Joseph Jurt, „Der Mai 68 der Schriftsteller in Frankreich“, Rezension von Boris Gobille, Le Mai 68 des écrivains, erscheint in Romanische Studien.


Vorabdruck der Rezension

Der Mai 68 der Schriftsteller in Frankreich

Joseph Jurt (Basel/Freiburg i. Br.)

Boris Gobille, Le Mai 68 des écrivains: crise politique et avant-gardes littéraires, Culture & Société (Paris: CNRS Editions, 2018), 400 S.

„Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848“, schrieb Hannah Arendt noch im Jahr des Umbruchs an Gertrud und Karl Jaspers.[1] Hannah Arendt stand nicht allein mit dieser Referenz auf das Revolutionsjahr 1848. So stufte 1972 auch Jean-Pierre Faye den ‚Textualismus‘ von Tel Quel als Phänomen der Dekadenz ein, analog zur Entstehung – nach dem Scheitern von 1848 – der von Mallarmé als „séminaristes parnassiens“ bezeichneten Gruppe.[2] Maurice Blanchot bezog sich 1968 in einem Text („Rupture du temps: révolution“) auf eine andere Revolution, auf die Pariser Juli-Revolution von 1830, die zum Sturz des Bourbonenkönigs Charles X. geführt hatte, und er zitierte eine bezeichnende Aussage von Walter Benjamin aus einem seiner letzten Texte Über den Begriff der Geschichte:

Le désir conscient de rompre la continuité de l’histoire appartient aux classes révolutionnaires au moment de l’action. C’est une telle conscience qui est affirmée par la révolution de juillet. Dans la soirée du premier jour de lutte, simultanément mais par des initiatives indépendantes, à plusieurs endroits, on tira des coups de feu sur les horloges des tours de Paris.[3]

Durch die Bezugnahmen von Zeitzeugen und Akteuren auf die einschneidenden Daten von 1848 und 1830 wird die damalige Wahrnehmung einer revolutionären Situation offensichtlich, aber auch der Charakter einer historischen Zäsur. Die Einschätzung von 1968 als wichtiger Einschnitt schwächte sich auch nachher nicht ab. Gemäß einer Umfrage im Magazin Le Nouvel Observateur solidarisieren sich 2008 77 % der Befragten in Frankreich mit den Studenten und den Streikenden von damals. Für 84 % hatte Mai 68 wichtige Folgen für die Gesellschaft gezeitigt. In der Bedeutungsskala rangierte Mai 68 gemäß dieser Umfrage noch vor dem Ende des Kalten Krieges, vor dem Algerienkrieg und vor dem Wahlsieg der Linken von 1981[4]. Serge July, selbst ein Akteur der 68er-Bewegung, räumte ein, dass es objektiv gesehen während der letzten fünfzig Jahre wichtigere Ereignisse gab, aber für die französische Gesellschaft habe damals zum letzten Mal eine Bewegung, die Art und Weise zusammenzuleben und die Zukunft zu denken, neu erfunden. Es habe für die Generation, die 68 erlebt habe, in der Folge kein wichtigeres Ereignis gegeben.[5]

Auch für Deutschland kommt heute Reinhard Mohr, wenn auch aus eher kritischer Sicht zu einer analogen Bilanz:

Keine Generation seit dem Zweiten Weltkrieg hat die jüngere Zeitgeschichte derart geprägt wie die 68er […] Nicht einmal der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung, beides wahrhaft epochale Ereignisse, haben daran etwas geändert. 1945 und 1968, das Ende der Naziherrschaft und die Studentenrevolte, so unvergleichbar ihre jeweilige historische Bedeutung ist, sind in Deutschland bis heute Fixpunkte der politischen Debatte und Anlass für streitbare Erregung.[6]

Selbst kritische Auseinandersetzungen belegen die Bedeutung der Zäsur von 1986. So unterstreicht auch Laurent Joffrin, dass 68 ein wichtiger Meilenstein der französischen Geschichte, ein bedeutsamer Teil seines Erbes darstelle:

[…] la protestation des gens de peu face aux puissants, l’autre motif de 68, qui fut la plus grande grève de l’histoire de France, est un héritage national précieux qui renvoie, à travers les symboles de Mai, la barricade, l’occupation des usines, la solidarité proclamée des réprouvés, au printemps des peuples de 1848, à la Commune ou au Front populaire, qui ont façonné le pays autant que l’Académie française ou les ‚racines chrétiennes‘.[7]

Schon 2008 erschienen zahlreiche Zeitzeugnisse, aber auch historische Auseinandersetzungen zum Thema Mai 68.[8] Der schon genannte Akteur Serge July hob Frankreich-spezifische Gründe für die Revolte an. Frankreich habe sich seit 1945 innerhalb kürzester Zeit modernisiert. Hochgeschwindigkeitszüge, das Überschallflugzeug Concorde, die Atomkraftwerke zeugten davon. Im Alltagsleben blieben jedoch die traditionellen autoritären Strukturen bestehen, in den gaullistischen Milieus ebenso wie innerhalb der Kommunistischen Partei.[9]

Ein wichtiger Sammelband erschien 2008 unter dem Titel Mai-Juin 68.[10] Man konzentrierte sich hier nicht mehr allein auf die Mai-Ereignisse, sondern auch auf den einschneidenden Folgemonat und hob dabei hervor, dass ein gesellschaftlicher Wandel sich schon seit dem Beginn der 60er Jahre abgezeichnet hatte. In einem Beitrag im genannten Sammelband über die Formen der häuslichen Herrschaft wurde eine erste Lockerung in den 60er Jahren festgestellt: die Kinder werden früher eingeschult; Körperstrafen werden verpönt. Frauen durften ab 1964 ohne die Erlaubnis des Mannes ein Konto eröffnen und einen Pass beantragen! Das Ordnungsdispositiv war schon vor 1968 Gegenstand eines Aushandelns geworden.[11]

Die symbolische Ordnung hatte auch Risse im Bereich der Hochschule bekommen, die vorher einer sozialen Elite vorbehalten war. Von 1960 bis 1967 nahm die Studentenzahl in Frankreich um 130 % zu. Die Demokratisierung erwies sich indes als trügerisch. Die beiden Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron stellten in ihrer damals vielbeachteten Untersuchung Les héritiers (1964) fest, dass das Studium nicht per se die soziale Mobilität förderte, da das kulturelle Kapital des Ursprungsmilieus für den Erfolg entscheidend blieb.[12] Der ab 1965 einsetzende studentische Anti-Imperialismus im Kontext des Vietnamkrieges war nicht eine Weiterführung des früheren Antikolonialismus, sondern wurde durch die sich nun ausbildenden trotzkistischen und maoistischen Gruppen strukturiert. Zu den politisiertesten Gruppen zählte die 1956 gegründete Union des Etudiants Communistes (UEC), die auf ihrem Höhepunkt etwa 6000 Mitglieder zählte und mit ihrer Zeitschrift Clarté große Resonanz fand. Die Organisation verfolgte aber eine relativ autonome Linie gegenüber der KP, die die Gruppe wieder der Parteidisziplin unterordnen wollte. Das gelang 1965 durch den Ausschluss oder den Austritt fast der Hälfte der Mitglieder, von denen sich viele unter den Aktivisten des Mai-Aufstandes wiederfanden, während die KP mit ihren autoritären, teilweise stalinistischen und gleichzeitig puritanischen Methoden der Studentenrevolte wenig abgewinnen konnte.[13]

Auch jetzt, vor der fünfzigsten Wiederkehr von ‚Mai 68‘ kamen ebenfalls Interpreten auf die Latenzzeit der 60er Jahre zurück, die sich teilweise auch auf ein einzelnes entscheidendes Jahr fokussierten, so etwa die beiden Demokratieforscher Robert Lorenz und Frank Walter, die in ihrem Sammelband 1964 – das Jahr, mit dem ‚68‘ begann[14], die späten 1950er bis Ende der 1960er Jahre als Prolog des Jahres 1968 einstufen. 1968 sei nicht der Ausgangs-, sondern der Kulminationspunkt des politischen und sozialen Wandels gewesen.[15] In ihren Augen sticht 1964 als ein besonders ereignisreiches Jahr hervor, das den gesellschaftlichen Umbruch einläutete. Für die Nachkriegsgeneration seien die klassischen Autoritäten wie Eltern, Lehrer, Vorgesetzte oder die Kirche begründungspflichtig geworden. Im Bereich der Kleiderstile (etwa dem Minirock als „Modeikone der 1960er zwischen Emanzipation, Jugend und Massenkonsum“), des Kunst- und Kinokonsums, der Musik (mit den Rolling Stones und Beatles als „Soundchronisten und Modernitätsmotoren“) habe sich ein Paradigmenwechsel abgezeichnet. Verwiesen wird auch auf Josef Beuys und auf sein Konzept der Gesellschaft als sozialer Plastik und auf sein nachhaltiges demokratisches Kunstkonzept. Die neue Linke entdeckte Marcuses Eindimensionalen Menschen.

1964 sei ein entscheidendes Jahr der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gewesen:

Obwohl die gesamten 1960er Jahre von einem allgemeinen Aufklärungsimpetus zeugten, drängte 1964 die erste nicht unmittelbar nationalsozialistisch geprägte Kohorte an die Universitäten, der es ‚weniger um den Seelenfrieden der älteren Generation [ging], als vielmehr darum, die Wahrheit herauszufinden‘, eine ‚Generation, die der politischen Urteilsfähigkeit ihrer Eltern misstrauisch gegenübersteht‘.[16]

Generell manifestierte sich nun in den Medien eine kritische Öffentlichkeit; es ging darum, die journalistische Unabhängigkeit und damit auch die Mündigkeit des Staatsbürgers zu stärken. Dies geschah im Zusammenspiel mit Kulturschaffenden und Wissenschaftlern. So stieß Rolf Hochhuths Stellvertreter auch noch ein Jahr nach seinem Debüt auf große Resonanz und 1964 erschien Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem auf Deutsch, das die Debatte über die nationalsozialistischen Massenmörder über Jahrzehnte prägen sollte.

