Joseph Jurt, „Die Dialektik von Internationalismus und Nationalismus der historischen Avantgarde“, Rez. von Thomas Hunkeler, Paris et le nationalisme des avant-gardes 1909–1924, Vorabdruck der Rezension für Romanische Studien.
Vorabdruck
Joseph Jurt
Thomas Hunkeler, Paris et le nationalisme des avant-gardes 1909–1924 (Paris: Hermann, 2018), 260 S.
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[Les écrivains les plus novateurs sont très souvent] des bourgeois dévoyés ou déclassés qui possèdent toutes les propriétés des dominants moins une, parents pauvres des grandes dynasties bourgeoises, aristocrates ruinés ou en déclin, étrangers ou membres de minorités stigmatisées comme les juifs.[1]
Diese Feststellung von Pierre Bourdieu gilt zweifellos in Frankreich für die Gruppe der Symbolisten. Diese kamen teils aus dem Adel, dem Groß- oder dem mittleren Bürgertum; viele stammten indes aus dem Ausland oder waren Söhne von Einwanderern: Moréas war Grieche, Vielé-Griffin und Stuart Merill hatten einen amerikanischen Hintergrund, Maeterlinck, Rodenbach und Verhaeren waren Belgier; der Vater von E. Bourges war Wallone. Gustave Kahn, Marcel Schwob und Bernard Lazare stammten aus einer jüdischen Familie. Bei der Gruppe der Symbolisten konnte man so erstmals das Phänomen einer Internationalisierung des literarischen Feldes feststellen. Paris war zur Hauptstadt einer universellen ‚République des lettres et des arts‘ geworden.[2] Den Autoren, die nicht zu den ‚Einheimischen‘ zählten, ging das, was Bourdieu „sens du classement“ etwas ab und sie optierten für die nun risikoreich gewordene Gattung der Poesie zu einer Zeit als der Roman mit der psychologischen Variante von Barrès und Bourget zur dominanten Gattung des Feldes geworden war.[3]
Blaise Wilfert-Portal untersuchte die genannte Periode der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht so sehr hinsichtlich der Herkunft der Autoren, sondern in Bezug auf die Rezeption der fremden Literaturen. In seinen Augen kann man von einer neuen intellektuellen Geopolitik sprechen, die durch die Pole Nationalismus und Kosmopolitismus geprägt wurde. Seit den 1880er Jahren wurde der russische Roman rezipiert und vor allem im Avantgarde-Theater spielten skandinavische Autoren wie Ibsen und Strindberg eine große Rolle. Von den nationalistischen Autoren im Umkreis der Action française wurde dieser kulturelle Import aus den „brumes du Nord“ jedoch als Verrat am Nationalgeist eingestuft. Von einer generellen ‚Invasion der Ausländer‘ konnte aber keineswegs die Rede sein. 1890 stammten nur 6 Prozent der Studenten aus dem Ausland; ausländische Dozenten konnten nur für Vorträge eingeladen werden; nur wenige nicht-französische Opern wurden aufgeführt. Die Anzahl der aus fremden Sprachen übersetzten Werke war insgesamt sehr niedrig, zwischen 1886 und 1905 waren es kaum mehr als 7 Prozent. Die Kartographie der Herkunftsländer der Übersetzungen hatte sich allerdings sehr stark verändert. Während 1875 die Übersetzungen aus dem Englischen und dem Deutschen drei Viertel der Gesamtzahl ausmachten, so stammte 1905 ein Viertel der Übersetzungen aus dem Russischen, Polnischen und Norwegischen und nur mehr ein Fünftel aus den lateinischen Sprachen: „L’image littéraire du monde accessible en français avait donc changé radicalement.“[4]
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Die poetische Avantgarde des 20. Jahrhunderts wies ähnliche Charakteristika auf wie die Symbolisten vor der Jahrhundertwende: Apollinaire, Cendrars und Marinetti waren Nicht-Franzosen in Paris; Max Jacob war Jude. Dank ihres exzentrischen sozialen Status wagten sie sich in den riskanten Bereich der avantgardistischen Poesie vor, während sich ‚Einheimische‘ die die Strukturen des literarischen Feldes durchschauten, sich eher der sicheren Gattung des Romans zuwandten, so Gide oder die Unanimisten um Jules Romains.
