Giulia Agostini, „Durchgründet vom Nichts: Überlegungen zu Jean Bollacks Mallarmé-Betrachtungen“, Vorabdruck der Rezension für Romanische Studien
Vorabdruck der Rezension
Giulia Agostini (Heidelberg)
Jean Bollack, Mallarmé, hrsg., aus dem Französ. übers. und Nachw. von Tim Trzaskalik, Fröhliche Wissenschaft 63 (Berlin: Matthes & Seitz, 2015), 144 S.
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Die Gewissheit, zu der Mallarmé während seiner Krisennächte in Tournon ab 1865 gelangt, betrifft – neben der Abwesenheit Gottes – die Abwesenheit eines verpflichtenden Bezugssystems, das Werte und Abhängigkeiten festlegt. Alles bleibt also zu tun, und vor dem Hintergrund eines Nichts neu zu tun, alle Worte werden von dieser Warte aus gezeichnet sein, sie werden auf nichts anderes mehr verweisen als auf das, was ihnen neu zu konstruieren gelingt. (145–6)
Bei diesem Zitat auf dem Buchrücken des kleinen Bändchens von Jean Bollack (1923 in Straßburg geb. – 2012 in Paris gest.) mit dem ebenso knappen wie gewichtigen Titel Mallarmé handelt es sich um eine der sogenannten „X-Noten“ Jean Bollacks, einer Fülle von Texten unterschiedlichster Art, an denen er bis zum Sommer 2011 arbeitete und die 2013 (bereits posthum) als politisch und literarisch motivierte, von „enzyklopädischem“ Geist inspirierte „persönliche Summa“ unter dem bewusst an die Form eines „Tagebuchs“ erinnernden Titel Au jour le jour erschienen sind.[1] Unter diesen disparaten Notizen im Zeichen des „X“ – teils mit Datum versehen, immer nummeriert und nach thematischen Gesichtspunkten verschiedenen, alphabetisch angeordneten Lemmata zugewiesen, die von „Allemagne“ zu „Vatican“, von „Homère“ zu „Celan“, sowie von „herméneutique“ zu „religion“ reichen und dabei auch Begriffe wie den des Nicht-Verstehens[2] einschließen, dem für Bollacks in der Tradition Schleiermachers stehende herméneutique oder philologie critique zentrale methodologische Bedeutung zukommt,[3] – finden sich auch eine Reihe von Texten zu Mallarmé.
Nun weckt allein der Name Jean Bollack, Begründer des „Centre de recherche philologique“ 1967 in Lille große Erwartungen. Und so wie dieser Name kritische Philologie oder Hermeneutik[4] und die ihm eigene Praxis der insistierenden Lektüre evoziert,[5] gesellen sich ihm augenblicklich die bedeutendsten Namen der Philosophie und Literatur der griechischen Antike (etwa Empedokles, Heraklit, Epikur, Sophokles und Euripides), wie auch der Paul Celans und Peter Szondis (dessen Celan-Studien und Vorlesungen aus dem Nachlass er bei Suhrkamp herausgab) hinzu.[6] Gesteigert werden diese Erwartungen, wenn sein Name nun wie hier nicht allein die Verbindung mit dem von ihm selbst gewählten, dunklen ,Pseudo‘-Anonymat des „X“ (des, so Bollack, „rätselhaftesten Buchstabens des Alphabets“[7]) eingeht, sondern sich zudem mit dem Namen Mallarmés (1842–1898), eines der größten und wirkmächtigsten Dichters der europäischen Geistesgeschichte verbindet, der nicht nur als ,schwierig‘ gilt, sondern sich seit jeher dem Vorwurf der ,Dunkelheit‘ ausgesetzt sieht. Mallarmé verlangt also in ganz besonderem Maße nach einer lecture insistante – hatte der Dichter im vollen Bewusstsein der Notwendigkeit von ,etwas Verborgenem in unserem Inneren‘[8] (dem wiederum allein der nächtlich-dunkle Tintentropfen und gerade nicht der aus ,irgendeinem nachtlosen Tintenfass‘[9] geschöpfte Tropfen zu entsprechen vermochte) seinen Kritikern doch selbst entgegnet: „Je préfère, devant l’agression, rétorquer que des contemporains ne savent pas lire – | Sinon dans le journal“.