1964 wurde Willy Brandt Vorsitzender der SPD, die sich nun als moderne zukunftsoffene Partei der Fachleute und Experten verstand. Das 1963/64 abgeschlossene Passierscheinabkommen wurde als Ende der Eiszeit zwischen Ost und West empfunden. In der DDR erinnerten Wolf Biermann und der Wissenschaftler Havemann daran, dass das Regime seinen eigenen Ansprüchen keineswegs genügte. Das Fazit der beiden Herausgeber:

1964 existierte in ihrer ‚Praxis‘ ganz sicher noch keine vollständig moderne Gesellschaft, wie wir sie heute kennen. Aber es befand sich doch bereits einiges im Wandel, etliche Debatten und Reformen waren angestoßen und hatten bereits begonnen, diese überkommene Gesellschaft zu verändern.[17]

Der Sammelband von Lorenz und Walter konzentriert sich vor allem auf die Situation in Deutschland. Internationale Ereignisse werden vor allem in ihrer Wirkung und Rezeption im eigenen Land untersucht, so Nelson Mandelas Verurteilung im Rivonia-Prozess vom 12. Juni 1964 sowie Martin Luther Kings Besuch in West- und Ostberlin (12.–14. September 1964). Ein einziger Beitrag gilt einem französischen Thema, Jean-Paul Sartres Ablehnung des Nobelpreises im Herbst 1964.[18] 1964 wird hier bloß als Datum der Ablehnung wahrgenommen, ohne eine nähere Bestimmung des damaligen Kontextes. Sartres politische Haltung vorher und dann im Jahre 1968 wird jedoch kompetent umrissen.

Es gab auch in Frankreich den Versuch, ein zentrales Jahr als Wendepunkt innerhalb der 1960er Jahre zu identifizieren, das die Revolte von 68 schon ankündigte oder vorausahnen ließ. Für Antoine Compagnon war das das Jahr 1966. Diesem Jahr widmete er seinen Vorlesungszyklus am Collège de France: 1966: annus mirabilis, zu dem er auch prominente Gastredner einlud (wie Pierre Nora, Gérard Genette, Elisabeth Roudinesco, Antoine Prost, François Dosse, Philippe Roger, Marcel Benabou). Die Option für dieses Jahr erläuterte er in seinem Aufsatz „Pourquoi 1966 ?“[19] ‚1966‘ meint natürlich gemäß dem französischen Verständnis nicht das Kalenderjahr, sondern das Jahr das mit dem eigentlichen Einschnitt, der „rentrée“ 1965 beginnt und mit dem Beginn der großen Sommerferien 1966 endet. „1966 fut une année majeure dans l’histoire contemporaine de la France“, das ist die Ausgangshypothese von Compagnon.[20] Auf der institutionellen Seite war 1965/66 bedeutend wegen der ersten Volkswahl eines Staatspräsidenten seit dem Jahre 1848. De Gaulle musste jedoch zu einer Stichwahl gegen Mitterand antreten, was zu einer Desakralisierung der Institutionen der V. Republik geführt habe und damit auch die Möglichkeit einer politischen ‚alternance‘ denkbar werden ließ. Eine Liberalisierung kündigte sich auch im Juni 1966 an, als der gaullistische Abgeordnete Lucien Neuwirth ein Gesetz vorschlug, das die Empfängnisverhütung legalisieren sollte. Die lange Zeit des Krieges seit 1940 bis zum Ende des Algerienkonfliktes war nun zu Ende. Der Film La guerre est finie von Resnais und Semprun, der im Mai 1966 in den Kinos erschien, belegte das. Frankreich trat jetzt in eine Wohlstandsgesellschaft ein. Im kulturellen Bereich, an den Universitäten (mit nun 400.000 Studenten), den Verlagen, der Presse und im Film gaben nun die Babyboomer den Ton an. Neue Universitäten wurden gegründet: Nanterre für die Geisteswissenschaften 1964 und dann Orsay für die Naturwissenschaften. Malraux eröffnete 1966 in Amiens das erste Maison de la culture, das jedem Jugendlichen den Zugang zur Kultur ermöglichen sollte. Bedeutende Filme prägten das Jahr: Pierrot le fou von Godard im Herbst 1965 und dann Masculin féminin im Frühling sowie Au hasard Balthazar von Bresson, Un homme et une femme von Lelouche. La Religieuse von Rivette wurde im April 1966 verboten, was einen großen Skandal auslöste. Die Inszenierung von Genets Les Paravents im Mai 66 im Théâtre de l’Odéon zeitigte ebenfalls heftige Proteste, von Seiten der Anciens Combattants und der extremen Rechten. Der im Sommer 1966 erschienene Roman Les Choses von Georges Perec – ein Werk, das die Epoche vollends repräsentierte, – wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. In den Taschenbuchreihen erschienen ab 1964 auch intellektuell ambitionierte Werte, so in der Reihe ‚10/18‘ bei Plon oder in ‚Idées‘ bei Gallimard. 1965 waren die ersten beiden Bände von A la recherche du temps perdu in der Reihe ‚Le Livre de poche‘ greifbar und Proust stieß auf immer stärkere Resonanz. Compagnon verweist hier auch auf die Apotheose des Strukturalismus, dem selbst die Zeitschrift von Sartre, Les Temps Modernes, im November 1966 eine Sondernummer widmete:

Le moment fut [d’après Roland Barthes] celui de la – ‚substitution théorique et polémique du texte à l’oeuvre‘, du ‚procès de la notion de signe‘, que le structuralisme avait jusque-là repris trop naïvement à son compte, – ‚procès marqué dès 1967 par les livres de Derrida, l’action de Tel Quel, le travail de Julia Kristeva‘.“[21]

Compagnon unterstreicht aber auch, dass die großen Vertreter der älteren Generation nach wie vor präsent waren und in auch in der Öffentlichkeit intervenierten, so François Mauriac, Aragon, Malraux, der 1967 seine Antimémoires veröffentlichen sollte, aber auch Sartre, der 1965 sechzig Jahre alt geworden war und mit Les Mots noch einmal auf große Resonanz gestoßen war.[22] Aber die neuen Meister der sciences humaines folgten ihnen auf dem Fuß. Das im Frühjahr 1966 publizierte Werk von Foucault Les mots et les choses wurde zu einem Bestseller. Ein großes Echo fanden Les Ecrits von Lacan und der zweite Band der Mythologiques von Lévi-Strauss, die beide im selben Jahr erschienen:

L’année s’achèvera par l’apothéose du structuralisme en Amérique, à l’université Johns Hopkins où un colloque réunit les ténors du mouvement.[23]

Antoine Compagnon betont, dass man sich bei der Analyse des Jahres 1966 nicht nur auf die Literatur konzentrieren könne, sondern sich der Kultur im weitesten Sinne, aber auch der Demographie, der Urbanistik, der Philosophie und der Soziologie zuwenden müsse, um dann zum Schluss zu kommen, „[…] à mi-chemin entre les accords d’Evian et les événements de Mai, 1966 fut en effet un tournant de la France contemporaine.“[24] Eine Beziehung zwischen 1966 und den ‚Ereignissen‘ vom Mai 68 wird hier noch nicht explizit formuliert; das geschah erst in der Präsentation des Stuttgarter Vortrags vom Februar 2018:

Für Compagnon ist bereits das Jahr 1966 ein ‚annus mirabilis‘, ein bemerkenswertes, richtungsgebendes Jahr, in dem sowohl kulturell als auch politisch und gesellschaftlich viele Weichen für die ‚revolutionären‘ Prozesse von 1968 gestellt wurden.[25]

Wenn man sich vor allem im letzten Jahrzehnt der Vorgeschichte von ‚Mai 68‘ zuwandte, so scheint man gegenwärtig die Ereignisse selber – jenseits von polemischen Interpretationen[26] – historisch vertieft zu beleuchten. Wenn die Quellen für die Aussagen und Manifestationen der revoltierenden Akteure relativ gut erschlossen sind, so können die Akten der ‚Gegenseite‘, der staatlichen Institutionen, erst jetzt aufgearbeitet werden.[27] „Il s’agissait de ‚mettre 68 en histoire‘“, erklärte unlängst die Historikerin Michelle Zancarini-Fournel.[28] Wenn Mai 68 relativ früh schon zu einem Forschungsobjekt der Soziologie geworden war, so beschäftigten sich danach auch die Historiker intensiv mit dieser Epoche. Davon zeugte auch das große Kolloquium Mai 68, le temps de l’histoire, das am 16. Februar 2008 organisiert wurde. 2018 führen der Philosoph Patrice Maniglier und der Politikwissenschafler Laurent Jeanpierre am Centre Georges Pompidou von Februar bis April ein Seminar zu Thema „Mai 68 en théorie“ durch.

Anfang des Jahres 2018 erschien eine wichtige Monographie zu Mai 68 von Boris Gobille, dem Mitherausgeber des Sammelbandes Mai-Juin 68 (2008) und Verfasser von zahlreichen Einzelstudien zum Thema: Le Mai 68 des écrivains: crise politique et avant-gardes littéraires[29]. Die Arbeit zeichnet sich zunächst durch eine vorbildliche Erschließung der Quellenlage aus. Der Autor stützt sich nicht nur auf veröffentlichte Texte, Stellungnahmen und Manifeste und Briefwechsel. Einsehen konnte er etwa das Buch von Jean-François Hamel, Nous sommes tous la pègre: les années 68 de Blanchot, das dieses Jahr bei den Editions de Minuit erscheint. Er erschloss auch unveröffentliche Quellen etwa der ‚Union des écrivains‘ in der Fondation Royaumont, die Archive des PCF und der Société des gens de lettres, diejenigen von Jean Schuster und Jean-Pierre Faye im Institut Mémoires de l’édition contemporaine sowie ein Ensemble von Flugschriften, Plakaten und Bulletins des ‚Comité d’action étudiants-écrivains‘. Auch Bernard Pingaud gewährte dem Autor Zulass zu seinem persönlichen Archiv, ebenfalls die Nachfahren von Catherine Claude. Der Autor führte überdies Gespräche mit zahlreichen Akteuren des Mai 68.[30]

Die Qualität der Arbeit liegt nicht nur in der extensiven Quellenerschließung, sondern auch im konsequenten analytischen Zugriff, der im Wesentlichen auf der Feldtheorie von Pierre Bourdieu beruht. Wenn der eigentliche Untersuchungsgegenstand sich auf einen klar umrissenen Bereich beschränkt, das Subfeld der literarischen Avantgarden in ihrer Reaktion auf die politische Krise von ‚Mai 68‘, so lässt sich in der intensiven Analyse die Dynamik der ‚Ereignisse‘ wie unter einem Brennglas präzise erkennen. Wenn sich der Autor auf die ‚Ereignisse‘ konzentriert, so handelt es sich hier keineswegs um eine Ereignisgeschichte, sondern um eine Analyse der Rekonfiguration des Subfeldes der Avantgarden unter der Herausforderung einer politischen Krisenkonjunktur.