Die literarische Gruppe rund um die 1909 gegründete Nouvelle Revue Française (NRF), mit André Gide als spiritus rector, definierte ihr poetologisches Programm als classicisme moderne, der sich vom nationalistischen und reaktionären Klassikverständnis der Action française absetzte und klassische Formen überall dort ortete, wo man sich auf Regeln berief. Das neue Klassikverständnis sollte nach Gide nicht rückwärts, sondern vorwärts gewandt sein. Darum habe es auch nichts mit einer neo-royalistischen Ideologie zu tun. Die Vertreter der NRF, die aus dem Milieu des Bildungsbürgertums stammten, setzten sich aber auch vom revolutionären Gestus der Avantgarde um Apollinaire und Cendrars ab, selbst wenn sie deren Kreativität schätzten. Mit dem Plädoyer für die Gattungen Roman und Theater kam die NRF auch ihrem (bildungsbürgerlichen) Publikum entgegen. Die Gruppe bestand ähnlich wie die der Unanimisten ausschließlich aus Franzosen, die mit einem ähnlichen sozialen und ökonomischen Kapital ausgestattet waren wie ihr Publikum. Das Interesse für die nicht-französische Literatur hielt sich in Grenzen und die Gründer der Zeitschrift verstanden sich nicht so sehr als Vermittler wie die Vertreter der experimentellen Poesie, die mehrsprachig waren, meist aus dem Ausland stammten oder sich dort aufgehalten hatten.[5]
Die internationale Resonanz ermöglichte es einzelnen literarischen Gruppen Aufmerksamkeit zu gewinnen, selbst wenn ihre Ausgangsposition im eigenen Feld relativ schwach war. Diese grenzüberschreitende Anerkennung verdankte sich auch dem Fortschreiten einer kulturellen Globalisierung, welche die wichtigen Städte in Europa – London, Berlin, Budapest, Moskau, München, St. Peterburg, Wien und Mailand –, die für moderne Entwicklungen offen waren, immer mehr vernetzten:
Pour renforcer leur position, ces cercles ont intérêt à établir des rapports d’échange et de collaboration avec leurs homologues étrangers, notamment ceux qui parviennent à se faire remarquer à Paris.[6]
Den eigentlich Wandel im Bereich der postsymbolistischen Avantgarde schuf indes eine nicht-französische Gruppe: der Futurismus, den Filippo Tommaso Marinetti im Februar 1909 mit einem Aufsehen erregenden Manifest im Figaro lancierte. Er verfügte, so Anna Boschetti, gegenüber anderen Ausländern in Paris über einen bedeutenden Vorteil. Er schwamm wie ein Fisch im französischen Wasser:
Parfaitement bilingue, il a la même formation et les mêmes repères que les poètes français de son âge. Jusqu’en 1909, il écrit tous ses textes en français et il réussit à s’intégrer très tôt dans le milieu de l’avant-garde poétique parisienne.[7]
Er hatte um die Jahrhundertwende an der in Mailand erscheinenden Anthologie Revue mitgearbeitet, die sich als „Organe de la Renaissance latine“ definierte, die die Zusammenarbeit der ‚lateinischen‘ Kulturen fördern wollte (auch gegen die deutsche Kultur). Zweifellos hatte er eine Besprechung des Werkes des katalanischen Autors Gabriel Alomar „El futurisme“ (1908) gelesen und war von diesem – vagen – Konzept begeistert, das die Faszination des technischen wissenschaftlichen Fortschrittes zu übersetzen schien. Er erinnerte sich auch an die große Resonanz, die das von Jean Moréas im Figaro veröffentlichte „Manifeste du symbolisme“ gefunden hatte und publizierte darum sein „Manifeste du futurisme“, das vorher in italienischen Blättern erschienen war, am 20. Februar 1909 auf der Titelseite derselben Zeitung. Er verfügte, aus einem reichen Haus stammend, über unbegrenzte Mittel und betrieb eine sehr intensive Werbung für seine Idee, ein kommerzielles Verfahren, über das die französische Elite die Nase rümpfte[8]. Die Radikalität des Manifestes, das voll auf die Zukunft setzte, war auch eine Antwort auf die Vergangenheitsfixierung der – polyzentrischen – italienischen Kultur, in der man nicht die lebhaften literarischen Debatten von Paris kannte.
In den Augen von Anna Boschetti hat man in der Literaturgeschichtsschreibung bisher die internationale Wirkung des Futurismus verkannt, weil man sich nur an die Verbreitung des Labels hielt. Der Futurismus habe überall Bewegungen hervorgerufen, die mit der straff organisierten Bewegung von Marinetti in Rivalität traten.[9]
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Thomas Hunkeler Hunkeler betont indes, dass die evidente nationale, ja nationalistische Dimension der historischen Avantgarden in der Forschung weitgehend ausgeblendet werden. Diesem Aspekt galt seine Forschungsarbeit seit mehreren Jahren. Er veröffentlichte dazu schon einen Sammelband – Paradoxes de l’avant-garde[10] – und legt nun eine wichtige Monographie unter dem Titel Paris et le nationalisme des avant-gardes[11] vor. So schreibt er schon in der Einleitung, kaum ein Vertreter der Avantgarde sei so viel gereist wie Marinetti und habe über ein Beziehungsnetz in ganz Europa verfügt. Trotz alledem: „les tendances nationalistes du futurisme italien ne font pas de doute“ (13)[12]. Vertreter der Avantgarde hätten sich ohne zu Zögern auch als nationalistisch, chauvinistisch, imperialistisch bezeichnet. Es geht aber hier keineswegs darum zu einer traditionellen national-kulturellen Perspektive zurückzukehren, sondern nationalistischen Motivationen innerhalb einer transnationalen Geschichte der historischen Avantgarden zu verorten. Die Monographie versteht sich so als „une invitation à revisiter [les avant-gardes] à nouveaux frais“ (22).
