Roland Alexander Ißler, Tagungsbericht „Romain Rolland, der Erste Weltkrieg und die deutschsprachigen Länder: Verbindungen – Wahrnehmung – Rezeption = Romain Rolland, la Grande Guerre et les pays de langue allemande: connexions, perception, réception“, Universität Regensburg, 11.11.2017, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien.


Vorabdruck des Tagungsberichts

Tagungsbericht „Romain Rolland, der Erste Weltkrieg und die deutschsprachigen Länder: Verbindungen – Wahrnehmung – Rezeption = Romain Rolland, la Grande Guerre et les pays de langue allemande: connexions, perception, réception“, Universität Regensburg, 11.11.2017

Roland Alexander Ißler (Bonn)

Spätestens seit 2014 wird vielerorts in Europa auf wissenschaftlichen Symposien und Konferenzen des Ersten Weltkriegs gedacht – nicht nur unter historischen Fragestellungen, sondern gerade auch in den neueren Philologien. Zumal angesichts der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Krisenhaftigkeit wird die Diskussion um Zustand und Entwicklung Europas innerhalb des vergangenen Jahrhunderts wieder verstärkt geführt, und es steht zu erwarten, dass die sogenannte Grande Guerre auch in diesem letzten Kriegserinnerungsjahr noch ihre schweren Schatten auf künftige Erinnerungsveranstaltungen und Tagungen werfen wird, die sie zu erklären suchen und ihre Spuren bis in die Gegenwart verfolgen werden.

Genau auf den 99. Jahrestag des geschichtsträchtigen Waffenstillstands von Compiègne fiel eine internationale Journée d’étude der Universität Regensburg unter der Leitung von Marina Ortrud Hertrampf. Sie nahm den centenaire des Weltkriegs zum Anlass, sich unter vergleichenden Gesichtspunkten einem großen Intellektuellen der vorletzten Jahrhundertwende zu widmen, dessen Name untrennbar, wenn auch wider Willen, mit dem Ersten Weltkrieg verbunden ist: Romain Rolland. Sein vielschichtiges Werk ist nach hundert Jahren kaum mehr präsent, ja in weiten Teilen nahezu unbekannt auf beiden Seiten des Rheins. Das ganztägige Kolloquium fand unter dem zweisprachigen Titel „Romain Rolland, der Erste Weltkrieg und die deutschsprachigen Länder: Verbindungen – Wahrnehmung – Rezeption = Romain Rolland, la Grande Guerre et les pays de langue allemande: connexions, perception, réception“ am 11. November 2017 von 9.00 bis 18.30 Uhr mitten im historischen Kern der ostbayerischen Stadt im Haus der Begegnung der Universität Regensburg (Hinter der Grieb 8) statt. Zehn Wissenschaftler/innen aus Frankreich und Belgien, Italien, Österreich und Deutschland nahmen aktiv daran teil, und auch fachkundige Gäste waren zugegen. Marina Ortrud Hertrampf hatte die Konferenz zunächst in Zusammenarbeit mit dem Rolland-Spezialisten Landry Charrier (vormals Clermont-Ferrand) geplant, der unterdessen als Leiter des Institut Français Bonn neue Verpflichtungen eingegangen war; statt seiner erhielt sie kurzfristig Unterstützung von Oliver Schulz (ebenfalls Clermont-Ferrand).