Im Zentrum der Theorie von Pierre Bourdieu und auch seines Feldkonzeptes steht die Untersuchung der sozialen Reproduktion. Entgegen der gängigen Wahrnehmung eines Wandels, war für ihn viel mehr die Tatsache erklärungsbedürftig, warum sich so wenig ändert, warum die sozialen Strukturen einen so großen Beharrungsgrad aufweisen. Die voraussehbare Entsprechung von Hoffnungen und Chancen ist in seinen Augen einer der mächtigsten Faktoren, die die bestehende Ordnung zementieren. Diese Wahrscheinlichkeit erkläre die Resignation der Unterdrückten, die viel mehr verbreitet sei, als es eine populistische Mystik wahrhaben wolle. Eine immer größere Disproportion zwischen Erwartungen und Chancen öffne jedoch eine Bresche für die politische Aktion, die den Raum der Möglichkeiten zu öffnen suche durch Utopien, Projekte und Programme, die bei einem großen wahrscheinlichen Realisierungsgrad der Hoffnungen keine Chancen hätten.[31] Pierre Bourdieu behandelte in seinem Werk viel mehr die Beharrung als die Epochen der Krise oder des Umbruchs. Auch in seinen Règles de l’art rekonstruiert er in drei Querschnitten den Status des literarischen Feldes zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den 1970er Jahren („trois é t a t s du champ“[32]). Mai 68 war nun aber ein Zeitpunkt des radikalen Umbruchs, der Krise. Gobille versucht nun den Beweis zu erbringen, dass die Feldtheorie auch die Verzeitlichungslogiken, die in einer Periode der Krise wirksam werden, zu erfassen vermag. Er greift dabei auch auf die Theorie der politischen Krisen zurück, die Michel Dobry entwickelt hat.[33] Die Verzeitlichung wird nun gerade in einer revolutionären oder als revolutionär empfundenen Situation greifbar. Es ist so kein Zufall, dass Blanchot im Mai 68 auf Walter Benjamins Hinweis auf die Freischützen der Julirevolution zurückkam, die auf Turmuhren schossen, eine Episode, die er als Widerhall des revolutionären Kalenders von 1793 betrachtete und damit als Zeichen der Entschlossenheit, „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“. Auch Pierre Bourdieu konstatiert im kurzen Kapitel zu Mai 68 in seinem Buch Homo academicus den Bruch der Vorstellung einer zeitlichen Kontinuität, den die Krise darstellt:

Si la crise a partie liée avec la critique, c’est qu’elle introduit dans la durée une rupture, qu’elle met en suspens l’ordre ordinaire du temps comme présence à un avenir déjà présent. […] [L]’incertitude concernant l’avenir que la crise institue dans l’objectivité même fait que chacun peut croire que les processus de reproduction sont suspendus pour un moment, et que tous les futurs sont possibles et pour tous.[34]

Wenn Boris Gobille sich auf die Verzeitlichungslogik konzentriert, die das Sub-Feld der Avantgarden bestimmte, so geht er auch von einer umfassenderen Einschätzung von Mai 68 aus, die er etwa im Sammelband Mai-Juin 68 artikulierte. Er wendet sich dagegen, Mai-Juni 68 nur als Generationenkonflikt, als Lockerung der Sitten, als ludischen Hedonismus einzustufen. In seinen Augen wurde hier die gesamte symbolische Ordnung in Frage gestellt, die gängige vertikale und horizontale Arbeitsteilung, die jedem eine bestimmte Rolle und Funktion zuweist. Davon zeugten die bisher verkannten neuen Beziehungen zwischen Studenten und Arbeitern, die Aufhebung der Barrieren zwischen Fachleuten und Laien, die neue Wertschätzung der Kreativität, die auch das alltägliche Leben verändern sollte.[35] Die studentische Revolte, so schreibt der Autor in der vorzustellenden Monographie, habe sich damals zu einer beispiellosen sozialen Krise ausgeweitet, die das Funktionieren der überkommenen sozialen Ordnung erschüttert und jeden wo auch immer gezwungen habe, sich für eine Seite zu entscheiden.[36] Es ging darum, eine soziale Ordnung, die auf einer horizontalen und vertikalen Arbeitsteilung beruhte, radikal in Frage zu stellen.

In der vorliegenden Untersuchung von Boris Gobille geht es darum, die spezifische Rolle der Schriftsteller bei der allgemeinen „prise de parole“ zu ermitteln[37]. Dabei waren die Avantgarden besonders aktiv und intervenierten als Gruppen. Ziel der Untersuchung ist es „d’explorer cette rencontre entre un ‚moment critique‘ et les avant-gardes littéraires françaises“ (8). In den gängigen Untersuchungen würden die Schriftsteller generell der Gruppe der ‚intellectuels‘ zugerechnet und die Spezifizität der Gruppe würde verkannt und ihr Engagement werde im weiten Zeithorizont der V. Republik verortet. Die Untersuchung fokussiert sich hier ausschließlich auf „la rencontre entre une crise et un champ“ (9). Der Autor geht dabei von einer Wechselwirkung zwischen Feld und Ereignis aus.[38] Wenn er sich auf die Avantgarden beschränkt, dann weil es sich hier um einen relativ kohärenten Sektor des literarischen Feldes handelt, der sich durch einen eigenen Rhythmus und die permanente Suche nach Innovation, aber auch seit dem Surrealismus durch eine intensive Beziehung zwischen literarischer und politischer Radikalität auszeichne.[39] Wenn die Thesen der Strukturalisten von der literarischen Avantgarde auch als politisch radikal eingestuft worden waren, so zwang und ermächtigte sie dieser Ansatz („les oblige et les autorise“ [16]) zur revolutionären Situation Stellung zu beziehen. Da es sich vor allem um eine „révolution symbolique“ (Michel de Certeau) handelte, waren die Schriftsteller als „spécialistes du symbolique“ (17) in allererster Linie gefordert. Gleichzeitig war eines der Losungsworte der Bewegung, es gelte die Kreativität eines jeden zu wecken („créativité généralisée“), was eine Arbeitsteilung zwischen etablierten Schriftstellern und Künstlern und ‚Laien‘ radikal in Frage stellte. Die Situation der Avantgarde ist so paradox; einerseits ist sie aufgefordert, Stellung zu beziehen, andererseits ist das ihr nur möglich, wenn sie sich von ihrem Elite-Status als ‚Autoren‘ verabschieden. Die Spannung zwischen dem Autoren-Status im bestehenden Feld und der Demokratisierung des Schöpferischen in der Krisensituation prägt die Situation. Die Ereignisse zeitigen so eine starke Wirkung auf das Feld; dieser Kontext wird aber weder als bloßer Hintergrund betrachtet, noch als unmittelbare Determinante:

Ni décor vaguement relié au sujet, ni infrastructure déterminant sans médiation l’ensemble des phénomènes, le contexte affecte les positions et les prises de position respectives des acteurs parce qu’il fait sens pour eux ou défait le sens qu’ils ont de ce qu’ils sont, de ce qu’ils font et de ce qu’ils valent aux yeux des autres. (22)

In der Untersuchung von Gobille werden ‚Ereignisse‘ chronologisch präzise situiert. Zunächst wird die Periode vom 3. bis zum 18. Mai analysiert, als sich die Vertreter der etablierten Avantgarde mit der Studentenrevolte eins wussten, dann folgte die Zeit vom 18. Mai bis Juni, als die Situation als revolutionäre wahrgenommen wurde und sich im literarischen Feld neue Formen der Intervention ausbildeten. Danach wird die kontroverse Debatte hinsichtlich einer neuen „politique de la littérature“ untersucht und schließlich die paradoxe Situation von Gruppen der Avantgarde (wie des Surrealismus), deren ‚Prophetie‘ in Erfüllung gegangen war. Die Arbeit schließt ab mit der Analyse der Langzeitfolgen von Mai 68 für die Rekonfiguration des französischen Subfeldes der Avantgarde.

Wenn Gobille sich zuerst den Studentenprotesten der ersten beiden Mai-Wochen zuwendet, dann ist er bemüht, sich in die damalige Zeitlichkeit zu versetzen und nicht einen Blick post festum auf die ‚Ereignisse‘ zu werfen. Die ersten kollektiven Solidarisierungen von Schriftstellern stammten aus den Reihen der etablierten Avantgarde, zunächst der Surrealisten und dann der ‚marxistes existentialistes‘ rund um Sartres und Beauvoirs Temps modernes, denen sich bekannte Autoren wie Marguerite Duras, Michel Leiris, Nathalie Sarraute, Claude Roy, Maurice Blanchot, Robert Antelme, Dionys Mascolo und Marice Nadeau anschlossen; der studentische Protest fand Resonanz in der anti-institutionellen Ausrichtung der Temps modernes. Der Autor rekonstruiert präzise den Werdegang der genannten Autoren, um so auch mögliche Voraussetzungen ihrer Protesthaltung zu eruieren. Das verleiht der Studie eine historische Tiefendimension jenseits des ‚Ereignisses‘. Wenn der Autor den Werdegang aller Unterzeichner des genannten Aufrufs vom 9. Mai rekonstruiert, dann geht es ihm darum, zweier Zeitlichkeiten Rechnung zu tragen, der kurzen des ‚Ereignisses‘ und der längeren des Feldes des intellektuellen Engagements seit 1945. Die meisten engagierten Schriftsteller waren geprägt durch den Widerstand während der Besatzungszeit, der darauf folgenden Nähe zur KPF, von deren Orthodoxie sie sich aber abwandten, insbesondere nach der Niederschlagung des Aufstandes von Budapest 1956.[40] Einige fanden sich auch in der Gruppe um die Zeitschrift Arguments, die einen ‚dissidenten‘ marxistischen Standpunkt vertrat und auch Texte von nicht-französische Autoren wie Adorno und Marcuse veröffentlichte. Das antikolonialistische Engagement, namentlich während des Algerienkrieges, hatte viele der genannten Autoren geprägt und später auch die Opposition gegen den Vietnamkrieg. Die Zeitschrift Arguments widersetzte sich gleichzeitig dem Nationalismus des algerischen FLN. Erstaunlicherweise kam jetzt den Temps modernes eine zentrale Rolle zu („elle apparaît comme le pivot des premières mobilisations en faveur des étudiants contestataires“, 54), obwohl die Zeitschrift von den Vertretern von Tel Quel einer überholten Avantgarde zugeordnet worden war. Dass die Politisierung des intellektuellen Feldes zu Konvergenzen von Akteuren führen konnte, die eigentlich alles trennte, wird, nach Gobille, durch die Tatsache belegt, dass Sartre den Aufruf vom 9. Mai 1968 gemeinsam mit Henri Lefebvre unterschrieb, der sich als sein Gegenspieler empfand.[41]