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Ein erstes Kapitel gilt dem Futurismus und dem Kubismus in Paris. Die Ausstellung der italienischen futuristischen Maler – 1912 in der Galerie Bernheim-Jeune – sollte zu einem Ereignis werden, das über Italien hinauswies, das bisher der eigentliche Resonanzraum der Futuristen war. Im Ausstellungskatalog verschwand die Referenz auf Italien zugunsten des Bezugs zu Frankreich, dessen Avantgarde allerdings noch in einem starken Traditionsbezug verharre: „Nous futuristes, qui nous sentons à l’avant-garde du monde, nous nous proclamons détachés du passé“ (30). In einer späteren Erklärung gehen sie noch weiter: „Nous avons pris la tête du mouvement de la peinture européenne“ (30). In den Augen von Marinetti war die Provokation eine fruchtbare Strategie, um internationale Anerkennung zu finden.[13] Apollinaire versuchte indes den Futurismus auf seine italienische Komponente zu reduzieren. In seinen Augen konnte die Innovation nur von Frankreich herkommen. Mit den Folgeausstellungen in London, Berlin und Brüssel schafften die Futuristen den internationalen Durchbruch. Thomas Hunkeler unterstreicht in diesem Kontext die Ambivalenz der Haltung von Apollinaire zum Futurismus; dieser hatte 1913 das „Manifeste de l’anti-tradition futuriste“ veröffentlicht, das Marinetti als Konversion des Autors der Alcools zu seiner Bewegung interpretierte. Die Haltung von André Salmon wie die seines Freundes Apollinaire zeuge indes vom Festhalten des Primates einer von Frankreich ausgehenden Innovation:
La critique d’art française de cette époque […] veut que le bon artiste étranger soit celui qui se nourrit de tradition française et qui la nourrit en retour. (42)[14]
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Apollinaire beteiligte sich entscheidend bei der Lancierung des Kubismus, was wohl auch eine Reaktion auf den Erfolg der Ausstellung der Futuristen war.[15] Der Begriff war aber zunächst keineswegs mit der künstlerischen Innovation, die von Picasso und Braque ausging, in Verbindung gebracht worden; die beiden Künstler mochten den Begriff nicht, der 1908 von Matisse mit einer negativen Konnotation ins Gespräch gebracht worden war. Apollinaire bedauerte, dass die Bezeichnung im Salon d’automne von 1910 für platte Imitationen von Picasso verwendet wurde.[16] Doch nach 1912 setzte sich die Bezeichnung als generelles Label für moderne Kunst immer mehr durch, auf das aber Picasso und Braque nicht angewiesen waren, die mit Kahnweiler Exklusiv-Verträge abgeschlossen hatten.[17] 1912 hatten Albert Gleizes und Jean Metzinger die Schrift Du Cubisme veröffentlicht und Maurice Raynal Qu’est-ce que le cubisme? Im Jahr darauf brachte der Verleger von Apollinaire, von dieser Woge angeregt, dessen Méditations esthétiques unter dem Obertitel Les peintres cubistes heraus. Gleizes und Metzinger hatten den Kubismus zunächst innerhalb der französischen Tradition vorortet, verhärteten dann aber die Zielrichtung in einem anti-italienischen Sinn, was sich in der nun folgenden Debatte noch ausweitete: „Ce qui apparaît ici à nouveau, c’est l’intime conviction, partagée par la plupart des critiques français, que le futurisme devait en réalité être considéré comme une simple variante, voire une pâle copie italienne de la tradition picturale française.“ (44) Gleichzeitig wurde nun die nationale Komponente in den Debatten, aber auch in der malerischen Praxis der Salon-Kubisten eingebracht.[18] Während Futuristen wie Carlo Carra, Luigi Russolo oder Boccioni die Modernität des urbanen Lebens übersetzt hatten, kehrten die französischen Kubisten nicht nur Le Fauconnier und Metzinger, sondern auch Léger und Delaunay zu traditionellen Themen wie Kathedralen, Land- und Jagdleben zurück.[19]
Thomas Hunkeler zeigt sich zu Recht erstaunt, dass sich nicht nur intellektuelle Kreise der Rechten wie Barrès oder die Action française so nationalistisch äußerten, sondern auch Kritiker und Künstler, die sich der Avantgarde nahe fühlten.[20] Er analysiert dann in diesem Kontext die Positionen, die die Zeitschrift Montjoie, „organe de l’impérialisme artistique français“ vertrat, die – paradoxerweise – von einem seit 1901 in Paris lebenden Italiener, Ricciotto Canudo, ins Leben gerufen wurde, der sich ausgehend vom Traum einer „confrérie méditerranéenne“ zu einem resoluten Verteidiger der französischen Kunst gewandelt hatte. Die Idee eines (französischen) kulturellen Imperialismus wurde von mehreren Autoren im Umkreis der Zeitschrift vertreten, die sich an Nietzsche und Darwin orientierten. Nach dem Krieg versuchte Papini mit der Zeitschrift La Vraie Italie einen Dialog zwischen den beiden „nations sœurs“ zu stiften, der aber letztlich scheiterte:
