Christoph Behrens, „Queere Körper-Geschichte(n): Réécriture und mémoire corporelles in Mathieu Riboulets ‚Les Œuvres de miséricorde‘“, Vorabdruck des Artikels in Romanische Studien 6 (2019).
Christoph Behrens (Rostock)
In einem zu spürenden Umbruch in der französischen Erinnerungspolitik und Geschichtsschreibung, der zwischen der Dekonstruktion des „bon usage de la mémoire“ und der archäologischen Besessenheit von der „mémoire fouillée“ schwankt, setzen Mathieu Riboulets Les Œuvres de miséricorde (2012) ein Zeichen.
Der Autor skizziert eine körperliche Umdeutung und „queerende“ Appropriation jenes christlichen-normativen „devoir de mémoire“ zu einer réecriture und mémoire corporelles, die es sowohl in der Aushandlung des Genres des revisionistischen historischen Romans als auch in der narratologischen Innovation seines Werkes hin zu einer queer narratology, die den Körper als Erzählinstanz propagiert, zu zeigen gilt.
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Admettre qu’écrire c’est justement travailler (dans) l’entre, interroger le procès du même et de l’autre sans lequel rien ne vit, défaire le travail de la mort, c’est d’abord vouloir le deux, et les deux, l’ensemble de l’un et l’autre non pas figés dans des séquences de lutte et d’expulsion ou autre mise à mort, mais dynamisés à l’infini par un incessant échangement de l’un entre l’autre sujet différent, ne se connaissant et se recommençant qu’à partir du bord vivant de l’autre: parcours multiple et inépuisable à milliers de rencontres et transformations du même dans l’autre et dans l’entre, d’où la femme prend ses formes (et l’homme, de son côté; mais c’est son autre histoire). 1
Das Jahr 2016 wurde von Papst Franziskus zum „außerordentlichen heiligen Jahr der Barmherzigkeit“ erklärt.
Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. […] Barmherzigkeit ist das grundlegende Gesetz, das im Herzen eines jeden Menschen ruht und den Blick bestimmt, wenn er aufrichtig auf den Bruder und die Schwester schaut, die ihm auf dem Weg des Lebens begegnen.
So Franziskus zu Beginn seiner Misericordiae Vultus2 vom 11. April 2015. Im Mittelpunkt dieses Jubiläums stehe somit die Rückbesinnung des Christentums auf die „Sieben Werke der Barmherzigkeit“, jene Aufzählung von moralischen, spirituellen und körperlichen Imperativen, die im Matthäus-Evangelium (Mt. 25, 35–46)3 die sogenannte Endzeitrede Jesu, seine letzte Rede, – bei Matthäus folgt darauf direkt die Passionsgeschichte –, die er auf dem Ölberg adressiert an seine Jünger gehalten habe, abschließen.
Diese Rede enthält neben mehreren Gleichnissen, mit denen Jesus auf seinen bevorstehenden Opfertod, seine Auferstehung sowie auf die universale Eschatologie des Weltgerichts hinweist, eben Jesu letzte Unterweisung seiner Jünger, die sieben Imperative der Barmherzigkeit: Hungernde speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene besuchen und Tote bestatten4. Die Bedeutung der Werke der Barmherzigkeit liegt darin, nicht im Gedanken an die eigene weltgerichtliche Belohnung zu handeln, wie Luther der römisch-katholischen Kirche in seinem Sermon von den guten Werken (1520) in Bezug auf ihre Praxis, durch gute Werke im Leben trotz der eigenen Sündhaftigkeit Gnade vor Gott zu erhalten, scharf vorwarf, sondern in Barmherzigkeit, in misericordia, d.h. wörtlich etwa mit dem Herzen bei den Elenden zu sein. Die tiefe Verankerung der Barmherzigkeit – und so auch der caritas, der tätigen Nächstenliebe – in der katholischen Konfession und Glaubenspraxis5 führt zu einer weiteren Differenzierung bzw. Doppelung der Sieben6 Werke in spirituelle (Lehren, Beraten, Trösten, Zurechtweisen, Verzeihen, Ertragen, Beten) und körperliche (Speisen, Beherbergen, Bekleiden, Besuchen der Kranken und Gefangenen, Begraben, Geben). Das spirituelle und körperliche „gute“ Handeln der Glaubenden soll zu einem stärkeren Glauben, einem besseren Zusammenleben und natürlich zur Gnade führen.