Es geht vor allem darum, eine Erklärung zu finden, dass die etablierte und nicht die neue emergierende Avantgarde als erste die Studentenrevolte unterstützte, Das lag einerseits daran, dass die etablierte Avantgarde, vor allem seit dem Algerienkrieg schon über ein Netzwerk der Mobilisierung verfügte und deren Instrumente (Petition, Communiqué) beherrschte, deren Wirksamkeit auf dem Bekanntheitsgrad der Unterzeichner beruhte (was bei der neuen Avantgarde noch nicht der Fall war). Auf der Basis ihres Kampfes gegen eine kommunistische Orthodoxie und für einen heterodoxen Marxismus fanden sie in der durch die Studenten initiierten kritischen Bewegung „une traduction en acte de leur propre itinéraire hétérodoxe, de leur parcours ‚hérétique’“ (59) und repräsentierten so eine politische Avantgarde.

Die ‚Ereignisse‘ hatten schon ihre Wirkung auf die symbolische Hierarchie gezeitigt, die das literarische Subfeld strukturierte. Das wurde noch deutlicher hinsichtlich der Schriftsteller, die sich im unmittelbaren Umkreis des PCF befanden. Nachdem Marchais die Studenten als Kleinbürger im Dienste der Bourgeoisie bezeichnet hatte, verlor die Partei an Kredit bei der kritischen Bewegung. Das musste Aragon erfahren, als er in der Sorbonne am 9. Mai intervenierte. Was die Perioden der Krise nach Bourdieu, aber auch nach Dobry ausmacht, das ist, dass die üblichen Differenzierungen verschwinden zu Gunsten einer Synchronisierung der Positionen.[42] Die Studenten sahen in Aragon bloß mehr den Vertreter der KP und nicht mehr den ‚großen Schriftsteller’ oder den ehemaligen Surrealisten. Dasselbe Verdikt traf die von Aragon geleitete Zeitschrift Les Lettres françaises, die am 15. Mai eine ganze Nummer dem Aufstand der Studenten gewidmet hatte. Auch das aus der Résistance hervorgegangene Comité national des écrivains (CNE) wurde mit der KP assoziiert und verlor an Ansehen[43]; Gobille spricht von „vieillissement symbolique“ (74). Die im Mai 68 gegründete Union des écrivains (UE) mit klarer politischer und gewerkschaftlicher Ausrichtung wurde als Gegenprojekt eingestuft, das der jetzigen Krise entspreche und der ‚alte‘ CNE erschien im eigentlichen Wortsinn „dépassé par les événements“ (74).

Ab dem 18. Mai nahm die Revolte eine neue Dimension an; mit dem Übergreifen des Protests auf die Arbeitswelt mit dem Generalstreik eröffnete sich ein revolutionärer Horizont; alle Formen der Autorität wurden in Frage gestellt. Die Schriftsteller konnten sich nicht mehr auf ihr Prestige berufen. Im Zusammenhang der Entsakralisierung des Autoren- und Künstlerstatus entstand am 18. Mai das Comité d’action étudiants-écrivains (CAEE). Es ging nicht mehr darum, nur die Bewegung zu unterstützen, sondern zu handeln. Die Protestbewegung verlieh nun eine neue (revolutionäre) Legitimität und nicht mehr die Intellektuellen; das erschließt sich aus der Debatte der Studenten mit Sartre in der Sorbonne. Der Autor spricht von einer „relégitimation ‚paradoxale‘ de Sartre“ (85). Sartre gelang dies, – im Unterschied zu Aragon – weil er sich schon früh mit dem studentischen Protest solidarisiert hatte und für diese sein symbolisches Kapital einbrachte; überdies teilte er die radikale Kritik an den autoritären Strukturen der KP, was von seiner Freiheitsphilosophie her konsequent war; gleichzeitig gab er seinen Status als Meisterdenker auf und wandelte sich zum bescheidenen Interviewer von Cohn-Bendit.[44] Sartre hatte den richtigen Augenblick getroffen („véritable kairos où la radicalisation est à la fois suspendue et propice“, 91), was ihm auch nach den ‚Ereignissen‘ ein „capital social révolutionnaire“ (91) verlieh, das er danach für La Cause du peuple und die Gauche Prolétarienne einsetzte.

Die eben erwähnte neue Gruppe des CAEE (mit Alain Jouffroy, J.-P. Faye, Maurice Roche, Jacques Roubaud, Pierre Guyotat) unterschied sich von den Unterzeichnern des Appells des 8. Mai durch die Generationenzugehörigkeit; sie waren nicht mehr durch die Erfahrung der Besatzungszeit geprägt, verfügten über ein geringeres symbolisches Kapital; die Gruppe wurde aber zu einem „point de convergence des attentes de radicalité des auteurs d’avant-garde“ (97). Mit der Union des écrivains (UE) trat mit den prominenten Autoren wie Butor und Nathalie Sarraute am 20. Mai eine neue Gruppe auf den Plan, die sich nicht mit dem Signieren begnügte, sondern gleich das Hôtel de Massa, den Sitz der Société des gens de lettres, besetzte. Was zunächst wie eine krisentypische ‚Synchronisierung‘ der Gruppen aussah, wurde schon bald durch den Konflikt zwischen den ‚Gemäßigten’ und den ‚Radikalen‘ bestimmt. Nun brachte sich die Gruppe von Tel Quel ein, die am Vorabend von Mai 68 die dominante Position innerhalb der neuen Avantgarde einnahm.[45] Tel Quel verurteilte die Besetzung des Hôtel de Massa als „gauchisme petit-bourgeois“, als korporatistische Aktion und erklärte, „toute révolution ne peut être que marxiste-léniniste“ (108). Drei Gruppen standen so im Konflikt: die etablierte Avantgarde des CAEE, die neue Avantgarde von Tel Quel, die aber wegen ihrer Nähe zur KP kompromittiert war und von der sich mit Jean-Pierre Faye die Gruppe um Change abgespalten hatte, die durch ihre Nähe zur Studentenrevolte eine bestimmte „légitimité révolutionnaire“ (98) gewonnen hatte. Tel Quel stellte den Textualismus als einzige revolutionäre Praxis dar und wandte sich gegen die „théories de l’expression“ und gegen die ‚Sackgasse’ des engagierten Diskurses, den Sollers als ‚bourgeois‘, moralistisch und nicht wissenschaftlich einstufte. Wenn die ‚écriture‘ und die ‚priorité du signifiant‘ als revolutionär bezeichnet wurden, dann äußerte Bernard Pingaud seine Skepsis gegenüber der plötzlichen Option der apolitische Gruppe um Sollers für die ‚Revolution‘. Deren eigentliche Ideologie, so Pingaud, sei der „refus du signifié“, d. h. die fehlende Diskussion über Inhalte. Tel Quel konnte die die Gruppe bedrohende Delegitimierung nur eindämmen, indem sie ihre prokommunistische und theoretisch-ästhetische Position überbot. Die Gruppe um Change mit Jean-Pierre Faye stand dem literarischen Formalismus nahe, grenzte sich ebenfalls vom Nouveau Roman ab, optierte jedoch für die politische Radikalität über den Anschluss an die Studentenbewegung als neuer revolutionärer Norm. Der persönliche, theoretische und politische Antagonismus zwischen den Gruppen von Sollers und Faye, die beide die dominante Position innerhalb der Avantgarde anstrebten, wurde durch die ‚Ereignisse‘ von Mai-Juni 68 verschärft und verhinderte so auch eine gemeinsame Front der Avantgarde.

Die Zeit der Krise erschütterte die überkommenen Gewissheiten und zwang die Avantgarden zu einer Reflexion über ihr Selbstverständnis und ihre Leitbegriffe. Der Kampf um die Definitionshoheit macht generell die Dynamik des literarischen Feldes aus: „C’est la lutte même qui fait l’histoire du champ; c’est par la lutte qu’il se temporalise.“[46] Im Gefolge von Foucault und Roland Barthes hatte die Avantgarde um Tel Quel nicht nur den „Tod des Autors“ verkündet, sondern auch die Begriffe von „littérature“, „œuvre“, „écrivain“ als obsolet erklärt, um für alternative Begriffe wie „écriture“, „texte“, „inconscient“, „trace“, „production“ zu optieren. Mit der nun im Kontext der Revolte vertretenen These einer schöpferischen Kraft, die jedem zukomme, sahen die ‚telqueliens‘ plötzlich ‚alt‘ aus, während die Surrealisten mit der Vorstellung, ein jeder sei schöpferisch, sich völlig im Einklang mit der Bewegung fanden. Dem musste Tel Quel entgegentreten. All das sei un-theoretisch, idealistisch („le surréalisme est un idéalisme“, 162), spontaneistisch. Der Surrealismus wurde so durch die ‚Ereignisse‘ re-legitimiert. Mit dem Leitwort „l’imagination au pouvoir“ war ihre Utopie in einem gewissen Sinne Realität geworden. Mit dem Plädoyer für eine anonyme und kollektive Schreibweise im Dienste der Revolution war der Tod des Autors nicht nur proklamiert, sondern realisiert worden. Duras’ Wort „tout le monde écrit“ (168) stand im Einklang mit der Auffassung der Studentenbewegung, aber im Gegensatz zur Sakralisierung der ‚écriture‘ durch die Gruppe Tel Quel.

