Paul Strohmaier, „Romanistik im Futur: zu Herausforderungen und Chancen einer verjüngten Disziplin“, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien, Vorabdruck online.

Rezension von: Julian Drews, Anne Kern, Tobias Kraft, Benjamin Loy und Marie-Therese Mäder, Hrsg., Romanistik in Bewegung. Aufgaben und Ziele einer Philologie im Wandel (Berlin: Kadmos, 2017), 263 S.


Vorabdruck der Rezension

Romanistik im Futur

Zu Herausforderungen und Chancen einer verjüngten Disziplin

Paul Strohmaier (Universität Trier)

Der vorliegende Band geht zurück auf die erste Sommerschule des Deutschen Romanistenverbands, die im Sommer 2014 an der Universität Potsdam stattfand. Wie aus dem Titel hervorgeht, verstehen sich die hier versammelten Aufsätze als Beiträge zu einer in den vergangenen Jahren lebhaft geführten Debatte über Sinn und Zweck der Romanistik mit ihrem prekären Status einer Fremdphilologie, die in ihrem besonderen, sprachhistorisch begründeten Zuschnitt gleichwohl nur im deutschen Sprachraum existiert. Im Vorwort skizzieren die Herausgeber eine in den letzten beiden Jahrzehnten merklich gewordene „Entgrenzung des romanistischen Gegenstandes“ (11), die nicht mehr über eine Fundierung z.B. in Latinität und lateinischem Erbe einholbar, sondern mindestens ebenso durch das Komplementärdatum 1492 und seine kolonialen Folgen mitbestimmt sei. Ohne sich einer bestimmten Position zu verschreiben, verstehen sie den Band in Zeiten externer Zielvorgaben und Einflussnahmen auch als Besinnung auf die eigentlichen Motive geisteswissenschaftlicher Forschung: „ein Erlebnis von Gemeinschaft, geteilte[] Leidenschaften und Formen fruchtbaren Streitens“ (13).

Die Beiträge verfolgen dabei überwiegend drei Hauptstrategien: 1.) einen Gang ad fontes, d.h. einer kritischen Betrachtung romanistischer Klassiker (Curtius, Auerbach, Friedrich) und deren im- wie expliziten Auffassungen über die Legitimität der eigenen Disziplin, 2.) historischen Einzelstudien, die sich mit partikularen Schicksalen forschender Romanisten befassen, und 3.) paradigmatischen Erweiterungsvorschlägen, die sich um die Verjüngung der Disziplin durch bisher unzureichend berücksichtigte Theorie- und Methodenangebote bemühen.

1.) Als Auftakt nimmt Christoph Beck mit Auerbach und Curtius zwei Romanisten in den Blick, die sich auch über die Grenzen der Disziplin hinaus längst als Klassiker etabliert haben. Teils etwas sprunghaft, gedanklich jedoch hochverdichtet spürt er dem Einfluss von Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie nach, die jeweils aufgegriffen und umgeformt werde. Auch wenn Becks knappe Aufrisse von Mimesis und Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter weitgehend Bekanntes mitteilen, überzeugt Becks Grundgedanke, dass die jeweils nachgezeichnete geistige Einheit erst „erschrieben“ (27) werden musste. Zugleich wird deutlich, dass bereits Curtius die historischen Grenzen der rhetorisch-humanistischen Tradition deutlich erkannte und selbst von „engem Europäismus“ sprach. Ob eine Erneuerung von Troeltschs „materialer Geschichtsphilosophie“ in globalem Maßstab, wie sie Beck abschließend im Rückgriff auf Homi K. Bhabha nur andeutet, Aussicht auf Erfolg hat, bleibt fraglich.

Auch Pablo Valdivia Orozco bezieht sich auf Curtius und Auerbach als Diskursbegründer romanistischer Selbsterzählungen. Dabei subsumiert er das Projekt der Romanistik unter eine von Blumenberg übernommene Erzählung der Neuzeit als einer Epoche humaner ,Selbstbehauptung‘. Die postulierte Konvergenz von Neuzeit und volkssprachlicher Ausdifferenzierung kann jedoch kaum als begründendes Narrativ der Romanistik in toto dienen. Was würde damit aus den Millionen Versen in altfranzösischer, altitalienischer, altspanischer oder provenzalischer Sprache? Diese dezisionistische Verengung verwundert, zumal Auerbach wie auch Curtius das romanische Mittelalter noch selbstverständlich in ihre Entwürfe aufnehmen. Durch diese wenig überzeugende Genealogie der Romanistik wird das eigentliche Anliegen einer (post)kolonialen Problematisierung der Romanistik vom Schwellendatum 1492 her geschwächt, das nicht nur eine enge Verflechtung von Sprache und kolonialem Imperium einläutet, sondern auch langfristig eine Entgrenzung der Romania bedingt, die den klassisch-europäischen Zuschnitt der Romanistik unbeholfen erscheinen lässt. Hegemonialen, nationalen Traditionen verhafteten Fundierungen der romanischen Sprachen stellt Orozco mit Borges, García Márquez und Glissant Modelle entgegen, die sich „gegen die Naturalisierung von Entitäten wie Nation oder Kultur“ (82) wenden. Schließlich wird deutlich, dass es wohl kein vergleichbar einheitliches Konzept von Romanistik in globaler Perspektive geben kann wie in der Zeit ihrer europäischen Selbstbeschränkung. Zu divergent sind ihre Kontexte, die oft auch sprachlich nicht mehr exklusiv romanisch sind.