Mathieu Riboulet greift im Vorwort seines gleichnamigen Werks, Les Œuvres de miséricorde (2012)7, die von mir skizzierten Wissensbestände katholischer religiöser Praxis auf:
[…] les Œuvres de miséricorde forment un ensemble d’impératifs moraux édictés par l’Église, censés d’obliger les chrétiens et peser leur poids lourd dans la balance du Jugement dernier. Au nombre de sept, comme les péchés capitaux, elles sont comme eux connus de tous ceux qui, nés en culture chrétienne, en sont imprégnés, qu’ils le veuillent ou non, sans bien savoir ni d’où ils en tiennent la connaissance, ni à quoi elle se rattache précisément. […] On n’a rien sans rien.8
Riboulet stellt sein Werk somit in den Rahmen des katholischen Katechismus, den der Autor als tief verankertes kulturelles Praxis- und Überlebenswissen jedes/r Einzelnen/r herausstellt, dessen Kenntnis unbewusst erfahren wurde und unbewusst die Lebensführung steuere. Gleichzeitig wird im Prolog auch die von Luther angegriffene Werkgerechtigkeit, der Zwang der guten Tat zur Sicherung der eigenen Gnade, durch ein Wortfeld der Macht und Unterdrückung („former, impératifs moraux, édicter, censer, obliger, peser, poids, lourd, jugement, péché capital, imprégner, etc.“) aufgerufen, welches das Tun guter Werke nicht als Frömmigkeitspraxis darstellt, sondern es sich vielmehr als Zwang, als einen „devoir spirituel et corporel“ entpuppen lässt, als notwendiges Übel, um dem „châtiment éternel“9 zu entkommen bzw. als dem Menschen aufoktroyiertes Dilemma zwischen „châtiment éternel“ oder „vie éternelle“ entscheiden zu müssen.
Das kurze Vorwort, das eher einem katechetischen Lehrtext denn einer Hinführung zur kommenden Erzählung gleicht, endet mit der Episode des Matthäus-Evangeliums (25, 41–46), die die Endzeitrede besiegelt und in der Jesus „die Spreu vom Weizen trennt.“ Die extradiegetische Erzählstimme entgegnet darauf ablehnend resümierend: „On n’a rien sans rien.“ Im Kontext verweist das „rien sans rien“ zuallererst auf die fast blinde, unverstandene Aneignung christlicher Morallehre, denn ohne das Bewusstsein für eine Handlungsanleitung kann diese auch zu keinem Resultat führen. Das doppelte „rien“ ist demnach ein Handlungs-Nichts, welches das erzählerische Ich des nun folgenden Texts füllen wird. Dass ohne gutes oder schlechtes Handeln kein gutes oder schlechtes Ergebnis entsteht und umgekehrt, lässt das „rien sans rien“ zu einer Leerstelle in einem Handlungsschema werden, welches zum Füllen, zur Handlung aufruft. „Rien sans rien“ nimmt demnach performativen Charakter an, es lädt erst dazu ein, sich die katechetischen Werke anzueignen, das „rien“ im Sinne der zuvor erwähnten unverstandenen Prägung aufzulösen, gar zu konterkarieren und das Nichts neu zu füllen. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt dies bereits erahnen: Nicht nur werden die 7 jeweils doppelten Werke zu 18, darüber hinaus werden ihre Maximen – und es sei bereits darauf verwiesen, dass es sich dabei besonders um die sogenannten körperlichen Werke handelt, die, so das Vorwort, im Vordergrund stehen sollen – konterkarierend und ironisierend, vielleicht sogar blasphemierend, erweitert, bspw.:
