Peter Strohschneider, „Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus“, Rede anlässlich der Festveranstaltung im Rahmen der Jahresversammlung 2017 der DFG, Halle an der Saale, Festsaal der Leopoldina, 4. Juli 2017, Redemanuskript, auch abgedruckt in Forschung 24, Nr. 3 (Oktober 2017). [Video der Rede]
Auszug aus der Rede des Jahres 2017 von Peter Strohschneider:
Freilich: Im Widerspruch gegen populistische Wissenschaftsfeindlichkeit – auch dies war beim March for Science zu beobachten – profiliert sich derzeit eine Auffassung neu, welche die demokratischen Prinzipien unterläuft. Ihre Parole lautet „Für alternativlose Fakten, für wissenschaftliche Evidenz, für Wahrheit in der Politik“ (Kathrin Zinkant, SZ v. 11./12.2.2017, „Auf die Barrikaden!“).
Das ist die Parole der Szientokratie. Sie verwechselt unzweideutige Fakten mit ambivalenten politischen Folgerungen. Sie verkennt, dass keineswegs für alle dasselbe evident ist. Sie sieht politische Macht durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung legitimiert. Und gleich den Autokraten und Populisten, gegen die sie sich wenden will, ist sie „ihrer inneren Logik nach antipluralistisch“ (Jan-Werner Müller).
Doch in den Streit für die pluralistische Moderne und gegen vulgäre Forschungsfeinde eintreten können Studenten, Wissenschaftlerinnen, Forscher allein dann, wenn sie sich nicht als Instanz des Wahrheitsbesitzes verstehen, sondern als diejenige der rationalen, methodischen Suche nach Wahrheit. Unser Wissen steht unter Revisionsvorbehalt – allein dann ist ja an Erkenntnisfortschritte zu denken; wir müssen kollektiv bindende Entscheidungen zwar informieren, können sie aber nicht selbst treffen. Und allein wenn wir uns in dieser Weise ernst nehmen, können wir unser Teil dazu beitragen, dass die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge auch in Zukunft auf Sachfragen bezogen wird anstatt auf Machtfragen.
Strohschneider gelingt mit seiner präzis argumentierenden Rede eine bemerkenswerte Replik auf den Vertrauensverlust, dem sich die Wissenschaft im Jahr 2017 gegenübersieht. Engagiert und bestimmt verteidigt er die Wissenschaft und nimmt sie gleichzeitig in die Pflicht, indem er fordert, dass sie sich durch qualitativ hochwertige Forschung legitimieren müsse.
Dabei betrachtet Strohschneider nicht nur einseitig die Geringschätzung der Wissenschaft durch den Populismus, sondern fügt der gesamtgesellschaftlichen Debatte einen weiteren eminenten Gesichtspunkt hinzu: die Überschätzung des Werts der Wissenschaft. Er verteidigt demokratische Strukturen gegen „szientokratische“ Anwandlungen, nach denen „die politische Macht durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung legitimiert“ werden solle.
Text zur Preisvergabe: Seminar für Allgemeine Rhetorik der Univ. Tübingen, „Auszeichnung ‚Rede des Jahres 2017‘ geht an DFG-Präsident Professor Dr. Peter Strohschneider“,
Zum wiss. Publikationswesen, aus der Rede von P. Strohschneider:
Viele Instrumente der Beobachtung und Steuerung von Wissenschaft haben den durchaus unerwünschten Nebeneffekt, dass das Tempo von Forschungsprozessen und die Größe von Forschungseinheiten geradezu systematisch mit der Qualität von Forschung verwechselt werden.
Und womöglich hat solches auch mit einer Art von Überproduktionskrise von Wissenschaft zu tun. Jedenfalls – um es polemisch zuzuspitzen – hat doch das Publizieren als wichtigstes Ziel von Forschung eine derartige Dominanz erlangt, dass wir uns anscheinend allein noch mit der Verfeinerung jener Techniken zu behelfen wissen – vom Abstract bis zum Review-Artikel, von der Bibliometrie bis hin zum Text mining –, die die Lektüre dessen gerade ersparen, was da publiziert wurde.
Peter Strohschneider, „Selbstbegrenzung und Selbstdistanz“, Tagesspiegel, 13. Juli 2017.
„Wissenschaft im postfaktischen Zeitalter: Verteidigt die Aufklärung!“, DLF-Kulturgespräch, 30. Juni 2017, mit Lorraine Daston, Sabine Kunst, Stefan Rahmstorf, Peter Strohschneider und Johannes Vogel. [Online-Audio]
Wilfried Hinsch, „Die Freiheit der Forschung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Mai 2017.
Regina Mönch, „Die Gedanken sind frei, auch jene der Impfgegner“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. April 2017.
Manfred Ronzheimer, „Wissenschaft lebt von Weltoffenheit“, taz, 10. Februar 2017.
Peter Strohschneider, „Wissenschaft muss für die Demokratie streiten“, Süddeutsche Zeitung, 24. Januar 2017.
„Die große Debatte findet nicht statt“ Warum fehlt den Universitäten die visionäre Idee? Ein Gespräch mit dem DFG-Präsidenten Peter Strohschneider, DIE ZEIT, 1. Dezember 2016.
Ill.: Populist