Mit Hugo Friedrich visiert der Beitrag von Rike Bolte einen weiteren Klassiker der Romanistik an, um sich kritisch mit dem Phänomen lyrischer Negativität zu befassen, das Die Struktur der modernen Lyrik durchzieht. Das an sich vielversprechende Vorhaben der Autorin, dieser häufig konstatierten Negativität komplementäre Formen und Modi von Positivität entgegenzustellen, gelingt jedoch nicht recht. Zu sehr fokussiert Bolte in ihrem oft sprunghaften und teils unpräzisen diskursgeschichtlichen Aufriss von ,Negativität‘ ebenjene Theoriebildung, die sie als unzureichend erkannt hat. Das Phänomen lyrischer Positivität wird nur angedeutet und weder diskursiv noch exemplarisch anhand prägnanter Texte plausibilisiert. Damit harrt es weiter jener Behandlung, die hier nur als (berechtigtes) Desiderat formuliert wird.

2.) In einer eindrücklichen disziplingeschichtlichen Episode betont Nadine Zülow die lebensweltliche Situierung romanistischen Schreibens anhand eines Extremfalls: Werner Krauss’ Gracián-Studie, die in nationalsozialistischer Haft und unter der Last eines Todesurteils entstand. Weit mehr als nur Gegenstand philologischer Erschließung erlangt Graciáns Oráculo manual hier eine weit existentiellere Bewandtnis: die agudeza des Höflings wird zur Überlebensstrategie des internierten Philologen. So ergreifend die geschilderte Episode ist, bleibt unklar, wie sie sich zu den Ausrichtungsfragen gegenwärtiger Romanistik verhält. Zumal aus dieser besonderen Schreibkonstellation kaum Anregungen für die aktuelle Forschung zu gewinnen sind, die sich kaum im Horizont von Todesurteilen, sondern vielmehr von (nur metaphorisch dräuenden) deadlines vollzieht.

Vicente Bernaschina Schürmann beleuchtet in einer faszinierenden Studie den deutsch-chilenischen Sprachwissenschaftlers Rodolfo Lenz und dessen Beiträge zu einer ,amerikanischen‘ Philologie. Als einer der ersten wandte sich Lenz, der Ende des 19. Jahrhunderts in Bonn promovierte, mit Nachdruck dem durch den Kontakt mit amerindischen Sprachen substantiell veränderten chilenischen Spanisch zu, für das er ein grundlegendes etymologisches Wörterbuch schuf, und bemühte sich epistemologisch um eine Befreiung der Sprachwissenschaft aus nationalen Territorialisierungen, wie etwa noch im Sprachdenken eines Menéndez Pidal, und ihrem nationalistisch grundierten Reinheitsdenken. In ihrem etymologischen Aufriss aber enthalte jede Sprache immer schon ein Archiv der Geschichten anderer Völker und Kulturen, mit denen ihre eigene Geschichte unweigerlich verbunden sei. Ob der Weg dieser ,amerikanischen‘ Philologie aus der Romanistik hinausführt, wie es der Autor favorisiert, bleibt abzuwarten. Steht die Romanistik in ihrem Fokus auf Sprachen nicht potentiell quer zu deren Vereinnahmung durch einzelne Staaten und Territorien? (So ja auch der Tenor mehrerer anderer Beiträge.) Eine Verabschiedung der Romanistik könnte damit auch zu einer Bereinigung jener amerikanischen Diachronie führen, in der das Faktum europäischer Kolonisierung und die damit verbundene Gewalt Fundierung wie Trauma zugleich sind.