Pour Papini […] le vrai problème […] réside dans l’incapacité dans laquelle seraient selon lui les Français à admettre d’autres perspectives que la leur, ainsi que dans la propension concomitante à vouloir universaliser leurs particularités. (63)
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Mit der ‚Nationalisierung‘ der Salon-Kubisten bot sich Paris in den 1910er Jahren nicht mehr Zentrum für eine internationale Avantgarde an; das polyzentrische Deutschland eröffnete neue Perspektiven. Als Hervarth Walden, der Initiator der Zeitschrift Der Sturm, begann, auch internationale Ausstellungen zu organisieren, wurde Berlin zur „scène cosmopolite pour la peinture novatrice qui à Paris n’avait pas trouvé grâce aux yeux des publics“[21]. Delaunay, Chagall und Severini konnten in der Galerie der Zeitschrift ausstellen. Kandinski wurde seinerseits zum Sprecher der künstlerischen Innovation in München; er schlug Franz Marc ein gemeinsames Projekt vor mit Ausstellungen und einem Almanach, der für die moderne Kunst repräsentativ sein sollte: Der Blaue Reiter. Eine erste Ausstellung fand 1911 in München und auch in anderen deutschen Städten statt mit Bildern expressionistischer und kubistischer Ausrichtung. Der Almanach entwarf eine neue Sicht der zeitgenössischen Kunst: „une vision interdisciplinaire, convaincue de la nécessité d’un dialogue entre les arts, réhabilitant l’Art populaire et l’art enfantin, pétrie de poésie. L’approche politique, que l’on ne négligeait pas pour autant, menait à un internationalisme engagé.“[22]
Das zweite Kapitel der Untersuchung von Thomas Hunkeler gilt nun dem deutschen Expressionismus.[23] Die berühmte Futuristen-Ausstellung machte 1912 auch in der Galerie Der Sturm Halt (nach derjenigen des Blauen Reiter). Die Resonanz war aber zunächst nicht überwältigend; das Echo wuchs indes, als Marinetti seinen bekannten Werbemethoden einsetzte. Mit der Lancierung einer nationalen und einer internationalen Ausstellung situierte sich die Galerie von Hervart Walden an der Spitze der Gegenwartskunst und forderte so auch die Berliner Sezession heraus. Die Zeitschrift Der Sturm nahm die Futuristen gegenüber den Attacken der Sezession in Schutz und veröffentlichte mehrere futuristische Manifeste und Texte in deutscher Übersetzung.[24] Waldens Organ und seine Galerie wurden so zu einem „lieu important de ralliement de l’avant-garde européenne“ (69). Die Ausstellung der Futuristen verstand sich auch als eine moderne Alternative zum französischen Weg, wie das auch ein Artikel von Döblin in der Zeitschrift Waldens belegte, der sich dann aber von der destruktiven Monomanie Marinettis distanzierte[25]. Die Reaktion von Franz Marc und von Klee hinsichtlich der futuristischen Bilder war sehr positiv.
Waldens entschiedene Stellungnahme für die Futuristen verstand sich auch als Antwort auf das Pamphlet des deutschen Landschaftsmalers Carl Vinnen (Ein Protest deutscher Künstler, von mehr als 110 deutschen Künstlern, Professoren und Journalisten unterzeichnet), der eine Invasion der post-impressionistischen französischen Kunst in Deutschland beklagte. Thomas Hunkeler situiert diese Reaktion im Kontext des erstarkenden deutschen Nationalismus, die sich in der Marokkokrise manifestierte. Wilhelm II. reagierte besonders empfindlich gegenüber der französischen aktuellen Kunst, die er als eine Untergrabung deutscher nationaler Werte einstufte. Vinnen griff auf die üblichen Klischees wie desjenigen der französischen Oberflächlichkeit zurück. Noch im Juni 1911 antworteten Franz Marc[26] und Kandiski mit ihrer Antwort Im Kampf um die Kunst, welche auch die Maler um die Berliner Sezession, aber ebenfalls junge Künstler unterzeichneten. Man unterstrich die Widersprüche von Vinnen „qui semblait mettre l’appartenance nationale des artistes au-dessus des critères proprement artistiques“ (72). Die Internationale Ausstellung des Sonderbundes in Köln mit über 600 Werken und einer starken Präsenz französischer Kunst verstand sich auch als eine Antwort auf Vinnens Pamphlet. Béatrice Joyeux-Prunel betont indes, dass im Vorwort des Katalogs van Gogh, vom Ankauf dessen Gemäldes Mohnfeld durch die Kunsthalle von Bremen die Polemik ausging, als „der große Holländer“ bezeichnet wurde, „den wir mit Stolz zu unserer Rasse rechnen“[27] ,von dem hier mehr als hundert Bilder zu sehen seien. Mit dem Begriff des „Expressionismus“ – deutschen Ursprungs – bezeichnete man im Katalog die Vollendung einer Kunstentwicklung, die vom Naturalismus und vom Impressionismus ausgegangen sei, ohne dass man den französischen Beitrag erwähnte: „Le nouveau mot d’expressionnisme proposait une version allemande de la modernité.“[28]