[10] Damit distanzierte er sich sowohl von einer Kritik, die sich als unfähig erwies, über die „vaine couche suffisante d’intelligibilité[11] eines Textes hinauszugehen, als auch von einer vermeintlichen ,Literatur‘, die ihre Aufgabe darin erblickte, die Wirklichkeit im Gestus ,unerschütterlicher Vordergründigkeit‘ auszustellen, sie mit solch einer Beschreibung letztlich aber ,verschleierte‘ und als bloße ,Banalität‘ verdoppelte, ja sie nur als ,blinde‘, ,gipsene‘ Kopie ,wiederauferstehen‘ ließ.[12] Mallarmé hingegen galt es, diesem vordergründig-blinden Unternehmen ohne jedwede literarische Bedeutung etwas gänzlich Anderes, ein unbestimmtes, ja letztlich unbestimmbares und damit einzig bleibendes, hintergründiges Tun entgegenzusetzen – „Tout l’acte disponible, à jamais et seulement, reste de saisir les rapports, entre temps, rares ou multipliés“[13] –, verkürzt gesagt: immer aufs Neue Bedeutung zu erschließen, allererst Sinndimensionen zu eröffnen.[14] Gerade Bollacks lecture insistante zielt auf die Durchdringung dessen, was Mallarmé die ,eitle hinreichende Schicht von Verständlichkeit‘ nennt (die ,auch er sich zu berücksichtigen verpflichtet‘, aber eben ,nicht ausschließlich‘, und wofür bei Mallarmé die Syntax ,garantiert‘):[15] „[…] c’est au prix d’une recherche insistante, transcendant l’immédiateté de la lettre, que l’on accède à une profondeur“.[16] Diesem methodologischen Aspekt der ,Transzendenz des Unmittelbaren‘, die erst den ,Zugang‘ zu einer ,Tiefe‘ ermöglicht, entspricht der gedankliche Angelpunkt auch seiner Mallarmé-Lektüren, wie ihn die eingangs zitierte „X-Note“ zum Ausdruck bringt: Vor dem Hintergrund absoluter Kontingenz und Grundlosigkeit, „vor dem Hintergrund eines Nichts“, so Bollack, bleibt „alles zu tun, und neu zu tun“, „alle Worte werden von dieser Warte aus gezeichnet sein, sie werden auf nichts anderes mehr verweisen als auf das, was ihnen neu zu konstruieren gelingt.“ (146) Dabei verbindet sich die paradoxe Idee eines „fond d’un néant“ als eines ,grundlosen Grundes‘ mit der Vorstellung der vollkommenen ,Neuheit‘ der Mallarméʼschen Dichtung – muss sie doch ihren ,Ungrund‘ gleichsam beständig selbst erschaffen – und damit ihrer bis zum heutigen Tag verkannten ,Radikalität‘ – denn, so wieder Bollack, „Mallarmé ist scharf, schärfer, als man ihn liest, radikaler“ (19). Diese Radikalität ist im Wortsinne zu verstehen: Mallarmés stete Ergründung des Wesens des Grundes, die man vielleicht auch seine „exploration du néant“ nennen könnte, um hier mit einer dem Werk Celans geltenden Wendung Jean Bollacks zu sprechen,[17] erscheint als ein Grundzug des Mallarméʼschen Schaffens. Damit ist es auch Bollack – und dies verbindet ihn mit zahlreichen Lesern des 20. Jahrhunderts: es sei etwa an Derrida, Kristeva und Sollers erinnert[18] – um die ,Revolution‘ in der Dichtung Mallarmés zu tun. Und auch diese zentrale Vorstellung von der Revolution, der die Bataille (oder vielmehr Marx und Nietzsche) entlehnte subversive, d. h. in der Tiefe, im Untergrund tätige Figur des „Maulwurfs“ korrespondiert, ist ganz wörtlich (als ,Umwälzung‘) zu verstehen, wie insbesondere Philippe Sollers mit Blick auf Mallarmés Denken betont hat, ohne diesen Gedanken näher zu erläutern: „Ce n’est […] pas trahir ni forcer la pensée de Mallarmé si l’on affirme qu’il n’a finalement manifesté qu’une seule pensée, […] pensée formelle : celle de la révolution, dans son sens le plus littéral.“[19] Die Mallarmésche Revolution ist damit also zunächst im weiten Sinne als eine ,Bewegung‘ zu verstehen, was sie den anderen wesentlichen ,Bewegungen‘ des Mallarméʼschen Werkes wie etwa der (es versteht sich: ebenfalls im Wortsinne verstandenen) der „religion“ und der „prose“ annähert.[20]