3.) In einem gezielt polemisch gehaltenen Beitrag konstatiert Benjamin Loy einen gewissen elegischen Ton der Debatte über Sinn und Zukunft der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Romanistik im Besonderen; sei es in der posthermeneutischen Bescheidung auf ,Präsenz‘, sei es als Klage über den immer deutlicheren Schwund historischer Tiefe in der Selbstdeutung okzidentaler Gesellschaften, für die ihm je Hans Ulrich Gumbrecht bzw. Andreas Kablitz einstehen. Soziale Relevanz könne die Romanistik nur (zurück)gewinnen, wenn sie sich wieder als „kritische“ verstehe und darunter auch die ökonomische Verfasstheit von Wirklichkeit mitbegreife, die etwa auch bei Ottmar Ette kaum Berücksichtigung finde. Als Vorbild für die hier angestrebte „dialektisch-kritische Literaturwissenschaft“ (117) nennt Loy Peter Bürger. Dessen theoretische Miniatur fällt dabei etwas knapp aus und beschränkt sich besonders auf die von Bürger formulierte Verpflichtung der Geisteswissenschaften zu aktiver Teilhabe am Prozess sozialer Veränderung sowie, disziplinintern, zu einer Kultur des sachlich und logisch regulierten Disputs. Während der zweite Aspekt kaum anderes als Zustimmung finden dürfte, wohl aber verbreiteter ist, als Loy es darstellt, bleibt der erste problematisch und wird nur in Ansätzen beleuchtet. Vielmehr visiert Loy im Anschluss die ,Innenseite‘ der Disziplin und weniger die ,Außenseite‘ ihrer neu zu stiftenden Relevanz. Diese aber lässt sich wohl nicht allein durch die interne Umstellung des Fachs erzielen. Ob die Reaktivierung Peter Bürgers dabei einen gangbaren Weg weist, bliebe noch deutlicher zu erörtern. In jedem Fall regt Loys energetisch vorgetragene Ermunterung zur disziplinären Selbstreflexion dazu an, sich entschiedener mit der innergesellschaftlichen Rolle der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit und deren möglichen Erträgen für die nicht-akademische Welt zu befassen. Etwas mehr utopischer Funkenflug stünde der Romanistik in jedem Fall gut an.

Marie-Therese Mäder vermerkt ein Aufarbeitungsdefizit der Romanistik mit Blick auf jüngere kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden. Vielmehr herrsche noch immer eine inzwischen veraltete Konzeption von Landeskunde vor, deren Vertreter den Kulturwissenschaften tendenziell ablehnend begegneten. Auch die Vertreter einer Re-Philologisierung des Fachs verhielten sich oft unnötig feindselig gegen kulturwissenschaftliche Tendenzen. Dabei sei gerade die Romanistik als „Fremdkulturwissenschaft“ (151) prädestiniert für solche Öffnungen, die nicht zuletzt der Selbstreflexion als Beobachter dienlich sei. Es bleibt insgesamt etwas offen, ob der Wandel, den Mäder favorisiert, ein Wechsel der Methodik oder der Forschungsgegenstände wäre. In Zeiten von Etatkürzungen und systematischer Unterfinanzierung scheint in einem prekären Fach wie der Romanistik die Erweiterung der Kernfächer Sprach- und Literaturwissenschaft um ein drittes unwahrscheinlich. Überlebenschancen dürfte die Kulturwissenschaft daher eher in einer ,Übersetzung‘ haben, d.h. als kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Von dort sind immer wieder Streifzüge Richtung TV-Serien, Comics und anderer populärer Medien in der Romania möglich, wie mehrere Konferenzen der letzten Jahre belegen.

Eine verstärkte Berücksichtigung gendertheoretischer Ansätze wünscht sich Sandra Hettmann. Ihr Beitrag bietet einen sehr verdichteten Abriss der wesentlichen Entwicklungen in den Gender Studies der letzten Jahrzehnte und plädiert zugleich dafür, in Zeiten postmoderner Identitätenvielfalt nicht zu übersehen, dass sich diese mit einem deterritorialisierten Spätkapitalismus erstaunlich kompatibel zeigt. Mit Blick auf konkrete Umsetzungsstrategien der eingeforderten gendertheoretischen Wende hält sich die Autorin etwas zurück und spricht recht allgemein von „Mechanismen der Kanonbildung, Kanonisierung, Produktion und Rezeption von Literatur und Kultur“, um diese „gender-kritisch, queer-feministisch und rassismuskritisch“ zu hinterfragen (179). Vielleicht wäre hier eine Studie, die genau dies an einem Fallbeispiel leistet, insgesamt überzeugender, denn auch im Falle der Gender Studies liegt die Herausforderung in der ,Übersetzung‘, d.h. in der Transformation ihrer kritischen Begrifflichkeiten in ein operativ auf die Analyse literarischer Texte zugeschnittenes Instrumentarium von Konzepten und Methoden.