3. Toucher ceux qui sont nus;
6. Toucher ceux qui sont morts;
13. Payer ceux qui nous baisent;
14. Payer ceux qui nous tuent;
15. Haïr les malades, les prisonniers, les pèlerins, les morts, ceux qui ont faim et soif, haïr ceux qui sont nus; etc.
Die Werke der Barmherzigkeit bilden daher, wie der Titel bereits aufzeigt und das Vorwort ausführt, das soziokulturelle Gerüst für die poetologische Aneignung des repressiven und eschatologischen christlichen Narrativs, dessen vor allem körperliche Dimension10, zu Ungunsten der in der christlichen Vorstellung rein zu haltenden Seele, als performative Triebfeder gelten soll. Im Folgenden gilt es herauszustellen, dass die Werke der Barmherzigkeit ihrer christlichen Dimension enthoben und in eine metahistoriographische Revision der Schuldfrage in der kriegerischen Geschichte deutsch-französischer (1870–1945), aber auch transnationaler ethnischer Konflikte überführt werden. Besonders die körperliche Ebene, die Berührung der Elenden soll dabei als Motor der Narration und der Revision ins Blickfeld rücken. In diesem Zuge erfährt die in der christlichen Barmherzigkeit angelegte körperliche Nähe nicht nur eine Sexualisierung, die sexuelle Vereinigung als eine transformative Körperlichkeit darstellt, sondern darüber hinaus ein queering, d.h. eine Reperspektivierung von Erinnerungs- und Mitleidens-Praxis unter Einbezug eines fluiden, nicht-heteronormativen gender–sexuality-Spektrums, die, so soll gezeigt werden, die metahistoriographische Perspektive des Werkes speist. Die Pole von Gewinnern und Verlierern, Mördern und Ermordeten, Eros und Thanatos, Lust und Gewalt sowie Dominanz und Dominiert-Sein werden auf diese Weise dynamisiert und können so reevaluiert und neu interpretiert werden. Die ästhetische Strategie des Romans resultiert meiner These zufolge in einer queeren Appropriation zweier soziokulturell tief verankerter Anforderungen: des „devoir spirituel et corporel“ des Katechismus und des „devoir de mémoire“11, jenes „bon usage de la mémoire“12, d.h. des normierten und verpflichtenden Modus, „une tradition à transmettre“13, der Erinnerung an v.a. die Shoah.
Der namenlose Erzähler versucht damit eine Antwort auf die ontologischen Fragen „Que faire de tous ces morts, où vivre, comment aimer?“14 zu finden, die ihn wie ein Spuk aus den großen Kriegen plagen. Gibt es eine Tradition, eine vielleicht sogar körperlich weitergegebene Vorsicht, Resultat einer Gewalterfahrung, die sich über Generationen tradiert hat? Inwieweit sind die Kriegsgräuel der vergangenen einhundertfünfzig Jahre in den heute Lebenden noch körperlich und spirituell präsent? Vor allem aber: Was ist angesichts dieser Geschichte heutzutage der „devoir de miséricorde“ aus dem Matthäus-Evangelium und der „devoir de memoire“ der historiographischen Tradition? Riboulet lässt seinen französischen Ich-Erzähler zwischen Deutschland und Frankreich pendeln, um sich auf die Suche nach den Erinnerungen zu begeben, die die Erbfeindschaft zwischen beiden Ländern antreiben. Seine „unorthodoxe“ Methode15: Er zieht nicht nur die Literatur selbst, die Kunst, den Film16 und geschichtliche Dokumente sowie Monumente zu Rate, sondern auch den Körper. Indem er sich dem ‚Deutschen‘ über ausschweifende sexuelle Akte annähert, will er den de père en fils tradierten Zorn versuchen umzuschreiben. Er reist zuerst nach Köln und lernt Andreas kennen, einen deutschen Mann, mit dem er später mehrere Episoden in Berlin-Schönberger Darkrooms verbringt und die Historizität der Hauptstadt erfährt. Hier lernt die männliche Erzählinstanz auch Tadjîn kennen, jenen „prince d’Orient“, einen Deutsch-Kurden, der sich sein Studium als sexworker finanziert. In Frankreich entwickelt das erzählende Ich zeitgleich eine weitere amouröse Bindung mit dem obdachlosen Kniegeigenspieler Adrien.