Doch was genau zeichnet diesen Mallarmé aus der Feder Jean Bollacks aus, der zum einen an Mallarmés berühmte Entdeckung des Nichts und zum Anderen seine auf diesem Nichts gründende (und d. h. eigentlich seine bewusst grundlos gründende) Revolution der Dichtung anknüpft? Der von Tim Trzaskalik herausgegebene und mit einem reichen Nachwort[21] versehene Band versammelt sämtliche, bisher nur verstreut erschienene Arbeiten Bollacks zu Mallarmé, die mit Ausnahme des ersten Kapitels („Die Dichtung und die Religion. Zu ,Toast funèbre‘“), das bereits 2006 in einer ersten Fassung auf Deutsch veröffentlicht wurde, und des zweiten Kapitels („Zwischen zwei Sprachen, zwei Künsten. ,Prose (pour des Esseintes)‘“), das Bollack eigens für den vorliegenden Band verfasst hat, bereits auf Französisch erschienen sind. Somit stellt dieser Band nicht nur die (ebenfalls von Tim Trzaskalik geleistete) Übersetzung eines bereits existenten französischen Bandes dar; vielmehr kommt ihm das Verdienst zu, Jean Bollacks Schriften zu Mallarmé einschließlich seiner „X-Noten“ zu diesem Dichter überhaupt erst in ihrer Gesamtheit zugänglich zu machen. Bollacks zentrale Lektüren befassen sich über die beiden bereits genannten Kapitel zu „Toast funèbre“ und „Prose“ hinaus im dritten Kapitel („Vom Hinauswachsen der Dichtung“) mit dem nicht minder berühmten Sonett „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui…“. Auf das vierte Kapitel, das dem sogenannten ,Triptychon‘, den Sonetten „Tout Orgueil fume-t-il du soir…“ („Eine Konsolidierung“), „Surgi de la croupe…“ („Der Sylphe“) und „Une dentelle s’abolit…“ („Bett gegen Bett – Liebe und Kunst“) gilt, folgen schließlich die Notizen zu Mallarmé im Zeichen des „X“. Diese „X-Noten“ reichen von Mallarmé mit Celan oder Valéry verbindenden Leseeindrücken (etwa 139 und 143–4), mehr oder weniger scharfen Kommentaren zu anderen Mallarmé-Kommentatoren, die den Ansatz einer Rezeptions- und Interpretationsgeschichte in sich bergen (etwa 135 ff.), [22] und der Betrachtung einiger kurzer Auszüge aus Mallarmés Briefen (etwa 142) bis zur feinsinnigen, spekulativ konzentrierten Lektüre des in die Mallarméʼschen Poésies nicht aufgenommenen, doch poetologisch in hohem Maße bedeutsamen Sonetts „Toute l’âme résumée…“ (146–150). Die Vielfalt und das Gewicht der von Bollack betrachteten Mallarméʼschen Texte verspricht also ein beachtliches Panorama zu bieten. Gleichwohl bleibt Bollack in seiner Auseinandersetzung mit Mallarmé etwas schuldig: nicht immer handelt es sich nämlich bei diesen Schriften um seiner eigenen Vorstellung vom ,insistierenden Lesen‘ gemäße Lektüren. Denn wo diese Lektüre zunächst von einer ,unbekannten Bedeutung‘ („sens inconnu“) ausgeht, um von einer wesentlichen „incompréhension méthodique“ über eine „interrogation“ schließlich zur „justification d’une compréhension“ zu gelangen,[23] scheint eben die ,Rechtfertigung‘ bisweilen auszubleiben. Doch selbst wenn es seinen Mallarmé-Lektüren angesichts der Komplexität und ,Dunkelheit‘ Mallarmés auch nicht immer gelingen mag, dessen Dichtung zu ,erhellen‘, was doch gerade der Anspruch der Bollackschen lecture insistante ist –