Der Kunstwissenschaftler Wilhelm Worringer hatte als einer der ersten den Begriff des Expressionismus in die Diskussion eingebracht. Er rechnete die Abstraktion der neuen Malerei einer „geheimen Gotik“ zu, eine These die die Vertreter der deutschen Avantgarde einsichtig fanden. Das erkläre auch das Interesse, das die Bewegung Der Blaue Reiter und die Zeitschrift Der Sturm für Robert Delaunay empfanden, der in München ein Bild des Chores von Saint-Séverin, die Bilder La ville I (1910) und Tour Eiffel (1911) ausstellte: „réinvention d’un gothique résolument moderne“ (89). Béatrice Joyeux-Prunel zählt indes das Eiffelturmbild und das Bild La ville de Paris wie Hommage à Blériot zu den Bildern, die noch die Ausstrahlung Frankreichs zum Ausdruck bringen sollten. Die abstrakteren Bilder stellte Delaunay indes in München und in Berlin aus, so etwa Formes circulaires, „aboutissement de ses expérimentations sur la couleur, la lumière et les formes“. [29] Joyeux-Prunel vertritt die These, dass Walden nun von Berlin aus „une idée de l’art cosmopolite, interdisciplinaire et pluraliste“, kurz une neue Ästhetik lanciert habe und dass nun Paris seinen Vorrang der Moderne verlor:
On peut soutenir, à rebours du discours canonique sur l’histoire des avant-gardes, que Paris perdit après 1912 sa place de capitale mondiale des avant-gardes.[30]
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Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verstärkte sich die Nationalisierung des Expressionismus. Franz Marc, der als Nietzsche-Leser von einem geistigen und nationalen Neuanfang „im Fegefeuer des Krieges“ träumte, meldete sich als Kriegsfreiwilliger. In seinen Briefen spricht er von einem künftigen offenen Deutschland, das europäische Dimensionen annehmen sollte. „Das geheime Europa“, das wohl an den (stereotypen) Gedanken einer „geheimen Gotik“ anknüpfte, sollte den Chauvinismus überwinden, den die Ideologen des Hinterlandes anheizten. Eine Vorstellung, die er aber, bevor er im März 1916 bei Verdun fiel, durch die Kriegsrealität enttäuscht sah. Wenn Walden in seinem Nachruf auf Marc auf einen nationalistischen Tonfall verzichtete und seinen Artikel die Kunst weiterhin nicht über nationale Kriterien bestimmte, so stimmte er in seiner Zeitschrift im Januar 1916 das „das Hohelied des Preußentums“ an. Erst seit kurzem weiß man, dass Walden von der Zentralstelle für Auslandsdienst für seine Propagandatätigkeit alimentiert wurde, die in den neutralen Staaten effizient war, weil der Leiter der Zeitschrift über ein internationales Image verfügte. Thomas Hunkeler kommt auch hier zu einer ausgewogenen Einschätzung:
[…] à l’époque, nationalisme et internationalisme pouvaient sans trop de problèmes s’accomoder ; er […] dans les faits, ils allaient souvent de pair, non seulement en Allemagne, mais dans toute l’Europe […] Etre à l’avant-garde, pour [Walden et Marc] signifiait s’ouvrir sur le monde, mais pour y défendre l’art de leur pays. (106)
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Thomas Hunkeler beschränkt sich aber keineswegs auf die Avantgarden in Frankreich und Deutschland, sondern widmet weitere Kapitel der russischen und der englischen Avantgarde und belegt damit nicht nur einen transnationalen komparatistischen Ansatz, sondern gleichzeitig auch die Internationalität der modernen Avantgarde-Bewegungen. Der Abschnitt über die russische Avantgarde wird durch den Untertitel „de la xenomanie au russocentrisme“ (107) definiert. Festgestellt wird für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine Spannung zwischen einem chauvinistischen Patriotismus und einer Tendenz zur Öffnung hin zu den fortschrittlichen Ländern Westeuropas. 1912 entstand mit der Gruppe ‚Hyleïa‘ eine der ersten Bewegungen, die man als russischen Futurismus bezeichnen wird. Den Kubismus, den Gleizes und Le Fauconnier auf französische Wurzeln zurückführten, könne man, so die Künstlerin Natalia Gontscharova, mit der gleichen Berechtigung auf frühe russische „primitivistische“ Kunstformen begründen. Der russische literarische Futurismus betonte viel weniger den Bruch mit der Vergangenheit als Marinettis Gruppe.[31] Das neue Selbstbewusstsein der Gruppe um Gontscharova und Larionov („Salut à toi, magnifique Orient!“, 127) schloss jedoch Kontakte mit der Avantgarde von Berlin und Paris nicht aus. Als Marinetti mit seinen Primatsansprüchen im Januar 1914 Moskau besuchte, wurde er von den russischen Futuristen, die ihre Eigenständigkeit betonten, keineswegs mit offenen Armen empfangen. Nach Thomas Hunkeler galt es im Kontext des internationalen künstlerischen Konkurrenzkampfes vor allem darum, die Unterschiede herauszustreichen:
Si la polémique qu’ils entretiennent à cette occasion avec le futurisme italien est particulièrement violente, c’est aussi parce que les motivations des deux futurismes étaient, au fond, assez similaires. (134)[32]