Die Surrealisten hatten sich auch an der Gründung der CAEE beteiligt, die sich aber von der Union des écrivains abgrenzte, die sich um den sozialen Status des Schriftstellers kümmern wollte. Für die ersteren sollte der Schriftsteller seine Identität aufgeben und eintauchen in „une action collective révolutionnaire qui se fond dans les ‚masses‘“ (174). Die Texte sollten nicht nur ohne Autorennamen veröffentlicht, sondern auch kollektiv verfasst werden. Das Ideal, „un communisme d’écriture“ (180), wurde wieder durch ein singuläres ‚Ereignis’ generiert: „la ‚prise de parole‘ de Mai-Juin 68“ (181).

Auch die Union des écrivains versuchte ihrerseits die durch die aktuelle Situation ermöglichte Öffnung des Machbaren zu nutzen, um den Schriftsteller als ‚Arbeiter‘ zu definieren. Es ging darum, die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Schriftstellerberufes zu überdenken und die Autoren der Ausbeutung zu entreißen. Es ging darum, sich nicht mehr über eine spezifische Identität zu definieren, sondern sich innerhalb des ökonomischen Kreislaufes zu situieren, sich als Arbeiter zu verstehen, der als solcher an den Kämpfen gegen die etablierte Ordnung teilnimmt; gerade durch diese Solidarisierung sei das Engagement kein korporatistisches Vorhaben; es richte sich gegen den Mythos eines „créateur incréé“ (Pierre Bourdieu), gegen die Vorstellung des literarischen Feldes als einer „économie inversée“ (199).

Die Krise von Mai-Juni 68 hatte zu (Re-)Legitimierungen oder zur Destabilisierung der Positionen, zur Veränderung der Beziehungen der Gruppen der literarischen Avantgarde geführt. Inwieweit lösten die ‚Ereignisse‘ eine Dauerwirkung aus? Zeiten der Krise sind nach Gobille Zeiten der ‚Prophetie’[47], der radikalen Infragestellung der literarischen ‚Orthodoxie‘. Für zwei Gruppen, die am meisten im Einklang mit der kritischen Bewegung standen, bedeutete Mai-Juni die Einlösung oder Erfüllung der Prophetie und führte paradoxerweise zur Auflösung der Gruppen („le paradoxe des prophéties accomplies“, 201), einerseits für das ‚Comité d’action Etudiants-Ecrivains‘, andererseits die Surrealisten. Die erste Gruppe nennt der Autor „prophètes sans Eglise“ (209). Der in Analogie zu den Begriffen der Religionssoziologie Max Webers verwendete Begriff der Kirche scheint mir nicht ganz adäquat zu sein. Es sind die ‚Priester‘, die sich auf die Kirche beziehen, die ‚Propheten‘ eher auf eine ‚Gemeinde‘ von ‚Jüngern‘, die ihnen folgen. Vertreter des CAEE artikulierten zweifellos eine anti-institutionelle (‚prophetische‘) Kritik an der ‚Priester’-Kaste der KP, namentlich nach der Niederschlagung der parallelen Bewegung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968. Wenn einige im Prager Frühling die ‚Gefahr‘ des Liberalismus witterten, so waren andere enttäuscht, dass Castro di militärische Intervention in Prag guthieß, was zum Dissens innerhalb der Gruppe führte. Nachdem am 30. Mai die Statthalter der etablierten Ordnung – die Gaullisten – auf die Straße (der Champs-Elysées!) gegangen waren, entwickelte sich innerhalb der Gruppe eine Bürgerkriegsrhetorik mit dem Aufruf zur Verweigerung jeder ‚Collaboration‘, um so auch mit den Waffen des Wortes den Zustand der Krise aufrecht zu erhalten.[48] Die Vertreter des CAEE wie Blanchot, Duras, Mascolo verfügten alle über ein hohes symbolisches Kapital und ihre Verlautbarungen zeichneten sich durch ihre Intellektualität aus, was aber eine Breitenwirkung verhinderte; überdies verweigerten sie sich jeder Organisationsstruktur. So erstaunt es nicht, dass die Gruppe der ‚Propheten ohne Gemeinde‘ sich 1969 auflöste.

Im Gegensatz zum CAEE waren die Surrealisten eher ‚eine Gemeinde ohne Propheten’; denn André Breton war 1966 gestorben und die Nachfolge-Frage blieb noch in Schwebe.[49] Mai 68 war zunächst eine Realisierung des surrealistischen Traumes gewesen:

Les surrealistes en conçoivent le sentiment de vivre enfin, dans les faits, la résolution du conflit entre le ‚monde intérieur‘ et le ‚monde extérieur‘, une sorte de ‚cristallisation subite du mythe dans la temporalité, une manière d’épiphanie laïque‘. (249–50)

Der Mai 68 wurde zu einem Jungbrunnen für die schon in die Jahre gekommene Avantgarde-Gruppe und verlieh ihr eine neue „légitimité prophétique“ (253). Unter den Nachfolge-Generation von Breton schälte sich keine Figur heraus, die über die charismatischen und literarischen Qualitäten verfügt hätte, die die Legitimität von Breton begründet hatten. Die Cuba-Begeisterung von Jean Schuster wurde nach Castros Reaktion auf den Prager Frühling in Frage gestellt und der politische Dissens zwischen Libertären, Trotzkisten und Castristen lähmte die Gruppe. Die surrealistische Bewegung spaltete sich in Grüppchen mit geringer Sichtbarkeit und löste sich dann 1969 ganz auf.[50]

Vermochte die Entropie der ‚Ereignisse‘ den Trägheitsgrad des literarischen Feldes auf Dauer zu verändern? Im Kontext des Mai 68 hatte die Gruppe um Change gegenüber derjenigen von Tel Quel das Monopol der legitimen Avantgarde streitig gemacht und sie gewann dann im Oktober auch noch die Unterstützung der Gruppe Action poétique. Gobille spricht von einer „guerre fratricide“ (279); die beiden Gruppen standen sich sehr nahe und waren so gezwungen, sich durch theoretische Subtilitäten voneinander abzugrenzen. „Exister, c’est différer“, so brachte Pierre Bourdieu diese Logik auf den Punkt.[51] Wenn Tel Quel aufgrund des schon längeren Bestehens über einen größeren Bekanntheitsgrad verfügte, so suchte Change die Position der ‚Gegner‘ permanent zu überholen, etwa durch die Referenz auf die russischen Formalisten und den Prager Kreis.[52] Mit der Rezeption von Chomsky suchte man die nun stark valorisierte Kategorie des ‚Schöpferischen‘ dem taxonomischen Strukturalismus von Tel Quel entgegenzusetzen. Mit dem Begriff der Kreativität konnte man ästhetische, theoretische und politische Revolution vereinen. Mit dem Begriff ‚Change‘ bezog man sich gleichzeitig auf die Kategorie des ‚Formwandels‘ von Marx. Mit der Publikation des Werkes Langages totalitaires von Jean-Pierre Faye, aufgrund des symbolischen Kapitals der Mitglieder von Change, der stabilen politischen Haltung sowie der wachsenden Resonanz im Ausland fand die Gruppe immer mehr Anerkennung, so etwa in der Zeitschrift Les Lettres françaises.

Change gelang es aber auch in den 1970er Jahren nicht, sich an Stelle von Tel Quel als einziger Repräsentant der ästhetisch-theoretischen Innovation durchzusetzen; die Gruppe von Sollers verlor indes ihren Alleinvertretungsanspruch und damit auch die symbolische Dominanz innerhalb der Avantgarde. Sie sah sich gezwungen, ihren Anspruch immer von neuem zu legitimieren. Diese Suche nach einer immer radikaleren Position führte 1971 zur maoistischen Option (indes Sartre schon früher ‚compagnon de route‘ der maoistischen Gauche prolétarienne geworden war). Prominente Weggenossen wie Derrida und Ricardou entfernten sich von der Gruppe und es kam zum Bruch mit Althusser und selbst mit Aragon. In der Mitte der 1970er Jahre optierte die Gruppe für die Nouveaux Philosophes, für die Medien-Intellektuellen, die wohl viel Aufmerksamkeits-, aber wenig intellektuelles Kapital aufwiesen; es galt zu beweisen, dass man immer à jour sei. Die Gruppe löste sich 1982 auf und stellte sich mit der Zeitschrift L’Infini neu auf, zog sich mehr oder weniger auf die Literatur und mit dem Roman Femmes (1983) von Sollers auf ein als konventionell eingestuftes Strickmuster zurück.[53]

Die Krise von Mai-Juni 68 hatte nicht nur die symbolische Hierarchie am Pol der neuen Avantgarde stark modifiziert, sie führte auch zu einem professionell-gewerkschaftlichen Konzept des Schriftstellerberufs. Die Krise hatte die Schriftsteller, die in ihren Beziehungen zu den Verlegern einer individualistischen Logik ausgesetzt waren, zu einer gemeinsamen Mobilisierung geführt. Gerade die Union des écrivains fand ihren Kampf gegen die Ausbildung eines Lumpenproletariats im Literaturbetrieb als revolutionär. Im Bereich der Sozialversicherung für die Schriftsteller kämpfte die Union gegen die Lebenslüge, die den Autor als „propriétaire“ einstufte und dessen reale sozio-ökonomische und materielle Dimension verkannte. Die Union des écrivains war hier zu einem unumgänglichen Partner für die Verhandlungen über Autorenrechte und die Subventionen für Schriftsteller geworden, was sich 1977 in einem eigenen Gesetz über die Sozialversicherung der Autoren und Künstler niederschlug und gleichzeitig der Gründung eines eigenen Verbandes als Ansprechpartner, die Association pour la Gestion de la Sécurité Sociale des Auteurs (AGESSA). Bernard Pingaud hatte sich in diesem Bereich stark engagiert; er sah für die Schriftsteller einen dem Forscher ähnlichen Status vor und rief auch eine eigene Section socialiste des écrivains ins Leben. Der PS war indes gegenüber diesen Vorstellungen wenig hellhörig und der Bericht, den Jack Lang 1981 über eine neue Politik des Buches und der Lektüre in Auftrag gegeben hatte, blieb hinter den Vorschlägen, die 1968 entwickelt wurden, weit zurück. Das zeugte vom „épuisement progressif de la matrice idéologique de l’événement qui leur a donné la possibilité d’exister à une échelle inédite“(359).