Il y a une catégorie rhétorique qui s’appelle l’obscurité, obscuritas. C’est celle dont nous parlons. Non pas ce qui est obscur parce qu’insondable, comme le disent les prêtres. La meilleure garantie d’arriver au fond, c’est d’admettre une obscurité déchiffrable, qui explicite le problème, et c’est ça, la lecture insistante. La catégorie de l’obscurité est très intéressante : ce n’est pas ce qui est obscur, sombre, c’est ce qui s’obscurcit pour être clarifié, ce qui donne à ce que nous appelons énigme une portée reconnue par tous les créateurs.[24] –
so bergen sie bemerkenswerte Einsichten. Und das eigentlich Bemerkenswerte ist das spekulative (wenn spekulativ gemäß Bollacks eigenem Verständnis die „Strenge eines Denkens meint“, 122), ja das intuitive Moment seines Lesens. Zweifellos geht die Intuition für Bollack selbst mit der Interpretation gleichsam einher, erkennt er doch die ,Subjektivität‘ eines jeden interpretatorischen Verfahrens als eine Notwendigkeit von geradezu ,fataler‘ Bedeutung an: „le problème de la compréhension se pose fatalement. Les auteurs […] s’engagent: ,Voici comment j’ai lu.‘“[25] Und vor dem Hintergrund der Hermeneutik Schleiermachers drängt sich nun mit der schon erwähnten Idee des Nicht-Verstehens sogleich auch die Schleiermacherʼsche Vorstellung der Divination im Innern seiner Hermeneutik auf: Divination meint jenes Moment, das der Sprache vorgängig und damit unzugänglich ist – woher die Verbindung zwischen dem „Divinatorischen“, d. h. dem „Erraten“ und den Kindern als „ursprünglich[en] Erfinder[n]“ rührt,[26] und weshalb auch die Seele als „ahndendes Wesen“ erscheint,[27] ja der Mensch gemäß seiner Deutungsnatur „im Versuch, einen Gedanken auszusprechen“ eigentlich ein „mantische[r] Infan[t]“ ist, wie der Philosoph Wolfram Hogrebe schreibt[28] – und somit erst die sprachliche Voraussetzung des Verstehens begründet. Denn „[s]elbst wenn [Schleiermacher] korrekt die Sprachgebundenheit des Verstehens betont“, so nochmals Hogrebe zu dessen „bleibende[r] Einsicht“, „ist es doch ebenso korrekt für ihn keine Frage, dass wir die Energien unseres Verstehens aus vorsprachlichen Zonen beziehen, in die wir uns divinatorisch begeben. […] Mantik geht der Hermeneutik vorher.“[29] Dementsprechend ist auch die daraus entstehende Gewissheit des Verstehens „ganz andere[r] Art […] – mehr divinatorisch“,[30] und diese ,divinatorische Gewissheit‘ entzieht sich der „Form einer Demonstration“ in der „Darstellung“,[31] ja sie widerstrebt eben jener ,Rechtfertigung‘, die Bollack für die Vollendung einer lecture insistante verlangt.[32] Diese mantische ,Anleihe‘ der Divination, die, soviel wir sehen, im Zusammenhang mit Bollacks Praxis bisher nicht erwähnt wurde, bedeutet womöglich ihren ,blinden Fleck‘ und ist gerade in Mallarméʼscher Angelegenheit von einigem Interesse – ist doch bei Mallarmé gerade von ,Divination‘ die Rede, wenn es um das Verstehen als Bezwingung des Zufalls[33] geht, ein Verstehen, das sowohl das Lesen als auch das Schreiben als kontingente, doch dabei keineswegs beliebige, komplementäre Praktiken auszeichnet: „Instituer une relation entre les images exacte, et que s’en détache un tiers aspect fusible et clair présenté à la divination“.[34] Ebenso wie diese Bezwingung des Zufalls durch das Schreiben nach einer „puissance absolue“ wie der einer Metapher verlangt (die Mallarmé zudem mit einer Majuskel hervorhebt),[35] präziser: eben nach der Stiftung einer ,exakten Beziehung zwischen den Bildern‘, so dass sich wie aus ihrer Verschmelzung ein neuer, ,augenblicklich aufleuchtender‘ und ,zum ahnenden Verstehen drängender Aspekt‘ löse, so ist auch das Lesen nur deshalb ein ,ahnendes Verstehen‘ zu nennen, weil es selbst auf einer Bewegung steten Verschwindens gründet.