Die Tagung stand im Kontext der Wiedererweckungs- und Rehabilitationsbestrebungen zugunsten Romain Rollands, die seit einigen Jahren wieder vermehrt zu beobachten sind. Notwendig wurden derartige Initiativen freilich erst dadurch, dass der französische Schriftsteller trotz seines Nobelpreises für Literatur (1915) bei Zeitgenossen und Landsleuten schon zu Lebzeiten zunächst in Misskredit, später in den Hintergrund gerückt und schließlich beinahe in Vergessenheit geraten war. Gegen die „légende [de Rolland] mauvais Français, tout au moins […] un Français douteux et périphérique“ schrieb knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa René Cheval an,[1] und es ist kein Zufall, dass er, wie schon ein Jahr zuvor Marcelle Kempf,[2] gerade bei dem Deutschlandbild und den Kriegserfahrungen des Schriftstellers ansetzte. Die bedeutende und einschlägige Essaysammlung Au-dessus de la mêlée (1915) wurde vor einigen Jahren pünktlich im Zuge des Weltkriegsgedenkens in der Petite Bibliothèque Payot neu herausgegeben und wiederveröffentlicht.[3] Hat sich auch die Forschung der letzten Jahrzehnte eher vereinzelt und unsystematisch mit Rolland befasst, so ist erst wieder in den letzten Jahren ein erhöhtes Interesse an seinem Werk zu verzeichnen. Dieses umfasst, wie oft übersehen wird, neben essayistischen Schriften und Tagebüchern auch mehrere Romane, Dramen und dramentheoretische Überlegungen sowie zudem eine ungewöhnlich umfangreiche und global ausgreifende, noch nicht annähernd aufgearbeitete internationale Korrespondenz.

Die Regensburger Tagung setzte es sich folgerichtig zum Ziel, insbesondere den deutschsprachigen Raum als Resonanzboden für Rollands Werk zu untersuchen und die Kontakte, die Rolland in die deutschsprachigen Länder unterhielt, neu zu beleuchten. Zunächst war damit also eine mise à jour des Forschungsstandes verbunden, denn die genannten, bis heute maßgeblichen Untersuchungen der Beziehungen Rollands zu Deutschland von René Cheval und Marcelle Kempf sind mittlerweile über 50 Jahre alt. Der Konferenz lag aber außerdem der kluge Gedanke zugrunde, die bisher in der Forschung vorherrschende Konzentration auf das deutsche Staatsgebiet um den deutschen Sprachraum auch außerhalb Deutschlands selbst zu erweitern. Tatsächlich sind Österreich und die Schweiz von Untersuchungen in diesem Zusammenhang bislang weitgehend ausgespart geblieben; eine Ausnahme bilden allenfalls Rollands Verbindungen zu Stefan Zweig (1881–1942).

In zehn Vorträgen verschiedener Disziplinen und einer umfassenden Abschlussdiskussion gelang es den Beitragenden, zentrale Gedanken und wesentliche Anliegen Romain Rollands rund ein Jahrhundert nach seinem Wirken lebendig werden zu lassen und dabei die gerade angesichts eines bis heute maßgeblich von Frankreich und Deutschland geprägten Europas zum Teil frappierende Aktualität seines Schaffens als Schriftsteller und humanistischer Intellektueller zu bekräftigen, das immer noch durch seine Integrität und Aufrichtigkeit ebenso wie durch seine Luzidität besticht.

So gab Fernand Égéa (Paris) zum Auftakt in seinem Vortrag „Au-delà de la haine: quelle paix? quelle Europe?“ zu Rolland und seinen Friedensvisionen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Presse und der Korrespondenz Rollands mit Zweig eine neue Einschätzung ab und bescheinigte dem Schriftsteller große Konsequenz und Beständigkeit in der Beurteilung der zeitgeschichtlichen Situation und einen klaren Blick für das Kommende. Rollands Abneigung gegen den preußischen Militarismus habe ihn mitnichten davon abgehalten, sowohl vor als auch nach dem Krieg stets den Dialog zu suchen und sich diesem stets offen zu stellen. Sehr deutlich erkannte Rolland, dass die Nachhaltigkeit eines Friedens nach Beendigung der Grande Guerre zu einem gewichtigen Teil von seiner Gestaltung abhängen würde; wenn er kritisierte, dass die vereinbarten Friedensverträge die deutschsprachigen Staaten zu ersticken drohten, so weil er darin bereits den Keim für eine neue katastrophale Entwicklung erahnte. Dass der Hass mit dem Kriegsende nicht besiegt sei, sondern die Beziehung der Völker weiterhin belaste, war eines der gewichtigen und hellsichtigen Argumente, die Rolland nicht müde wurde zu wiederholen. Beredtes Zeugnis legt hiervon ein an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) gerichteter Brief ab, an den Fernand Égéa dankenswerterweise erinnerte.