In einem konzisen Epilog werden die Resultate der Untersuchung zusammengefasst. Mai-Juni 68 wird noch einmal bestimmt als ein Aufeinandertreffen eines kritischen politischen Zustandes und eines bestimmten avantgardistischen Zustandes der Literatur. Durch die politische Krise war ein parteiübergreifender Konsens, der das Regime stützte, das de Gaulle, der „libérateur de la France“ (361), verkörperte, radikal in Frage gestellt worden. Heterogene Zeitlichkeiten stießen aufeinander: die lange Zeit der etablierten Struktur des Feldes und die kurze Zeit des ‚Ereignisses‘. Die Matrix von 68 fand Resonanz in schon vorher bestehenden Positionen der etablierten Avantgarde (die Idee des kollektiven Schreibens, des unpersönlichen Gruppenbewusstseins, die Thematik des Widerstandes). Die neue symbolische Position der Gruppe von Change sei ein paradigmatischer Beleg für Veränderungen, die sich nur dem ‚Ereignis‘ verdankten („ce que l’événement fait au champ“, 362). Wenn man für Mai-Juni 68 ein „téléscopage du politique et du littéraire“ (361), feststellen konnte, so habe es sich keineswegs um eine heteronome Unterwerfung unter eine Ideologie gehandelt, sondern um eine Äquivalenz der beiden Bereiche, eine Option für die ästhetische und die politische Revolution, eine Option, die schon für die Surrealisten in der Zwischenkriegszeit richtungsweisend war. Was die Idee der Verantwortung des Schriftstellers betrifft, hatte sich das Sartresche Verständnis eines allgemeinen Kampfes für die Freiheit nach 68 strukturell verändert. Mit der Institutionalisierung der Sozialwissenschaften, der Professionalisierung des Journalistenberufes, der Ausbildung einer Expertenkultur konnten sich die Autoren nicht mehr als als Sachwalter des Universellen legitimieren, sondern definierten sich neu als „intellectuel spécifique“ (Foucault, Bourdieu) oder als „écrivain public“ (Pingaud). Jenseits aller unterschiedlichen Vorstellungen der Verantwortung teilten die Akteure doch den Glauben an die Macht des Symbolischen, an die Macht des Wortes, die sie in der von Michel de Certeau zu Recht als „révolution de la parole“ (367) gekennzeichneten 68er Bewegung eindrücklich erfahren hatten. Aber gleichzeitig hatte die Revolte die ‚Meister des Wortes‘ ihres Privilegs entkleidet, ermächtigte einen jeden, das Wort zu ergreifen und führte so zu einer „redistribution démocratique radicale“ (367). Doch ab Mitte der 1970er Jahre sei die Verbindung von theoretischer Innovation, avantgardistischem Schreiben und revolutionärer Hoffnung etwas erlahmt. Der Autor fragt sich, ob nicht – trotz gewissen Reaktionen des Wagemuts und des Widerstandes – mit der Rückkehr klassischer Schreibweisen und der „pensée anti-68“, mit der Medienhoheit einer liberal-konservativen Doxa das ‚Erbe‘ jener „années critiques“ verscherbelt worden sei, aber er fügt gleich hinzu: „pour combien de temps encore?“ (372).

Ich denke aber, dass trotz dieser etwas pessimistischen Einschätzung, die vor allem auf Entwicklungen innerhalb des literarischen Feldes gemünzt ist, sein früheres Fazit, dass durch Mai 68 die gesamte symbolische Ordnung in Frage gestellt wurde, nicht zurückgenommen wird.[54]