Dieses ,divinatorische‘ Moment der Hermeneutik Schleiermachers – und der Mallarméʼschen Konzeption des Verstehens[36] – zeigt sich etwa in Bollacks Lektüre des berühmten Sonetts „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui…“, das er entgegen der geläufigen Tendenz der Auslegung nicht als ein Bekenntnis morbider Starre, geistigen Unvermögens und steriler Gefangenschaft begreift, sondern gerade umgekehrt – und dies zu recht – im Zeichen der Freiheit als eine „geglückte Fixierung“ liest, „die sich dem Nichts verdankt“ (88). Denn, so Bollack,
[m]it dem methodischen und willentlichen Rückzug des Dichters in die Fixierung wird die ästhetische Komposition zur virtuell absoluten Bedingung eines Akts der Befreiung. Es gibt keine andere Transzendenz; es gibt sie nirgendwo anders als in der Kunst. (86)
So lässt dieser indifferente „Gegen-Raum“ (97) des Exils, den das Gedicht im Zeichen der Negativität und der Freiheit eröffnet, den „Cygne“, den „Sternenvogel“ als „Gespenst“ – gleich einem Fabelwesen, das nicht existiert und doch ist[37] – aufscheinen. Ebenso lässt auch der nur „ihm eigene Raum“ (121), das die Leere fassende, ja der Leere in ihrer Negativität erst Gestalt verleihende Gefäß des Sonetts „Surgi de la croupe et du bond…“ ein anderes jener Mallarméʼschen Fabelwesen (den „Sylphen“) und auch die „abwesende Blume“ der Dichtung gleichsam unsichtbar sichtbar werden, wie Bollack in neuerlicher ,Divination‘ (und entgegen der geläufigen Mallarméʼschen ,doxa‘) erahnen lässt:
[…] auch hier ist […] darauf zu beharren, dass die abwesende Blume gerade im und durch das Versiechen zur Blüte gelangt. Die Geburt ereignet sich an dieser von allen anderen unterschiedenen Stätte, abgetrennt von jeglicher Wahrnehmung. In seinem ihm eigenen Raum bringt das Wort die Sache, die von ihm ausgesprochen wird, aufs Neue hervor; oder es erschafft sie. (121)
Immer geht es Bollack also um ein „andernorts“ (150), einen „anderen Raum“ (148), wie auch seine dichte „X-Note“ zu „Toute l’âme résumée…“ zeigt. Diesen Raum, den man in der Folge Blanchots nur espace littéraire wird nennen können, zeichnet das gleiche Moment der Unbestimmtheit aus, das bereits die erwähnten Lektüren Bollacks erahnen ließen – geht es doch gemäß dem Schlussvers gerade hier um „ta vague littérature“, jene littérature, die bereits ihre eigene „rature“ (so im vorletzten Vers), ihre eigene Streichung in sich trägt (149) und deren (polyseme) ,vage‘ Natur wiederum eine vielfältige „Öffnung“ (von der Bewegung der ,Woge‘ über die ,unbestimmte Leere‘ [von vacuus] bis zum ,Vagabundieren‘ [von vagari]) einschließt. Denn dieser andere Mallarméʼsche Raum der Dichtung wirft immer von Neuem die Frage nach dem Wesen des Grundes auf, jenes indifferenten Ungrundes,[38] auf dem Differenz und Bedeutung allererst aufscheinen, also die ,Wirklichkeit‘ in ihrer Undurchdringlichkeit erst ‚durchlässig‘ wird und „Sinn [sich] manifestiert“ (150), wobei in Bollacks eigener Rede von der im Gedicht sich vollziehenden „Teilung“ (148) die „Ur-Teilung“ Hölderlins nachklingt.[39] Als eine solche hintergründige Distinktionsdimension (Hogrebe) ist der andere Raum der Dichtung – mit dem Vers Celans gesprochen – „durchgründet vom Nichts“[40], ja mehr noch nicht einmal vom Nichts. Denn die Dichtung Mallarmés bezeugt keine negative Erfahrung, sondern vielmehr die stete Erfahrung grundlos gründender Negativität, ja die Erfahrung der Freiheit in gleichsam wissender ,Komplizenschaft‘ mit derselben.