Nicht allein auf politischer, auch auf philosophischer Ebene zeigte sich Rolland hochgradig empfänglich und lauschte aufmerksam den Stimmen und Stimmungen jenseits des Rheins. Vor diesem Hintergrund thematisierte der folgende Vortrag den philosophischen Kulturtransfer im Rückgriff auf Friedrich Nietzsche (1844–1900). Unter dem Titel „La rhétorique nietzschéenne de Romain Rolland dans Au-dessus de la mêlée“ wies Thomas Franck (Lüttich) den Einfluss des deutschen Gelehrten auf Rollands Friedensrhetorik nach. Anklänge an Nietzsches Jenseits von Gut und Böse lässt schon der Titel des Weltkriegs-Essays erahnen, den Franck als philosophischen „interdiscours“ charakterisierte, nicht ohne zu betonen, dass Rolland den Philosophen in erster Linie als Schriftsteller wahrgenommen habe. Tatsächlich hatte schon Rolland selbst rückblickend die beträchtliche Bedeutung der Nietzscherezeption für das Frankreich seiner Zeit hervorgehoben. Francks Diskursanalyse jedoch ist es zu verdanken, dass sich Spuren dieses philosophischen Einflusses bis in Sprachduktus, Stil und Wortwahl hinein in Au-dessus de la mêlée abzeichnen und schließlich in aller Deutlichkeit zutage treten.

Einen zentralen Beitrag zur Ausgangsfrage leistete sodann Francis Claudon (Paris) in seinem philologisch gründlich recherchierten Vortrag „Romain Rolland et l’idée autrichienne“. Anhand erhellender Beispiele aus der Korrespondenz des Schriftstellers zeigte er, dass dessen Fokus tatsächlich besonders auf Deutschland gerichtet war und dass Rolland sich Österreich gegenüber vielmehr seltsam distanziert verhalten zu haben scheint. Hat sich auch die Rollandforschung bislang fast ausschließlich mit dem preußisch-wilhelminischen Reich, kaum hingegen mit der k.u.k.-Monarchie auseinandergesetzt, so missachtet sie die wie immer viel komplexere Realität. Claudon hingegen hinterfragte nicht nur die Rezeption der freien Schweizer Presse wie der Revue de Genève und die Breite der Wahrnehmung pazifistischer Schriften in Österreich, sondern ging auch u.a. Rollands Kontakt mit dem Schriftsteller, Journalisten und Diplomaten Paul Zifferer (1879–1928) nach, der seine Schulbildung in der französischen Hauptstadt erhalten hatte, in die er nach dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte und als Kulturattaché der österreichischen Republik in Erscheinung trat. Der Empfehlung Stefan Zweigs, ihn zu treffen, ist Rolland offenbar nicht gefolgt.

Auf die oft unterschlagene Tatsache, dass der internationale Pazifismus zur Zeit des Ersten Weltkriegs und darüber hinaus breite weibliche Unterstützung erfahren hat, wies Fiorenza Taricone (Cassino) in ihrem Vortrag „Romain Rolland et l’associationnisme et le pacifisme féminins“ dezidiert hin. Es mag genügen, an Namen wie Bertha von Suttner (1843–1914) oder Annette Kolb (1870–1967) zu gemahnen, um sich hiervon zu überzeugen. Im Umkreis Romain Rollands gab es jedoch eine ganze Reihe mehr oder minder bedeutender Frauen, die sich aktiv und nachdrücklich für den Frieden einsetzten, ohne dass man sich ihrer heute in ähnlichem Maße erinnert. Zu nennen sind nicht nur internationale Autorinnen wie die französische Menschenrechtsaktivistin Marcelle Capy (1891–1962), die italienische Journalistin Rosalia Gwis Adami (1880–1930) oder Ghénia Avril de Sainte-Croix (1855–1939), die international agierende Präsidentin des französischen Conseil National des Femmes; auch die beiden Ehefrauen Romain Rollands, die Pianistin Clothilde Bréal (1870–1946) und die französisch-russische Dichterin und Übersetzerin Marie Koudacheva (1895–1985), spielten in verschiedenen Lebensphasen des Schriftstellers intellektuell eine eminente Rolle. In diesem Sinne schloss Fiorenza Taricone mit ihrem Beitrag eine wichtige Forschungslücke, indem sie ihren Einfluss hervorhob und das Augenmerk auf das gemeinsame Wirken legte.