In seiner promisken Sexualität erst erfährt das erzählende Ich, wie Historie sinnlich erlebt werden kann. Was über Jahrhunderte tiefe Narben in den Charakteren hinterlassen hat, beginnt plötzlich (wieder) neu zu schmerzen. Die Gräueltaten und Verbrechen der Vergangenheit – einen speziellen Fokus setzt Riboulet dabei auf das Schicksal der sogenannten „Rosa Winkel“ – werden inkarniert und ‚performed‘. Der Autor schöpft dabei aus der Dehiszenz zwischen Eros und Thanatos, zwischen Lust und Todesgewalt, um mit historiographischer Sorgfalt und erotischer Körperlichkeit das kollektive Gedächtnis zu revisionieren. Riboulet berührt die historisch vernarbten Körper mit einer narratologischen Dynamik und sprachlichen Performativität, die es im Weiteren zu erkunden gilt.
„Méditation métaphysique, roman vrai, essai esthétique, Les Œuvres de miséricorde est tout cela et plus encore: un livre âpre et magnifique, inclassable et émouvant […].“17 Ein deutscher Rezensent der Übersetzung (2016) schließt sich diesem Urteil an und konstatiert: „Die ‚Werke der Barmherzigkeit’ sind in der Hauptsache gedanklich interessante Essays […].“18 Auch wenn ich Riboulets Werke – diese Bezeichnung habe ich bis hierher bewusst gewählt – als alles andere als metaphysisch bezeichnen würde, so ist die Ansicht der Rezensenten über die Genre-Hybridität der Œuvres de miséricorde zu teilen. Anders als die Literaturkritik sehe ich darin jedoch keinen Makel, sondern ein bewusstes Potential des Werkes. So kann dennoch von einem Roman, nämlich einem fast „klassischen“ postmodernen Roman, gesprochen werden, der abschnittsweise an einen historischen, psychologischen oder Liebesroman erinnert, aber seine stringente Narration durch essayistische, ekphrastische und (auto-)biographische Episoden und Ellipsen durchbricht. Riboulet schließt hiermit, und dies mag der Grund für die Abwertung der Kritik sein, weniger an das Geschichtsbild des nouveau roman19 an als vielmehr an eine sensu lato europäische und transatlantische Genrekonzeption des postmodernen Roman, wie sie wohl am prominentesten in den Postille (1983) zu Ecos Il nome della rosa (1980) dargelegt wurde. Anders als der moderne Roman, der, ausgelöst durch den „Sinnverlust“ der Entfremdung, die das Individuum im „waste land“ T. S. Elliots erfährt, in permanente ästhetische Selbstreflexionen über seinen Status als Sprachkunstwerk und Fiktion verfällt, führt der postmoderne Roman wieder zu einem Spiel mit der mimetischen Illusion und arrangiert in Collagen und Pastiches bekanntes Material neu. Anders also als der avantgardistische nouveau roman, der die poiesis der mimesis vorzieht, baut der postmoderne Roman ein intertextuelles Verhältnis zur Realität auf. Besonders im Zuge des nordamerikanischen New Historicism der 1980er-Jahre wurde das Verhältnis von histoire und Histoire, von literarischer Erzählung und Geschichtsschreibung, neu bestimmt. Riboulet selbst gibt einen Hinweis auf die Verortung seines Werkes in dieser Debatte im Peritext. Dort heißt es im Untertitel des Innencovers: „fictions & réalités.“20 Diese besonderen Fiktionalitätsindikatoren schreiben Les Œuvres de Miséricorde erneut in die postmoderne Verhandlung von Faktizität und Fiktionalität bzw. Fiktivität von literarischer Geschichtserzählung einerseits und historiographischer Erzählung andererseits ein.