In einem klugen Beitrag widmet sich Tobias Kraft der Herausforderung der Romanistik durch die Digitalisierung ihrer Forschungsinfrastruktur aus Sicht der digitalen Editionsphilologie. Kraft konstatiert einen „Schwellencharakter unserer eigenen kulturellen Praxis“ (190) zwischen analog und digital. So sei die Digitalisierung des Alltags längst vollzogen und auch die Förderrichtlinien der DFG enthielten ein klares Bekenntnis zur Digitalisierung. Analog und digital seien heute nicht mehr als Antagonisten, sondern im Sinne ihrer „Komplementarität“ (188) zu verstehen. Gleichwohl werfe auch das Feld der digitalen Editionsphilologie zahlreiche Probleme auf, etwa die Etablierung universeller Standards oder die Möglichkeit der Langzeitspeicherung und deren Kosten und die dauerhafte Lesbarkeit von Daten über Softwarewechsel hinweg. Die Umstellung der Geisteswissenschaften und die feste Etablierung informatischer Kompetenzen in ihren Curricula werden laut Kraft noch ein bis zwei Generationen dauern. In dieser Zeit aber werde es nicht zuletzt darum gehen, „eine auf der Höhe dieser Technikkultur sich entwickelnde Kulturtechnik des digitalen Lesens“ (198) voranzutreiben. Sympathisch ist dabei, dass nach Kraft der hermeneutische Textzugang durch die Digitalisierung nicht obsolet, sondern vielmehr ergänzt und erweitert wird, indem dessen Befunde z.B. quantitativ auf Generalisierbarkeit hin überprüft werden können. Digitalisierung ist damit prinzipiell frei von Parteinahmen für einen bestimmten theoretischen Zugriff und könnte zudem, etwa im Bereich der Korpusforschung, neue Kooperationen von Literatur- und Sprachwissenschaft eröffnen.

Fanny Romoth möchte die „Bewegungsforschung“ als Forschungsparadigma etablieren und favorisiert einen „turn to movement“ (217), den sie als Fortentwicklung des spatial turn begreift. Indes gelingt es Romoth nicht, ,Bewegung‘ präzise zu bestimmen: geht es um die Zirkulation von Texten, textstrukturell angelegte Bewegung, hermeneutische Bewegungen oder lediglich um Bewegung als Thema literarischer Texte (z.B. im Futurismus)? Hier gerät der Terminus Bewegung zu einem Schwammbegriff, der vieles unterschiedslos aufsaugt. Die Faszination für ,Bewegung‘ führt zudem zu manch problematischer Begriffshypostase, wenn Romoth etwa von „textueller Eigenbewegtheit“ bzw. „textuelle[n] Eigenbewegungen“ (216) schreibt, die offenbar ohne Rezeptionsakte auskommen. Zweifelhaft bleibt, ob ein neuer turn tatsächlich Not tut, zumal zahlreiche der angeführten Zitate, mit denen Romoth die Bewegungsforschung als Desiderat zu etablieren gedenkt, von Forscherinnen und Forschern stammen, die sich als Protagonisten des spatial turn profiliert haben. Ein weiterer turn erscheint damit unnötig, zumindest in der hier entworfenen Form, die mehr Probleme aufwirft als sie Sachverhalte erhellt.

Abrundend finden sich zwei Beiträge etablierterer Romanisten, Gesine Müller und Ottmar Ette, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten maßgeblich um eine geographische Erweiterung und konzeptuelle Erneuerung romanistischer Forschung bemüht haben.

In einer anregenden Studie entwirft Müller anhand pointierter historischer Einzelfälle die transareale Karibik mit den dort schon im 19. Jahrhundert allgegenwärtigen „Phänomenen der Deterritorialisierung“ wie „der Migration, Zirkulation und Vernetzung zwischen verschiedensten geographischen Räumen“ (224) als Präzedenzfall unserer globalisierten Gegenwart. In der näheren Anatomie dieser karibischen „Verflechtungsgeschichte“ (221) erweist sich diese als ein „Laboratorium der Moderne“ (234), das sich diesmal interessanterweise nicht etwa in Paris findet, der „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ (W. Benjamin), sondern in ebenjener vielfältig verwobenen Inselwelt, der mit angestammten europäischen Begrifflichkeiten wie etwa demjenigen der Nation so schwierig beizukommen ist.