Zwei Frauengestalten standen im Zentrum auch des komparatistischen Vortrags von Gwenaële Vincent-Böhmer (Brüssel), die unter dem Titel „Annette Rivière et Aggie Ruf: Deux héroïnes face à leur destin. Influences, convergences et divergences entre L’Âme enchantée de Romain Rolland et Das Erbe am Rhein de René Schickele“ Parallelen zwischen Rollands Roman und der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entstandenen deutschsprachigen Romantrilogie von René Schickele (1883–1940) herausarbeitete. Der zweisprachige elsässische Autor und Herausgeber der Weissen Blätter im Schweizer Exil, der sich selbst als „citoyen français et deutscher Dichter“ bezeichnete, eiferte Rolland nicht nur im politischen Sinne in seiner weltbürgerlich-pazifistischen Haltung nach, sondern verarbeitete auch auf erzählerischer Ebene die eigene tragische Zwischenposition angesichts der zeitgenössischen deutsch-französischen Feindschaft der Zwischenkriegszeit. Gwenaële Vincent-Böhmer verglich in ihrem Beitrag die beiden weiblichen Protagonisten, Rollands Heldin Annette Rivière aus L’Âme enchantée und Schickeles Figur Aggie Ruf, die den letzten Teil des Romanwerks dominiert und mit Rollands Annette nicht zufällig die Initialen wie diese mit Annette Kolb den Vornamen teilt.

Offenbarte der Vortragsblock die Studie „Rolland et les femmes“ als bemerkenswertes Forschungsdesiderat, so standen im Anschluss zwei langjährige männliche Schriftstellerfreundschaften im Zentrum der Betrachtung: „Romain Rolland et Stefan Zweig. Une amitié en temps de guerre“, vorgetragen von Walter Wagner (Wien) in französischer Sprache, und „Hermann Hesse und Romain Rolland. Eine exemplarische deutsch-französische Freundschaft“, ein Beitrag von Roland Ißler (Bonn). Rollands Briefwechsel mit Zweig begann als Reaktion auf die Zusendung von dessen Verhaeren-Biographie an den französischen Romancier, während Rolland mit Hesse selbst Kontakt aufnahm. Walter Wagner untersuchte das nicht immer konfliktfreie Verhältnis Rollands zu Zweig im Kontext der aristotelischen Konzeption von Freundschaft zwischen utilité, plaisir und vertu. Tatsächlich ist das wechselseitige Korrektiv, wie es der griechische Philosoph in der Nikomachischen Ethik erläutert, für die Korrespondenz zwischen Zweig und Rolland in besonderem Maße charakteristisch. Gleichwohl akzentuierte Wagner auch die über Strecken unterwürfige Haltung des Österreichers seinem Briefpartner gegenüber, den er zeitlebens ehrfürchtig bewunderte und fast religiös verehrte.

Auf Hermann Hesse wurde Rolland bei der Lektüre eines Aufsatzes in der Neuen Zürcher Zeitung aufmerksam, in dem sich der ungewöhnlich besonnene Hesse proeuropäisch äußerte und einen raschen Frieden forderte. Ausgerechnet der Weltkrieg stand so am Beginn ihrer Jahrzehnte überdauernden Brieffreundschaft. Roland Ißler zeichnete in seinem Vortrag die schriftlichen Kontakte und persönlichen Begegnungen anhand von Briefen und Tagebucheinträgen nach und stellte zwischen den verschiedenen Dokumenten neue Verbindungen her.

