfziger bis achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, als die Dominanz des Englischen noch weniger deutlich als heute war, und meint, dass in Zukunft die (auch literarische) Bedeutung der anderen, kleineren Sprachen abnehmen dürfte, dass also eine „neue Weltliteratur“ (K. Alfons Knauth) sich vor allem auf Englisch abspielen würde (552–3). Damit wird in meinen Augen eine (zu) eurozentrische Sicht der Dinge transportiert, die von neueren weltweiten Entwicklungen nicht unbedingt gestützt wird. Wenn man das Aufblühen von Literaturen in anderen Erdteilen und Sprachen beobachtet, die sich bei weitem nicht immer an europäischen Vorbildern ausrichten – wenn sie europäisch-amerikanische Entwicklungen auch zur Kenntnis nehmen –, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass es neben zentripetalen auch starke zentrifugale Kräfte gibt. Wohin die Resultante schließlich führt, muss sich erst weisen.

Wenn, wie zu Beginn angedeutet, der Soziolinguist manche Akzente etwas anders setzt als der Autor, kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Band einen ungeheuer reichen Überblick über ein Phänomen ergibt, das in der alltäglichen Praxis zu wenig wahrgenommen wird, gerade wenn man sich den pessimistischen Schlussbemerkungen des Vf. nicht ohne Reserven anschließen will. Neben einer unglaublichen Belesenheit und einem ebensolchen Wissen des Verfassers besticht der Band durch dessen vornehme Bescheidenheit, durch die Ausgewogenheit seines Urteils – es ist ein Vergnügen, in seinen Seiten zu blättern. Eine Summe!


  1. Vgl. etwa Annie Le Brun, Statue cou coupé (Paris: Jean-Michel Place, 1996).
  2. Vgl. Cyril Aslanov, Sociolingüística histórica de las lenguas judías (Buenos Aires: Ed. Lilmod, 2011), 199–212.

Ill.: Multilingual welcome sign (Guernésiais on top) at Guernsey tourist information

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