Der Historiker Hayden White fasste erstmals in Metahistory (1973) diese These prägnant zusammen: Er spricht von einer generellen Literarizität der Histoire, „history is no less a form of fiction than the novel is a form of historical representation.“21 Im Gegensatz zu Aristoleles’ Poetik, in der der Geschichtsschreiber vom Dichter unterschieden wird, da „der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“22, würden die Historiker, so White, „constitute their subjects as possible objects of narrative representation by the very language they use to describe them.“23 Historie sei daher nicht ‚unmittelbar’ zugänglich, es gäbe keine ‚Geschichte an sich’, sondern lediglich „a verbal structure in the form of a narrative prose discourse that purports to be a model […] of past structures and processes in the interest of explaining what they were by representing them.“24 Jede Historie ist somit immer nur übermittelte Erzählung; jede Historiographie ist demnach immer durch grundlegende sprachlich-rhetorische und literarische Muster vorstrukturiert, „die Erzählstrukturen der Historiographie [sind] selbst semantisiert, d.h. aufgeladen mit Bedeutung sowie mit ideologischen und politischen Implikationen.“25
Auch wenn Whites Argumentation berechtigte Kritik vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft erfahren hat26, so bildet die postmoderne Geschichtsauffassung bzw. eben das neu verhandelte Verhältnis zwischen „fictions & réalités“ dennoch die Grundlage für eine innovative Produktions- und Rezeptionsästhetik des Historischen. Riboulets Werke nehmen an diese besonders in der Anglistik und Nordamerikanistik verhandelte „historiographic metafiction“27 Anschluss28.
[D]ieses Genre hat neue Erscheinungsformen der […] Fiktion hervorgebracht, die sich in selbstreflexiver Weise mit Problemen historischer und historiografischer Sinnbildung auseinandersetzen und produktive Fiktionen für die kollektive Erinnerung und die Generierung von Geschichtsbildern in der zeitgenössischen Gesellschaft übernehmen, […] die mit neuen Textverfahren und literarischen Repräsentationen von Geschichte Anteil an der Herausbildung der Geschichtsbilder seiner Gesellschaft hat.29
Das Anliegen der metahistoriographischen Fiktion30, wie ihr Verhältnis eigentlich zu benennen wäre, ist es, die „dark areas of history“ darzustellen, über welche die offizielle Historiographie schweigt. In seiner zweibändigen Habilitationsschrift Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (1995) leitet Nünning aus dieser Funktionsbestimmung fünf Subgenres ab; besonders der als „revisionistisch“31 bezeichnete historische Roman soll als weitere Bestimmungsfolie dienen.
The postmodernist historical novel is revisionist in two senses. First, it revises the content of [and reinterprets, CB] the historical record, often demystifying […] the orthodox version of the past. Secondly, it […] transforms the conventions and norms of historical fiction itself.32
In zweifacher Weise greift diese Bestimmung des Romans Riboulets ästhetische Strategie auf: einerseits beschreibt sie die Desakralisierung der Barmherzigkeit, der Orthodoxie im Umgang mit den Opfern bzw. Feinden; andererseits ist hier jedoch auch die den Roman Riboulets tragende Überschreitung von heteronormativen wie auch narratologischen Normen und Konventionen, die die Geschichtsschreibung und -fiktion33 besonders der großen Kriege bestimmen, Rechnung getragen.
Riboulets Werk ist demnach nicht ein, wie so oft in Besprechungen hervorgehoben, „roman homosexuel“34 per se, sondern er nutzt vermeintliche Devianz nicht nur primär gattungsbezogen, sondern darüber hinaus auch mit dem Ziel, die kanonische Historiographie um bis dato ‚verborgene Themen‘ zu erweitern und kritisch zu hinterfragen. Etablierte Geschichte/n werden umgeschrieben und durch alternative „Gegengeschichten“35 aufgebrochen, ‚gequeert‘. Les Œuvres de miséricorde liegen somit mehrfach ‚quer‘ zum historiographischen und Genre-Diskurs, sie defamiliarisieren ihn, um „veränderte Auffassungen von Geschichte, Erinnerung, Gedächtnis, Zeit und historischer Erkenntnis“, ergo neue Deutungsmuster zu befördern.
Erweitert werden kann dieser Genre-Diskurs noch um die Feststellung, dass Gedächtnis immer gendered 36 – und wie uns Riboulet zeigt – eben auch sexualized ist. Geschlechterverhältnisse und Sexualitätsdiskurse sowie die Praxis kulturellen Erinnerns und Vergessens bzw. auch die bewusste Auslassung und das Verschweigen von Erinnerungen stehen in einem Wechselverhältnis: Normierungen von Geschlecht und Sexualität, also die Wertestruktur der „heterosexuellen Matrix“ bzw. der „Zwangsheterosexualität“, präformieren auch die Selektionsprozesse kultureller Erinnerung. Beste Beispiele sind etwa die „Geschichten großer Männer“ oder die explizite Aufarbeitung der (Lebens-)Geschichte von LGBTI*Q-Personen. „Kulturelles Erinnern kann [demzufolge] bestehende Geschlechterverhältnisse legitimieren oder delegitimieren“37, d.h. im Gegenzug Heteronormativität und Erinnerungshegemonien hinterfragen.