Die beiden auf der Tagung stellvertretend hervorgehobenen Briefkontakte Rollands verweisen auf die besondere Bedeutung seiner Korrespondenzen schlechthin, die noch weiterer Entdeckungen harren; mutmaßlich wird noch mancher wertvolle Gedanke in bislang übersehenen privaten Briefen zu finden sein. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Herausgeber und Verleger einer neuen und vollständigen Ausgabe der Korrespondenz Romain Rollands mit der deutschen Schriftstellerin und Wagner-Vertrauten Malwida von Meysenbug (1816–1903) in drei Bänden, Wolfgang Kalinowsky, der Regensburger Konferenz als Gast mit großem Interesse folgte und bei der Gelegenheit seine Publikation vorstellte.[4]

Als Gegenpol zu den freundschaftlichen und wohlwollenden Beziehungen und Kontakten Rollands mit dem deutschsprachigen Raum erörterte ein weiterer komparatistischer Vortrag das intellektuelle Spannungsfeld zwischen dem französischen Schriftsteller und einem der markantesten Protagonisten der zeitgenössischen deutschen Literaturgeschichte, ebenfalls ein späterer Nobelpreisträger für Literatur (1929): Manfred Schmeling (Saarbrücken) stellte seinen Beitrag unter den Titel „Romain Rollands ‚Au-dessus-Buch‘ im Urteil von Thomas Mann: Deutsch-französische Gegensätze in den Betrachtungen eines Unpolitischen“. Die darin von Mann geäußerten polemischen Worte dem französischen Autor gegenüber sprechen eine bestürzend deutliche Sprache und scheinen nicht mehr die geringste Annäherung zuzulassen. Mann baute in seinem Essay zwischen dem Kultur- und dem Zivilisationsbegriff eine Differenz auf, an welcher er nationale Zerwürfnisse zwischen Deutschland und Frankreich ebenso festmachte wie die persönliche Fehde zwischen sich und seinem Bruder Heinrich, ohne diesen jedoch explizit zu erwähnen. Es verwundert nicht, dass die in diesem Zusammenhang von Thomas Mann verteidigte Gleichsetzung von Krieg und Kultur Romain Rolland befremden musste. So schalt dieser den Artikel denn auch folgerichtig in seinem Kriegstagebuch als das Furchtbarste, das er je von einem deutschen Intellektuellen gelesen habe, und äußerte sich nicht minder entsetzt und angewidert in diversen Briefen. Schmeling jedoch akzentuierte die Ambivalenz zwischen der politischen und literarischen Dimension der Beziehung beider Schriftsteller und stellte der kriegsbedingten Frontstellung Manns gegen Rolland die beiden gemeinsame Goetheverehrung gegenüber, in der sich nicht erst die Künstlerromane Jean-Christophe und Doktor Faustus treffen.

Einen enthüllenden Ausblick auf die oft verzerrte, durchaus nicht unproblematische Rezeptionsgeschichte Romain Rollands nach dessen Tod und in der Nachkriegszeit gab Clemens Klünemann (Ludwigsburg) in seinem Vortrag „Zur Rezeption Romain Rollands: Friedrich Sieburg und Bertrand de Jouvenel – zwei unwürdige Erben des Deutschlandbildes au dessus de la mêlée“. Mit dem Journalisten und Literaturkritiker Friedrich Sieburg (1893–1964) und dem Philosophen Bertrand de Jouvenel (1903–1987) wählte er je einen publizistischen Vertreter der deutschen und französischen Seite, die auf unterschiedliche Weise an Rolland anknüpfen sollten. Ausgangspunkt für Klünemanns Überlegungen war Rollands ambivalentes Deutschlandbild, dessen Oszillieren zwischen der vehementen Ablehnung des preußischen Militarismus auf der einen und der Verehrung der ästhetischen Tradition einer friedfertigen deutschen Dichter- und Denker-Kultur beständig „deux Allemagnes“ avisierte. Im Vortrag zeigte er, wie sowohl Sieburg auf deutscher als auch Jouvenel auf französischer Seite Rollands pazifistische Gesinnung verrieten, indem sie das nationalsozialistische Deutschland und ihre politische Sicht auf die Totalisierung gegen sie ausspielten.