Als wahrer ,Mantiker‘ liest Bollack dann auch die „Spuren“, die der „Flug der Vögel in Celans [und Mallarmés] Gedichten hinterlässt“ (139), und deutet dabei den ,Flug‘ des Textes selbst, den das Sonett „Toute l’âme résumée…“ vollzieht („A la lèvre vole-t-il“), als ,Zeugnis‘ eines ,Gelingens‘ und einer ,Vollendung‘. Worin könnten nun ,Gelingen‘ und ,Vollendung‘ bestehen, wenn nicht in der Transparenz des Gedichts, das seinen eigenen – ebenso transparenten – inexistenten Hintergrund als Distinktionsdimension erscheinen lässt, wie es der „transparent glacier des vols qui n’ont pas fui“ aus dem bereits genannten Sonett des Cygne zu bedeuten scheint? Denn für Bollack steht außer Frage, dass es sich bei diesen ,Flügen, die nicht flohen‘ um die „Manifestation eines Gelingens“ („[…] sie sind eben geflogen, ohne zu fliehen“ (88)) handelt, auch wenn die Idee der Transparenz, wie wir sie hier verstehen, nicht zur Sprache kommt, gleichsam implizit bleibt. Zeigt nicht gerade der unter der Oberfläche des undurchdringlichen ,Reifs‘ („sous le givre“) verborgene transparent-hintergründige ,Gletscher der Flüge, die nicht flohen‘, d.h. zeigen nicht die unter der (sichtbaren und undurchdringlichen) Oberfläche verborgenen schattenhaft-transparenten Spuren dieser Vogelflüge, die diese im Hintergrund stets begleiten (d. h. sie nicht ,fliehen‘) und sie damit erst zur Existenz führen, dass es gilt, die Dichtung selbst ‚durchlässig‘ zu machen? Dies legt auch Peter Handke, der Dichter unserer Zeit, nahe, wenn er schreibt, dass der „über die Wand zuckende Schatten eines Vogels […] den Text begleiten und durchlässig machen [sollte]“.[41] Als Leser Celans weiß Bollack um die Bedeutung eines solchen Schattens im Hintergrund. Denn auf ihm gründet ,Wahrheit‘: „,Dit vrai qui dit les ombres‘, et donc aussi: Qui dit vrai, dit les ombres. L’ombre est comme une contrepartie obligée […], mode d’être des mots, incluant le non-être, qui a ses lois.“[42] Sogleich fragt sich, was genau diese durch den Schatten bedingte ,Wahrheit des Wortes‘ bedeuten mag. Weist diese ,Wahrheit‘ nicht erneut auf die von Bollack an keiner Stelle berührte, doch (wenn wir ihn hier nicht missverstehen) immer schon implizit mitgegebene Durchlässigkeit des Wortes selbst, derer der „Schattenentblößte“[43] gerade entbehrt? Darauf mag Bollacks Betrachtung des Auszugs eines Briefs deuten, den Mallarmé im Jahr 1866, also während der Zeit seiner Entdeckung des Nichts, an Théodore Aubanel schrieb. Obgleich sich Bollack diesem dichten zukunftsweisenden, geradezu Mallarmés Poetik vorwegnehmenden Passus mit feinfühliger Aufmerksamkeit zuwendet, wobei er in Mallarmés „Weben der Worte“ (142) seine Überwindung der Beliebigkeit und des Zufalls erkennt, entgehen ihm gerade die dort (erstmals) erscheinende Metapher der „Spitze“, die sich bei Mallarmé später zur Metapher par excellence des dichterischen Gebildes (man denke hier nur an den „pli de sombre dentelle“ aus seiner Schrift „L’action restreinte“[44]), ja der Metapher der Literatur in ihrer diaphanen Hintergründigkeit verdichtet, wie auch der ebenfalls schon dort angelegte Aspekt der Divination: „[…] je tisserai […] de merveilleuses dentelles, que je devine […]“[45]. Und so mag es nun nicht überraschen, dass Bollack völlig zu verkennen scheint, welche Funktion der Mallarméʼschen Metapher – gegenüber Celans Zurückweisung derselben – überhaupt zukommt, und dies, obwohl er in eben diesem Celanʼschen Zusammenhang gleichsam ,intuitiv‘ von der ,absoluten Autonomie der Wörter‘ bei Mallarmé spricht.[46] Somit scheint aber auch ihre Ab-solutheit im Wortsinne (d. h. insofern sie von der Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit losgelöst ist, sich also beständig im Zwischen bewegt und als sprachliches ,Zeichen‘ der Indifferenz fungiert), wie das Ab-solute der Mallarméʼschen Dichtung überhaupt (und damit der ihrem Wesen mit Notwendigkeit eigene Aspekt der Divination), ja scheint das Absolute, das Mallarmés unübertroffene Revolution zuerst und immer schon auch bedeutet, noch unverstanden.
Womöglich liegt das Interessante an Jean Bollacks Mallarmé-Betrachtungen gerade in diesem ihrem divinatorischen Moment, ja vielleicht weist die uneingestandene Mantik im Innern seines hermeneutischen Unternehmens bisweilen gar auf das „Finden des einen, ihrem Gegenstand gerechten Angelpunktes“, auf das, was – mit Peter Handke gesprochen – „auch ,Vision‘ heißen d[arf]“.[47]
Ill.: Edouard Manet, Stéphane Mallarmé