  1. Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner (München: Piper, 1985), 715.
  2. Nach Gobille, Le Mai 68 des écrivains, 295.
  3. Zitiert in Gobille, Le Mai 68 des écrivains, 218–9. Über den Begriff der Geschichte war der letzte Text, den Walter Benjamin im Frühjahr 1940 als eine Art Testament, wenige Monate vor seinem Freitod, verfasst hatte. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, hrsg. von Gérard Raulet (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010). Walter Benjamin übersetzte seine Thesen zur Geschichtsphilosophie selbst ins Französische. Sie sind greifbar in Walter Benjamin, Ecrits français (Paris: Gallimard, 1991).
  4. Marie-France Etchegoin und Sylvain Courage, „Les Français votent 68“, Le Nouvel Observateur, Nr. 2264, 27. März 2008.
  5. Serge July, „La dernière fois, c’était il y a quarante ans“, in: La France en 1968, hrsg. von Jean-Louis Marzorati (Paris: Editions Hoëbeke, 2007), 7.
  6. Reinhard Mohr, „Fluch und Segen der Revolte von 1968“, Neue Zürcher Zeitung, 22. Januar 2018, 8.
  7. Laurent Joffrin, „Héritage“, Libération, 19. Januar 2018; derselbe Autor betont später nicht nur die historische Bedeutung des Mai 68, sondern berichtet auch von der heutigen positiven Einschätzung der Folgen der Revolte: „Dans un sondage publié par le Nouveau Magazine littéraire […] on apprend que 79 % des personnes interrogées pensent que Mai 68 a eu des conséquences positives.“ Laurent Joffrin, „Mai réhabilité“, Libération, 1er mars 2018.
  8. Siehe dazu Joseph Jurt, „Mai 68 in Frankreich: die Infragestellung der symbolischen Ordnung. Deutungen damals, Einschätzung heute“, in 1968/2008: Revision einer kulturellen Formation, hrsg. von Isabella von Treskow und Christian von Tschilschke (Tübingen: Narr, 2008), 15–29.
  9. Serge July, „La dernière fois, c’était il y a quarante ans“, 9.
  10. Dominique Damamme, Boris Gobille, Frédérique Matonti und Bernard Pudal, Hrsg., Mai-Juin 68 (Paris: Les Editions de l’Atelier, 2008).
  11. Dominique Memmi, „Mai 68 ou la crise de la domination rapprochée“, in Damamme u. a., Hrsg., Mai-Juin 68, 35–46.
  12. Bernard Pudal, „Ordre symbolique et système scolaire dans les années 1960“, in Damamme u. a., Hrsg., Mai-Juin 68, 62–74; siehe auch Jean-Michel Chapoulie u. a., Hrsg., Sociologues et sociologies: la France des années 60 (Paris: L’Harmattan, 2005).
  13. Frédérique Matonti und Bernard Pudal, „L’UEC ou l’autonomie confisquée (1956–1968)“, in Damamme u. a., Hrsg., Mai-Juin 68, 130–43.
  14. Robert Lorenz und Frank Walter, 1964 – das Jahr, mit dem ‚68‘ begann (Bielefeld: transcript, 2014).
  15. Auch Christina von Hodenberg konnte auf der Basis von erst jetzt in Bonn entdeckten Quellen feststellen, dass in Deutschland schon eine Liberalisierungsphase zu Beginn der 1960er Jahre eingesetzt hatte. Gemäß den ausgewerteten Gesprächen hatten große Teile der Elterngeneration Verständnis für die Anliegen der 68er, vor allem hinsichtlich der autoritären Strukturen und der repressiven Sexualmoral. Die Liberalisierung habe bereits Anfang der 1960er Jahre begonnen, wobei den Müttern eine wichtige Rolle zukam, die den Töchtern ihre eigenen negativen Erfahrungen ersparen wollten. Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig: Gesellschaftsgeschichte einer Revolte (München: C. H. Beck, 2018). Siehe dazu auch die Rezension von Wolfgang Hellmich, Neue Zürcher Zeitung, 10. März 2018, 51.
  16. Zitiert wird hier Normann Birnbaum, „Deutschland im Jahre 15“, Der Spiegel, 12. August 1964, aufgeführt in Lorenz und Walter, 1964, 13. Christina von Hodenberg sieht indes in der Interpretation von 68 als Aufstand gegen die NS-Väter einen Mythos: „Die Akteure der Revolte haben sich geschickt selbst eine heroische Rolle bei der Demokratisierung der Bundesrepublik geschneidert. Der Aufstand gegen die NS-Väter ist ein Teil davon. Das stimmt so nicht, sondern ist ein literarischer Mythos […] Die Idee, deutsche Geschichte als Abfolge von politischen Generationen zu erzählen, die sich bekämpfen und ablösen, ist ein männliches, bildungsbürgerliches Modell, in dem Frauen und Nicht-Eliten nicht vorkommen. Die Revolte gegen die Naziväter war ein dramatisches Muster, das sich gut vermarkten ließ. In den Familien lief es aber anders […]. Der Konflikt mit den Vätern fand kaum statt, weil die Kinder mit den Eltern emotional verbunden waren und weil sie oft materiell von ihnen noch abhängig waren.“ („‚Der Aufstand gegen die NS-Väter ist ein literarischer Mythos‘: Über Söhne, Töchter, Rente, vermeintliche und echte 1968er-Konflikte“, Interview von Stefan Reinecke mit Christina von Hodenberg, die tageszeitung, 14. März 2018). Die Historikerin moniert auch, dass bisher die Rolle der Frauen bei der 68er Bewegung unterbelichtet war. Die Frauenbewegung habe sich schon 1968 konstituiert, sich auf das Losungswort stützend, auch das Private sei politisch. Für die französische Situation siehe Anne-Claire Rebreyend, „La révolution de la pilule“, in 68: une histoire collective 1962–1981, hrsg. von Philippe Artières und Michelle Zancarini-Fournel (Paris: La Découverte, 2008), 451–5; Florence Rochefort, „L’insurrection féministe“, in Artières und Zancarini-Fournel, Hrsg., 68, 538–46.
  17. Lorenz und Walter, 1964, 30. Noch dezidierter vertritt Wolfgang Eßbach die These, dass sich ein Reformprozess schon in den 1960er Jahren in Deutschland abgezeichnet habe: „Bereits um 1960 setzt in der Bundesrepublik ein massiver Reformprozess ein, auch in den Bereichen, die von den Achtundsechzigern für sich reklamiert wurden. Das war ganz klar das Ende der familienzentrierten traditionalistischen Gesellschaftspolitik der fünfziger Jahre. Dann die Große Strafrechtsreform mit ihrer Liberalisierung des Sexualstrafrechts, die Anerkennung abweichender Familienformen und Sexualität, die Reform des Paragraphen 175, diese allgemeine Reform der Sittlichkeit und Erziehung wurde teils erst 1969 abgeschlossen, aber ihre gesellschaftlichen Grundlagen entstanden bereits Jahre früher. Auch in der Hochschulpolitik – die Gründung des Wissenschaftsrates fiel in das Jahr 1957, und bereits dessen Empfehlungen zum Hochschulausbau von 1960 führten zu einem massiven Ausbau neuer Universitäten. Überhaupt die Demokratisierung der Bundesrepublik unter der Leitidee, dass die moderne Gesellschaft eine Gesellschaft mit Konflikten sei und keine Gemeinschaftsgesellschaft mehr.“ Wolfgang Eßbach, „Achtundsechzig war das Ende einer Reformphase“. Der Soziologe Wolfgang Eßbach im Interview, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. März 2018, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/interview-zu-1968-mit-wolfgang-essbach-15479593.html.
  18. Teresa Nentwig, „‚Ein Preis wird vergeben, und ich lehne ihn ab‘: Jean-Paul Sartre, der Philosoph der Freiheit, nimmt sich die Freiheit den Literaturpreis abzulehnen“, in Lorenz und Walter, 1964, 169–85.
  19. Antoine Compagnon, „Pourquoi 1966?“, Fabula LHT, n° 11, décembre 2011 (http://www.fabula.org/lht/index.php?=id1033, konsultiert am 30. November 2017). In derselben Nummer unter dem Titel 1966: annus mirabilis finden sich auch die Gastvorträge, die im Rahmen dieses Zyklus am Collège de France gehalten wurden. Antoine Compagnon hielt in der Folge am 1. Februar 2018 als Auftakt des Stuttgarter Gedenkjubiläums der ‚Ereignisse‘ des Mai 68 bei einer Veranstaltung des Frankreich Schwerpunktes des IZKT der Universität Stuttgart und des Institut français Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem dortigen Literaturhaus einen Vortrag zu genau diesem Thema: „‚1968, ou tout s’est joué en 1966‘ – war das wahre 68 eigentlich schon 66?“ Universität Stuttgart, Deutsch-Französische Wechselbeziehungen. Wintersemester 2017/18, Broschüre. (Stuttgart: Universität, 2017), 10.
  20. Compagnon, „Pourquoi 1966?“
  21. Compagnon, „Pourquoi 1966?“
  22. „Sartre, qui a eu soixante ans en 1965, l’année de son prix Nobel refusé et de la publication des Mots ». Sartre lehnte den Nobelpreis indes schon im Herbst 1964 ab, siehe die schon erwähnte Arbeit von Teresa Nentwig, „‚Ein Preis wird vergeben, und ich lehne ihn ab‘“.
  23. Compagnon, „Pourquoi 1966“
  24. Compagnon, „Pourquoi 1966“
  25. Universität Stuttgart, Deutsch-Französische Wechselbeziehungen 10.
  26. Zu den polemischen Interpretationen ist zweifellos diejenige des Historikers Götz Aly zu zählen, der damals selber mitmachte und die Bewegung von 68 in einem Buch mit dem unzweideutigen Titel Unser Kampf mit der Bewegung der jungen Nationalsozialisten im Jahre 1933 verglich – vor allem wegen des untoleranten Stils, der Stoßrichtung des Widerstands gegen das ‚System‘. Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, (Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008); siehe dazu Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth, „Keinerlei Ähnlichkeit: der Parallelismus von 1933 und 1968. Ein Binsenirrtum! Eine Erwiderung an Götz Alys Essay ‚Die Väter der 68er‘“, Frankfurter Rundschau, 9. Februar 2008. Heute ruft die AfD zum Kampf gegen das „versiffte links-grüne Achtundsechziger-Deutschland“ auf. Es scheint mir aber eben so unstatthaft zu sein, wenn aufgrund von formalen (und nicht inhaltlichen) Analogien die AfD-Polemik mit derjenigen der Revoltierenden von Mai 68 verglichen wird, so wie das etwa Jürgen Kaube versucht, wenn er schreibt, die AfD- Polemik komme von Leuten, „die gar nicht merken, wie viel sie in ihrer eigenen Lebensführung jenen Protesten verdanken: vom Familienrecht über die Sexualmoral bis zur Gewöhnung an die öffentliche Dauerentrüstung, die sie praktizieren. Das unablässige Moralisieren, das den andern kompromisslos kommt, weil es sich um die bösen Eliten handele, die sich gegen das Land verschworen haben, gehörte zur rhetorischen Grundausstattung von 1968“! Jürgen Kaube, „Die Zeiten konnten nicht finster genug sein: fünfzig Jahre nach 1968“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2018. In Frankreich berief sich Nicolas Sarkozy im Wahlkampf 2007 auch auf linke Denker wie Jaurès und Léon Blum. Wovon er sich aber ganz entschieden distanzierte, das war von Mai 68. Dieses Erbe, das in seinen Augen für den Zerfall vieler Werte verantwortlich sei, wollte er „liquidieren“. Der Prozess gegen Mai 68 bildet weiterhin einen ideologischen Sockel einer neokonservativen Rechten von Patrick Buisson, Henri Guaino bis zu Laurent Wauqiez. Siehe dazu auch Serge Audier, La pensée anti-68 (Paris: La Découverte, 2008).
  27. Siehe dazu Sonya Faure, Cécile Daumas, „1968: il y a un Mai“, Libération, 19. Januar 2018.
  28. Zitiert von Faure und Daumas, „1968: il y a un Mai“.
  29. Gobille, Le Mai 68 des écrivains. Bei den vorgängigen Einzelstudien sind vor allem zu erwähnen Boris Gobille, „Les mobilisations de l’avant-garde littéraire française en mai 1968: capital politique, capital littéraire et conjoncture de crise“, Actes de la recherche en sciences sociales 158 (Juni 2005): 31–53; „Literarisches Feld und politische Krise: Mobilisierung französischer Schriftsteller im Mai 68 und Verzeitlichungslogiken des Feldes“, Berliner Journal für Soziologie 14 (2004): 173–85; „Les idées de Mai 68“, in La vie intellectuelle en France, hrsg. von Christophe Charle und Laurent Jeanpierre, Bd. II: De 1914 à nos jours (Paris: Seuil, 2016), 663–8. Boris Gobille hatte schon 2003 an der Pariser EHESS eine thèse zum Thema vorgelegt: „Crise politique et incertitude: régimes de problématisation et logiques de mobilisations des écrivains en mai 68“.
  30. Siehe Gobille, Le Mai 68 des écrivains, 373.
  31. Pierre Bourdieu, Méditations pascaliennes (Paris: Seuil, 1997), 256–9. Das Auseinanderdriften der Erwartungen und der realen Chancen innerhalb des Reproduktionssystems über das Bildungswesens war für Bourdieu einer der Gründe der Krise, die Mai 68 auslöste. Bourdieu spricht von einem eine ganze Altersklasse bestimmenden „décalage structural entre les aspirations statuaires – inscrites dans des positions et des titres qui, en l’état antérieur du système, offraient réellement les chances correspondantes – et les chances effectivement assurées, au moment considéré, par ces titres et ces positions“, Pierre Bourdieu, Homo academicus (Paris: Les Editions de Minuit, 1984), 213.