Abschließend plädiert Ottmar Ette für eine transareale Literaturwissenschaft. Hintergrund ist die Globalisierung mit ihrer multidirektionalen Zirkulation von Gütern, Menschen, aber auch von Texten und Ideen. Literatur entwickle ferner Modelle für ein friedliches interkulturelles „Zusammenleben in kultureller, religiöser, sprachlicher oder politischer Differenz“ (242). Dabei handle es sich um „ein Wissen, das nicht auf bestimmte Regionen oder Nationen begrenzt ist, sondern ganz selbstverständlich einzelne kulturelle Areas überschreitet und sich in ständiger Bewegung befindet.“ (242) Postkoloniale Theoretiker und neomarxistische Analysten globaler Asymmetrien dürften von Ettes harmonischem Modell unbeschwerter Zirkulation indes nur schwer zu überzeugen sein. Vor diesem Hintergrund globaler Transarealität skizziert Ette eine „Poetik der Bewegung“, die sich aus einem konstatierten Defizit rezenter Raumtheorien ergebe, welche die je analysierten Räume nicht ausreichend als Resultate vorgängiger Bewegungen begriffen. Der Terminus ,Bewegung‘ erscheint dabei überraschend unterkomplex. Auch Wolken zirkulieren. Entscheidend sind vielmehr die im jeweiligen Kontaktfall sich vollziehenden Prozesse der Übersetzung und Aushandlung, für die der translational turn (Bachmann-Medick) ein weit sensibleres Begriffsinstrumentarium bereitstellt. Wohl nicht ohne Grund weicht Ette selbst in diese Richtung aus und spricht schließlich doch von „Translationsprozesse[n]“ (250), die es zu analysieren gelte. Wozu aber dann eine „Poetik der Bewegung“?

Insgesamt bietet der Band einen profunden Querschnitt durch die jüngere romanistische Gegenwart und benennt analytisch scharfsinnig und theoretisch versiert zahlreiche Herausforderungen der Disziplin, für welche die einzelnen Beiträge aus je variierender Diagnostik heraus Lösungsvorschläge oder doch Desiderate skizzieren. Die Plausibilität der jeweiligen Angebote schwankt, doch ist es erfrischend zu sehen, dass auch in einem vielseitig unter Beschuss geratenen Fach wie der Romanistik eine solche Vielfalt kritischer Stimmen fortexistiert, die weit davon entfernt sind, das Fach der Wissenschaftsgeschichte zu überlassen. Kleinere Leerstellen bleiben dennoch anzumerken. So kaschiert etwa der vielfach gebrauchte Begriff der Philologie in seiner traditionell weiteren Extension den Umstand, dass hier, mit Ausnahme von Bernaschina Schürmann, ausschließlich Literatur- und Kulturwissenschaftler vertreten sind, Linguisten hingegen nicht. Das ist gewiss nicht den Herausgebern anzulasten, zeigt aber, dass die hier vereinheitlichende Rede von Romanistik oder Romanischer Philologie womöglich fachinterne Bruchlinien verdeckt. Zudem zeigt sich in der Mehrzahl der Beiträge eine gewisse Gegenwartsdominanz, da ihr je impliziter Horizont kaum über das 19. Jahrhundert zurückreicht. Es fehlt damit aber ein Beitrag, der sich eines der dornigsten Probleme gegenwärtiger Romanistik annimmt: die Legitimation der Fortbehandlung ihrer reichen Diachronie. So attraktiv Gesten räumlich-geographischer und kanonischer Entgrenzung im globalen Zeitalter sind, erscheint die hier zuweilen anklingende Wertung des Beharrens auf der longue durée der romanischen Literaturen als Traditionalismus oder Konservatismus etwas einseitig. Vergangenheit an sich ist kein Garant identitärer Aufgehobenheit, sondern eröffnet ein Spektrum von Behandlungsmöglichkeiten, darunter auch die genealogische Methode Nietzsches und Foucaults oder der retroaktive Messianismus Walter Benjamins. In den Brüchen, Verwerfungen und Differenzen, die sie speichert, vermag auch sie, eine sich selbstverständlich gebende Gegenwart in ihrer Bedingtheit bloßzulegen. Auch diachron eröffnen sich damit Verfahren der Problematisierung und Selbstrelativierung, die gegenwärtig vielleicht etwas zu exklusiv in einer synchronen Fokussierung einer Pluralität geographisch-kultureller Zentren Anwendung finden. Doch verstehen sich diese letzten Anmerkungen weniger als Kritik denn als Ausweis dafür, wie dieser gelungene Band in seinen Pointierungen geradezu unvermeidlich zum Nach- und Weiterdenken anregt.

 

Ill.: gravitat-OFF, Aufbruch („Lustgarten“ von Tina Flau)

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