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Die Entwicklung der englischen Avantgarden belegt nach Béatrice Joyeux-Prunel, ähnlich wie diejenige Russlands, das Anwachsen der internen Rivalitäten der einzelnen Gruppen, die sich wegen der Infragestellung des französischen Vorrang durch die italienischen Futuristen in einer Krise befanden. Die symbolische Gewalt, die vom französischen Modell ausging, mit dem sich eine sehr elitäre Elite identifizierte, löste in England eine ebenso heftige anti-französische Reaktion aus[33]. Auch diesem Aspekt widmet Thomas Hunkeler ein ganzes Kapitel: „Oh oui, à bas la France“ (137). Der englische Maler Christopher Nevison, der schon Severini in London begrüßt hatte, wurde zum ersten englischen Futuristen; er veröffentlichte zusammen mit Marinetti in mehreren englischen Zeitungen den Text „Vital English Art. Futurist Manifesto“, der zur Schaffung einer futuristischen englischen Avantgarde aufrief, die sich nicht mehr an der Vergangenheit orientieren sollte. Die Vereinnahmung Nevisons durch Marinetti konnte aber den andern modernen Künstlern nicht gefallen, die darin bloß einen Austausch des französischen Modells durch das italienische sahen. Sie schufen darum eine eigene Gruppe unter der Bezeichnung „vorticisme“, abgeleitet vom Begriff vortex, für Ezra Pound der Punkt höchster Energie. Die Gruppe, die von Ezra Pound und Wyndham Lewis gegründet wurde, lancierte eine eigene Zeitschrift Blast und verstand sich auch wie der Futurismus als intermediale Gruppe, deren Erklärungen der verbalen Gewalt der italienischen Futuristen in nichts nachstand. Thomas Hunkeler betont ebenso wie Anna Boschetti, dass die Initialzündung von Marinetti ausgegangen war, selbst wenn man dieses Faktum zu verdrängen suchte und das italienische ‚Vorbild‘ wie Lewis als „automobilisme“ abqualifizierte.[34] Das herausstechende Merkmal des vorticisme war indes der Nationalismus: „le souci d’illustrer le ‚génie anglo-saxon‘ et […] la rivalité exacerbée que la revue montre à l’égard de la France“ (158). Der deutsche Expressionismus erschien als nordeuropäische Alternative zur franco-italienischen Avantgarde, eine Position, die mit dem Kriegsbeginn nicht mehr vertreten wird, als man der deutschen Moderne rückwärtsgewandte Sentimentalität attestiert. Lewis lässt sich indes nicht von der nationalistischen Hetze anstecken, sondern plädiert für eine Kunst und eine Literatur, die gleichzeitig national und universell sein sollte. Thomas Hunkeler situiert auch hier wieder die national(istisch)en Akzente im Kontext des internationalen künstlerischen Konkurrenzsituation:
Pour éviter d’être perçus comme une simple variante anglaise du futurisme ou une reprise du cubisme français, les vorticistes, tout comme leurs confrères en Russie, se sentaient obligés de recourir à l’argument nationaliste pour résister la domination des nations plus avancées, en l’occurrence la France et l’Italie. (167)
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Für die eigentliche Kriegszeit fokussiert sich Thomas Hunkeler seine Analyse auf die Kunstzeitschriften in Frankreich: „les revues d’art en France à l’épreuve du patriotisme“ (169). Während Wyndham Lewis mit dem Kriegsbeginn die nationalistische Position abgeschwächt und die transnationale Dimension des Bereiches der Kunst betont habe, habe Apollinaire den fröhlichen Kosmopolitismus der Vorkriegszeit zu Gunsten eines immer rigideren Patriotismus aufgegeben[35]. Die internationalen Kontakte waren nun kaum mehr möglich und ausländische Künstler wie Juan Gris waren Verdächtigungen ausgesetzt. Wissenschaftler in England und Deutschland suchten die Kriegsbeteiligung ihrer Staaten zu rechtfertigen. In Erinnerung blieb vor allem der ‚Aufruf der 93‘. Deutsche Schriftsteller, Gelehrte und Künstler suchten mit diesem Aufruf „An die Kulturwelt“ die Vorwürfe hinsichtlich der im neutralen Belgien nachweislich begangenen Terrorakte zu entkräften. Der Aufruf vermochte allerdings nicht zu überzeugen, da Geiselerschießungen, die Zerstörung der Universitätsbibliothek Löwen und die Beschießung der Kathedrale von Reims erhärtete Tatsachen waren. Der Aufruf galt schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als ein verhängnisvolles Schlüsseldokument arroganter, freilich auch naiver deutscher Überheblichkeit. Der Aufruf kam, so Michael Jeismann, „einem Blankoscheck für die Reichsregierung gleich, der mit der Autorität der Wissenschaft eine Politik rechtfertigte, über deren Absichten man in keiner Weise hinreichend informiert war.“[36] Namentlich in Frankreich stieß der Aufruf auf entschiedene Ablehnung. Einem Manifest der französischen Universitäten vom 3. November 1914 folgte im März 1915 „Un appel des intellectuels français“, den hundert französische Wissenschaftler und Künstler unterzeichneten. Die führenden Akademiemitglieder lösten die Verbindungen zu den deutschen Unterzeichnern des ‚Aufrufs der 93‘ und drängten auf internationale Isolation der deutschen Wissenschaftsinstitutionen, die Tatsache wurde und bis Ende der 1920er Jahre andauerte.