Die Initiatorin selbst beschloss die Tagung mit einem klärenden Vortrag zur Dramenästhetik Rollands, der mit seinem Theaterschaffen durchaus nicht unwesentlich am Beginn des französischen Volkstheaters steht („Danton oder: Von Rollands ‚volkstümlichem’ Revolutionsdrama zu Reinhardts revolutionärem Volkstheater“). Dass seine dramatische Produktion seinerzeit auch in Deutschland auf offene Ohren stieß, beweist nicht zuletzt die monumentale Berliner Inszenierung seines Danton (1889) durch Max Reinhardt (1873–1943) in der Arena-Bühne nach Ende des Ersten Weltkriegs als volksnahes Partizipationstheater, die Marina Ortrud Hertrampf (Regensburg) mit zeitgenössischem Bildmaterial dokumentierte. Obgleich zwischen Rollands dramentheoretischer Konzeption und ihrer oftmals ausufernd personallastiger Umsetzung eine wohl unüberbrückte Kluft besteht, so ist die Bedeutung seiner Dramen und theaterästhetischen Schriften nicht zu unterschätzen. Auch hier scheinen ‚weite Felder‘ durch, welche die literaturwissenschaftliche Forschung auch in den letzten hundert Jahren noch nicht genügend umgegraben hat.

Leider entfiel der im Tagungsprogramm angekündigte musikwissenschaftliche Beitrag von Simon Haasis (Wien), der den Musikologen Rolland als Vermittler zwischen der deutschen und französischen Musikkultur präsentiert hätte. Auch zwischen Musik- und Literaturwissenschaft dürfen weitere erhellende Wechselwirkungen vermutet werden.

Die interdisziplinäre Regensburger Tagung hat zur Problematisierung und Aktualisierung des literarischen und politischen, zuallererst humanistischen Phänomens Romain Rolland der tragischen Jahre 1914–1918 durch fundierte Beiträge und eine ernsthafte Auseinandersetzung in erheblichem Maße beigetragen und eindrucksvoll die anfängliche Vermutung bestätigt, dass es sich unter allen Umständen lohnt, den Intellektuellen Romain Rolland – den Dichter und sein Werk, vor allem aber den Menschen, den Stefan Zweig einst mit dem Titel „Gewissen Europas“ adelte – wieder zu lesen und neu zu entdecken. Seine Schriften, in finsterster Zeit stets im tiefen Bekenntnis zu Menschlichkeit und Güte verfasst, stellen sich drängenden Fragen des menschlichen Daseins, lehnen sich unnachgiebig auf gegen jede Form fanatischen Exzesses und enthalten so auch hundert Jahre nach ihrem Erscheinen ein beachtliches Potential für eine bisweilen nebulöse Gegenwart, in der das Wort des Jahres „postfaktisch“ heißt.

Die Publikation der Tagungsakten ist bereits im Druck. Noch im Frühjahr 2018 soll im Verlagshaus Frank & Timme ein einschlägiger Sammelband zur Forschungsfrage erscheinen, der Rollands Verbindungen in den deutschsprachigen Raum sowie die dortige Wahrnehmung und Rezeption seiner Person und seines Wirkens neu in den Blick nimmt und auslotet.

  1. René Cheval, Romain Rolland: l’Allemagne et la guerre (Paris: Presses universitaires de France, 1963), 15.
  2. Marcelle Kempf, Romain Rolland et l’Allemagne (Paris: Debresse, 1962).
  3. Romain Rolland, Au-dessus de la mêlée (Paris: Payot, 2013).
  4. Une amitié européenne: Romain Rolland et Malwida von Meysenbug. Correspondance 18901903, hrsg. von Wolfgang Kalinowsky, 3 Bde. (o.O.: Kalinowsky, 2016).

 

Ill.: Romain Rolland auf dem Balkon seiner Wohnung (Boulevard de Montparnasse 162, Paris) im Jahr 1914. Die Ansicht zeigt den Blick in süd-süd-östlicher Richtung. Das Gebäude in der Mitte ist das alte Kloster der Schwestern der Heimsuchung (Avenue Denfert-Rochereau 68) und die Kuppel ganz rechts ist die Pariser Sternwarte.

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