  32. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art: genèse et structure du champ littéraire (Paris: Seuil, 1992), 75–249.
  33. Michel Dobry, Sociologie des crises politiques: la dynamique des mobilisations multisectorielles (Paris: Presses de la Fondation Nationale des Sciences Politiques, 1986).
  34. Pierre Bourdieu, Homo academicus (Pris: Les Editions de Minuit, 1984), 236–7. Nach Bourdieu folgt indes den Momenten der politischen Krise meist wieder eine Periode der Reproduktion der sozialen Ordnung: „tandis que […] toutes les formes de prophétie critique tendent à ouvrir l’avenir, l’orthodoxie, discours de maintien de l’ordre symbolique, travaille au contraire, comme on le voit bien dans les périodes de restauration qui suivent les crises, à arrêter en quelque sorte le temps, ou l’histoire, en refermant l’éventail des possibles pour tenter de faire croire que les jeux sont faits à tout jamais et en annonçant, par un performatif déguisé en constat, la fin de l’histoire, inversion rassurante de toutes les utopies millénaristes.“ Bourdieu, Méditations pascaliennes, 278.
  35. Boris Gobille, „La vocation d’hétérodoxie“, in Damamme u. a., Hrsg., Mai-Juin 68, 274–94.
  36. Siehe dazu Pierre Bourdieu: „En obligeant à organiser toutes les prises de position par référence à la position occupée dans un champ déterminé et à elle seule, la crise tend à substituer la division en camps clairement distincts (selon la logique de guerre civile) à la distribution continue entre deux pôles et à toutes les appartenances multiples […].“ Pierre Bourdieu, Homo academicus, 235.
  37. Die ‚prise de parole‘ wird nicht nur von Michel de Certeau, sondern auch von andern Zeitzeugen als herausragendes Charakteristikum von Mai 68 erfahren, so auch von Annie Ernaux, die damals 28 Jahre alt, aber nicht mehr Studentin und noch nicht Schriftstellerin war. So schreibt sie im Rückblick: „On voyait et on entendait ce qu’on n’avait jamais vu ni entendu depuis qu’on était né, ni cru possible. Des lieux dont l’usage obéissait à des règles admises depuis toujours, où n’étaient autorisées à pénétrer que des populations déterminées, universités, usines, théâtres, s’ouvraient à n’importe qui et l’on y faisait tout, sauf ce pour quoi ils avaient été prévus, discuter, manger, dormir, s’aimer. Il n’y avait plus d’espaces institutionnels et sacrés. Les profs et les élèves, les jeunes et les vieux, les cadres et les ouvriers se parlaient, les hiérarchies et les distances se dissolvaient miraculeusement dans la parole […] Si c’était la révolution, elle était là, éclatante […].“ Annie Ernaux, Les années (Paris: Gallimard, 2008) 103–4.
  38. „Ce que l’événement fait au champ et ce que le champ fait à l’événement“ (10).
  39. Die anderen Sektoren des literarischen Feldes, namentlich der dominante Pol reagierten natürlich auch auf die ‚Ereignisse‘. Diese Reaktionen behandelte Gobille in seiner thèse sowie in dem im Berliner Journal für Soziologie veröffentlichten Artikel. Der Pol der Großproduktion wurde, so seine Analyse, von der revolutionären Reproblematisierung der schöpferischen Praxis wenig berührt. Die Schriftsteller dieses Pols identifizierten sich mit der herrschenden Ordnung und mit den bestehenden Institutionen und konnten in der Studentenrevolte nur eine Manifestation der Anarchie sehen. Gobille, „Literarisches Feld und politische Krise“, 180.
  40. Interessant war der Fall von Maurice Blanchot, der in den 1930er Jahren für Blätter der extremen Rechten geschrieben hatte, sich für Pétain aussprach, sich dann aber Paulhans Konzept einer „littérature pure“ näherte; „son passé inavouable, ou plutôt son refoulement, gouverne souterrainement son refus de la politique entre la Libération et 1958, alors même que le champ intellectuel se politise […]“ (40–1).
  41. Siehe dazu auch Pierre Bourdieu: „ce qu’on appelle la ‚politisation‘ désigne le processus au terme duquel le principe de vision et de division politique tend à l’emporter sur tous les autres, rapprochant des gens fort éloignés selon les jugements et les choix d’existence antérieure“, Bourdieu, Homo academicus, 243.
  42. „La synchronisation a pour effet principal de contraindre à introduire dans les prises de position une cohérence relative qui n’est pas exigée en temps ordinaire, c’est-à-dire lorsque l’autonomie relative des espaces et des temps sociaux rend possible d’occuper successivement des positions distinctes et de produire des prises de position différentes ou divergentes, mais conforme en chaque cas aux exigences de la position occupée“, Bourdieu, Homo academicus, 234.
  43. Zur zentralen Wirkung des CNE während der Besatzungszeit als Gegen-Akademie siehe Gisèle Sapiro, La guerre des écrivains 1940–1953 (Paris: Fayard, 1999), 467–558.
  44. Für Pierre Bourdieu zeigt sich hier die Situation der objektiven Diskontinuität der Krisensituation „que manifestent brutalement à l’imagination certaines scènes exemplaires, bien faites pour attester que ‚tout est possible‘ dans un monde renversé – professeurs réduits à écouter les étudiants, Cohn-Bendit interviewé par Sartre […]“, Bourdieu, Homo academicus, 237.
  45. Hinsichtlich Tel Quel konnte sich der Autor auch auf die ausgezeichnete Monographie stützen von Niilo Kauppi, Tel Quel: la constitution sociale d’une avant-garde (Helsinki: Societas Scientiarum Fennica, 1991).
  46. Bourdieu, Les règles de l’art, 223.
  47. Der Begriff der ‚Prophetie‘ müsste noch näher erklärt werden. Es geht dabei nicht um Zukunftsvoraussagen. Es handelt sich um eine Analogie, die Bourdieu von der Religionssoziologe von Max Weber abgeleitet hat. Die Struktur des religiösen Feldes wird nach dieser Vorgabe bestimmt durch die Relation der Professionellen der Heilsgüter: durch die Opposition der Priester und Propheten, die sich auf einen systematischen Diskurs beziehen, gegen den Zauberer, der nur durch die Geste wirkt oder durch die Opposition der Priester, die ihre Autorität von der Institution herleiten, gegen die Propheten und Zauberer, die sich auf ein persönliches Charisma oder eine persönliche Berufung beziehen. Es ist also eine bestimmte Struktur, die dieses Feld prägt, die aber nicht als statisch gesehen wird, sondern als ein Ergebnis einer permanenten Auseinandersetzung. Siehe dazu Pierre Bourdieu, „Une interprétation de la sociologie religieuse de Max Weber“, Archives européennes de sociologie XII (1971): 3–21; Pierre Bourdieu, „Genèse et structure du champ religieux“, Revue française de sociologie XII (1971): 295–334). Die funktionale Opposition namentlich zwischen ‚Propheten‘ und ‚Priestern‘ bestimmt nach Bourdieu die Struktur der meisten Felder. Es handelt sich dabei immer nur um Funktionen. (Siehe dazu auch Joseph Jurt, „Die Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu“, LiThes: Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 1 (Dezember 2008): 5–11, http://lithes.uni-graz.at/lithes.html. Die Gefahr besteht immer wieder, dass die funktionalistisch bestimmten Konzepte als realistische gesehen und missverstanden werden. So scheint auch Jacques Derrida in seiner Kritik der Sartre-Interpretation von Anna Boschetti, Sartre et ‚Les Temps Modernes‘ (1985) das Konzept des ‚Prophetischen‘ zu sehr inhaltlich zu sehen und dem Verfahren der kontrollierten Analogie zu misstrauen. Jacques Derrida, „‚Il courait mort‘: Salut, salut. Notes pour un courrier aux Temps Modernes, Les Temps Modernes 587 (1996): 4–52. Mir scheint es darum angebracht, bei einem funktionalen Gebrauch die Begriffe ‚Prophet‘ und ‚Priester‘ in Anführungszeichen zu setzen.
  48. Gobille zitiert in diesem Zusammenhang eine Aussage von Michel Surya zu Blanchots Haltung: „Si Blanchot ‚est certainement l’un de ceux que 68 a le mieux inspirés‘, ‚il n’en reste pas moins qu’il écrit comme il avait, avant, écrit‘, mais ‚à l’envers‘: en déplaçant la rhétorique terroriste, ou tout au moins le terrorisme rhétorique, de l’extrême droite à l’extrême gauche“ (221).
  49. Das Kapitel über die Surrealisten war schon früher in deutscher Übersetzung erschienen: Boris Gobille, „Die verlorenen Söhne André Bretons: die französische surrealistische Bewegung auf dem Prüfstand des Mai 68 oder das Paradox der eingetretenen Prophetien“, in Zwischen den Fronten: Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, hrsg. von Ingrid Gilcher-Holtey (Berlin: Akademie Verlag, 2006), 333–61. Die Übertragung besorgten die Bourdieu-Übersetzer Achim Russer und Bernd Schwibs. Im Januar hatte Jean Schuster seine Cuba-Begeisterung in einem Text unter dem Titel „Flamboyant de Cuba, arbre de la liberté“ (262) zum Ausdruck gebracht; das wird so übersetzt „Durch Kuba lodernd, Baum der Freiheit“ (350). ‚Flamboyant‘ ist aber nicht ein Verbalpartizip, sondern der Name eines Baumes in der Karibik, dessen feuerrote Blütenpracht an ein loderndes Feuer gemahnt.
  50. Alain Joubert, einer der damaligen Akteure der surrealistischen Bewegung kam unlängst in einem Artikel „Sous les pavés, l’utopie“ auf Mai 68 zurück und betonte, dass sich die Surrealisten gerade wegen der utopischen Dimension im Einklang mit der Revolte wussten: „Le rêve nourrit et se nourrit de l’imaginaire qui, selon André Breton, ‚tend à devenir réel‘. Or, Mai-68 a mis en marche la forme la plus élaborée de l’utopie: l’utopie critique.“ Joubert attestiert auch Gobille, das Ende der surrealistischen Gruppe ‚objektiv‘ dargestellt zu haben, um dann noch auf die Gegnerschaft von Tel Quel zurückzukommen: „Il [Gobille] note enfin que ‚le langage profond de mai‘ pourrait bien être celui du surréalisme, raison pour laquelle Philippe Sollers tenait absolument à ‚liquider‘ celui-ci par tous les moyens de la mauvaise foi rhétorique, son arme favorite.“ Alain Joubert, „Sous les pavés, l’utopie“, En attendant Nadeau 50 (28. Februar – 13. März 2018), https://www.en-attendant-nadeau.fr/2018/02/27/paves-utopie-peuchmaurd-gobille.
  51. Bourdieu, Les règles de l’art, 223.
  52. Die Polemik zwischen Faye und Sollers erreichte einen gewissen Höhepunkt mit dem Artikel „Le ‚camarade‘ Mallarmé“, den Faye am 12. September 1969 in der Humanité veröffentlichte: hier ging es um die politische Relevanz theoretischer Positionen. Faye griff die Deutungshoheit über Mallarmé an, die nach ihm Tel Quel beanspruchte. Er verglich diese Vereinnahmung („confiscation“) mit derjenigen des Symbolisten Moréas, der die Niederschlagung der Pariser Commune befürwortet hatte, dann auch mit derjenigen des deutschen Dichters Stefan George, der den Salon von Mallarmé frequentiert hatte, und Mallarmés Konzeption dem Kontext eines hierarchisch und autoritär organisierten Deutschland anpasste. Schließlich habe Derrida in einem Vortrag vor der Gruppe von Tel Quel Mallarmés Dichtung in die Heideggersche Problematik der Deconstruction eingeordnet. Hier konnte Faye auch auf seine eigene Kompetenz zurückgreifen, hatte er doch schon 1961 Heideggers Rektoratsrede von 1933 übersetzt und später den hier inhärenten „nihilisme nazi“ (302) des Freiburger Philosophen angegriffen, ein Bereich mit dem er aufgrund seiner Forschungen über die „langages totalitaires“ in Kontakt gekommen war. In diesem Zusammenhang gilt es nur einen kleinen orthographischen Fehler zu berichtigen. Gobille schreibt permanent (auch im Index) Stefan Georg, statt George.
  53. Zu den permanent wechselnden politischen Positionen von Sollers siehe auch den polemischen Kommentar von Pierre Bourdieu, „Sollers tel quel“, Liber, 21–22, März 1995, 40 und zum Kolloquium „l’écrivain et l’intellectuel: un dialogue français“ vom Oktober 1993, bei dem Sollers den Eröffnungsvortrag hielt Joseph Jurt, „Le colloque parisien“, Liber, 18, Juni 1994, 16–8. Zur Haltung von Roland Barthes zu Tel Quel und seiner Chinareise mit der Gruppe siehe Tiphaine Samoyault, Roland Barthes: biographie (Paris: Seuil, 2015), 481–508.
  54. Zu den Langzeitfolgen siehe auch Ueli Mäder, 68 – was bleibt? (Zürich: Rotpunktverlag, 2018).

 

Ill.: Graffiti von 1968.

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