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Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang auch die Analyse von Kenneth E. Silver Vers le retour à l’ordre. L’avant-garde parisienne et la première guerre mondiale[37]. Nach Kenneth E. Silver bedeutete die ‚Union sacrée‘ de facto eine Quasi-Kapitulation der Linken vor der Rechten. Jene mussten nun beweisen, dass sie auch Patrioten seien; selbst die avantgardistische Kunst, die sich vor dem Krieg durch ihre internationale Dimension ausgezeichnet hatte, habe nun patriotische Werte in den Mittelpunkt gestellt. Das kulturelle Paradigma der Rechten, wie es die Action française artikuliert hatte (die Verbindung von Klassizismus und Nationalismus), sei zur Dominante geworden. Ein dekadentes, verrücktes, kosmopolitisches Vorkriegsfrankreich sei durch den Krieg zur Vernunft gebracht worden[38]. Kann man tatsächlich von einer solchen generellen Wende zum Paradigma der Rechten sprechen? Zweifellos teilten beide Lager einen patriotischen Konsens auf der Basis dessen, was Poincaré in seiner ‚Union sacrée‘-Rede vom August 1914 formuliert hatte („In dem Krieg, der jetzt entbrennt, hat Frankreich das Recht für sich“). Der soziale Druck war viel zu groß, so Jean-Jacques Becker, als dass man sich der Forderung nach der gemeinsamen Verteidigung der Heimat hätte entziehen können; das habe aber nicht bedeutet, dass die gewohnten politischen Standpunkte und geistigen Einstellungen aufgegeben worden seien, sie rückten bloß in den Hintergrund.
Thomas Hunkeler schreibt zu Recht, dass man den Kriegsbeginn nicht wie Kenneth E. Silver als radikalen Einschnitt betrachten könne. Schon vorher sei bei den Vertretern der Avantgarde der Gedanke einer Notwendigkeit präsent gewesen „de défendre leur nation par les moyens de l’art“ (172); nur mussten sie sich jetzt gegen den Vorwurf verteidigen, durch ihre internationalen künstlerischen Austausch anti-patriotisch gehandelt zu haben. Jetzt entstanden Zeitschriften, die eine avantgardistische Tendenz verteidigten, ohne dem patriotischen Konsens zu widersprechen, so das im Januar 1916 von Pierre Albert-Birot und seiner Frau gegründeten Organ SIC.[39] Wenn die Zeitschrift trotz des geringen Bekanntheitsgrades der Herausgeber auf große Resonanz stieß, dann auch weil die Künstler im Kontext des Krieges nur mehr über wenige Plattformen verfügten. Die Ausstellung des Futuristen Severini in Paris löste beiAlbert-Birot ein begeistertes Bekenntnis zur Moderne aus: „Soyons modernes […] A chaque temps son art“ (181); gleichzeitig stellte er Frankreich als Ort der Überwindung des Gegensatzes von Moderne und Tradition dar, folgte der militärisch konnotierten Definition der Avantgarde von Apollinaire, um sich nach dem Krieg wieder davon zu distanzieren. In der Nummer vom April 1916 fand sich eine Zeichnung von Severini
[qui] illustrait cette proximité symbolique et espérée entre le front de la guerre et celui de l’art, entre les tranchées de Montparnasse, et laissant ensuite la place à un texte d’Apollinaire, le poète des tranchées.[40]
Die Originalität der Zeitschrift von Albert-Birot wird dann auch herausgearbeitet über den Vergleich mit zwei anderen neuen Organen Le Mot (November 1914 bis Juli 1915) und L’élan von Amédée Ozenfant. Le Mot, zunächst ein chauvinistisch-antideutsches Blatt, entwickelte sich unter dem Einfluss von Cocteau zu einer gegenüber der Gegenwartskunst offeneren Haltung. L’élan vertrat von Anfang an eine weniger aggressive, defensive Position zu Gunsten „de l’Art français, de l’indépendance française, en somme du véritable esprit français“ (193) und trat der einseitigen Propaganda auf beiden Seiten entgegen.[41] Die von Ozenenfant und Le Corbuisier 1920 gegründete Zeitschrift L’Esprit nouveau führte in einem gewissen Sinn diese Linie weiter als „coexistence d’une intention internationaliste et d’un esprit plus étroitement nationaliste“ (François-René Martin, 203).
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Das letzte Kapitel des Buches gilt „Dada à Paris“. Tristan Tzara pflegte schon von Zürich aus bewusst internationale Kontakte, lud Künstler nach Zürich ein und sandte seine Gedichte an französische Avantgarde-Zeitschriften. Apollinaire war skeptisch gegenüber der DADA-Gruppe, zu der mehrere deutsche Mitglieder zählten. Die Zeitschrift Dada 2 hatte indes die konservativere Haltung von Apollinaire begrüßt; dieser vermittelte Kontakte von Tzara zu Pariser Zeitschriften wie Nord-Sud.[42]
Thomas Hunkeler kommt in diesem Zusammenhang auf die von Romain Rolland initiierte „Déclaration d’indépendance de l’esprit‘ (in der Humanité vom 26. Juni 1919), zu sprechen, die für ein internationales Bündnis der Intellektuellen für den Frieden plädierte, sowie auf das vom Action française-Mann Henri Massis lancierte Gegenmanifest „Pour un parti de l’intelligence“ (19. Juli 1919 im Figaro). Im Text von Massis wurde klar, dass der eindeutige Referenzpunkt gegen die Intellektuellen die Nation war. „Gegen diese Internationale des Denkens, die die Literatur-Bolschewisten an sich reißen wollen“ formuliere die „Partei der Intelligenz“ das Ziel der „Wiederherstellung eines Gemeinsinns in Frankreich über den Königsweg der Intelligenz und der klassischen Methoden: „la fédération intellectuelle de l’Europe et du monde sous l’égide de la France victorieuse, gardienne de toute civilisation“ (210). Gegenüber diesen beiden Positionen suchte die 1919 wieder erschienene NRF eine mittlere Position. Jacques Rivière plädierte für sehr engen Patriotismus, der aber sich von dem Revanche-Gedanken und der Xenophobie der Action française abgrenzte. Das Lob, das er dabei auf die geistige Überlegenheit Frankreichs anstimmte, war nach Thomas Hunkeler „digne des meilleurs chantres de l’Action française“ (210).[43]
Relevant im Avantgarde-Kontext war jedoch in der ersten Nachkriegs-Nummer de NRF ein kurzer Hinweis auf die Zeitschrift Dada von Tzara: „Il est vraiment fâcheux que Paris semble faire accueil à des sornettes de cette espèce, qui nous viennent directement de Berlin“ (211). Die Zeitschrift Littérature von Breton, Aragon und Soupault reagierte darauf ganz entschieden und warf Rivière vor, gegenüber DADA denselben unberechtigten Germanophilie-Vorwurf zu artikulieren, den man schon gegen die Kubisten vorgebracht hatte. In der Tagespresse wurde die Gruppe des aus Rumänien stammenden Tzara noch viel aggressiver als deutscher Import denunziert. Selbst Gide wies auf den Status von Tzara als Ausländer und Jude hin, dem es an Respekt für die französische Kultur fehle. Wenn sich Cocteau gegenüber Tzara durchaus offen zeigte, und einen „patriotisme mal entendu“ nicht riechen mochte so betrachtete er Dada-Manifestation im Théâtre de l’Œuvre im März 1920 doch als „première tentative de propagande étrangère qui marche“ (221). Verkannt wurde, dass schon die erste Publikation der Gruppe, Cabaret Voltaire, 1916 auf französisch und deutsch erschien und dass Tzara auch das Organ Dada auf Frankreich ausrichtete und auf deutsche Referenzen verzichtete. Anlässlich Barrès-Prozesses nahm Tzara als ‚Zeuge‘ eine viel radikalere Haltung gegenüber dem bekannten nationalistischen Schriftsteller ein als Breton und Aragon. Nach diesem Ereignis waren sich Tzara und Breton nicht mehr einig, welche Richtung die Bewegung einschlagen sollte.[44]
Breton versuchte die Hegemonie innerhalb des Feldes der Avantgarde durch die Organisation eines „Congrès pour la détermination des directives et de la défense de l’esprit moderne“ in den ersten Monaten von 1922 zu gewinnen. Es ging ihm darum, die negative Position von Dada durch eine affirmative („un minimum d’affirmation commune“) zu überholen; er lud dazu Vertreter verschiedener Richtungen ein, alles Franzosen; der spät eingeladenen Tzara winkte angesichts dieses „mélange des tendances“ (230) ab. Breton reagierte pikiert auf das ‚Treiben‘ eines „promoteur d’un mouvement venu de Zurich“ (230). Diese xenophobe Ausrichtung erklärt wohl auch, dass Bretons Vorhaben scheiterte, der nun offen, etwa im Artikel „Après Dada“ (Comoedia, 2. März 1922), mit der Gruppe um Tzara abrechnete, und so weit ging einen französischen Ursprung der Dada-Bewegung (mit Jacques Vaché) zu behaupten.[45] Analog dazu entwarf Aragon sein Projet d’histoire littéraire contemporaine, die nichts anderes sein sollte als „une version française de l’histoire de l’avant-garde“ (237).
Die Surrealisten verstanden sich immer als seine transnationale Bewegung, die aber trotzdem Paris als ihren Schwerpunkt betrachtete. Der Kreis um Breton beanspruchte eine Art Monopol hinsichtlich der ästhetischen und ideologischen Ausrichtung. Der Autor definiert so deren Originalität: „un certain impérialisme culturel sans lier ce dernier à un ancrage national“ (240. Wenn Thomas Hunkeler seine Untersuchung mit dem Jahre 1924 abschließt dann auch weil nun mit der wachsenden Bedeutung der Kommunistischen Partei und dem Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus sich das Profil des intellektuellen Feldes Europas in Richtung einer immer stärkeren Politisierung veränderte.
Wenn die national(istisch)e Dimension der Avantgarden bisher unterbelichtet war, so lag das nach dem Autor auch daran, dass die Untersuchungen meist aus der Feder von ehemaligen Akteuren der Bewegungen stammten, die eine eher euphemistische Sicht vertraten.
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Thomas Hunkeler hat hier eine originelle Untersuchung vorgelegt, die einen Aspekt der historischen Avantgarden aufzeigt, der paradoxerweise durch die nationalliterarische Orientierung der Literaturwissenschaft nicht ins Blickfeld trat. Die transnationale Anlage seiner Studie ist vorbildlich. Die Monographie beruht auf einer exzellenten Kenntnis der Primärquellen, aber auch der aktuellen Studien. Das Buch zeichnet sich überdies durch eine elegante Schreibweise aus, die den Leser überzeugt.
Ill.: Robert Delaunay (1885–1941), Tour Eiffel, 1926, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, public domain.