Es ist ein Konsens der Gedächtnisforschung, dass Formung die Voraussetzung für Erinnern ist.38 Aktives Erinnern erfolgt durch Aufrufen der Erinnerung in einem Repertoire konventionalisierter Formen, Wiedergebrauchsmuster, Riten und Bilder. Gattungen stellen diese Konventionen in der Literatur dar und werden so zu Trägermedien von Ideologien des kulturellen Gedächtnisses, d.h. sie kontrollieren Historiographie und Historie. Gender, Sexuality, Erinnerung und Genre wirken demnach wechselseitig zusammen. Les Œuvres de miséricorde loten den schmalen Grat zwischen diesen Komponenten auf der einen Seite durch ihre transgressive Thematik, auf der anderen Seite durch ihre Genre-Unverlässlichkeit aus. In dieser Überschreibung scheinen sie also weniger mimesis denn poeisis zu sein39, eben jenes performative Auffüllen des „rien sans rien.“ Als besonders wirksam scheint in diesem Kräftespiel die ungewöhnliche Erzählinstanz: der namenlose, sexuell aktive, homosexuelle Körper, dessen Performativität ich mich abschließend widmen möchte.
Aus der poststrukturalistischen Diskussion um Geschlecht und Sexualität ist der Körper als Ort und Medium gesellschaftlicher Einschreibungen und Anforderungen nicht mehr wegzudenken. Der Körper ist in das Sprechen und Wissen über Körper eingebunden und Produkt desselben. Der Diskurs wiederum verschleiert diese Prozesse und erzeugt den Körper als ‚Natur‘, genauer als Naturalisierung. Der Körper ist demnach ein Archiv, „ein Ort der Einschreibung kulturellen Wissens, [an dem sich] Formen der Tradierung, der Fixierung, Verwerfung und Umschrift erinnerter oder vergessener Geschichte(n)“40 artikulieren. Der Körper dient folglich als Zeichenträger kultureller Erinnerung, die, um sensu lato mit Butler zu sprechen, in sich wiederholenden, iterablen performances vorherrschender Normen und Praktiken hervorgebracht und gefestigt wird. Der Körper besitzt eine mémoire corporelle bzw., wie Riboulet es spezifiziert:
Il m’a fallu comprendre le Corps Allemand, majuscules à l’appui, après être entré à trois reprises dans la vie française par effraction (1870, 1914, 1939), continue à façonner certains apects de notre existence d’héritiers de cette histoire. […] Je veux serrer dans mes bras le corps d’un de ces hommes dont je ne parle pas la langue, le corps d’un de ces hommes que l’Histoire longuement m’opposa, le corps d’un homme allemand.41
Die Produktion und Reproduktion von Körpererinnerung erweist sich aufgrund ihrer Performativität als dynamischer Prozess. Diese Dynamik macht sich Riboulet auch auf narratologischer Ebene zunutze und bindet sie an die Revision des „devoir de mémoire“ zurück. Anders als die Erzähltheorie Genette’scher Prägung strebt die postmoderne Narratologiebildung „eine radikale Kritik“ und den „Bruch mit der strukturalistischen Tradition an.“42 Gerade eine queer narratology täte gut daran, die statische, geometrisierende Textkategorisierung zugunsten von „experimental or ‚play‘ terms“43 und einer fluiden Terminologie zu entwickeln. Besonders Hélène Cixous’ Arbeiten zur écriture féminine, die aufgrund ihrer psychoanalytischen und stark differenzfeministischen Position oft als démodé gelten, schlagen eine Brücke von der Performativität weiblicher Schrift zur Körperlichkeit. Anders als die narratologisch strukturierte Textgeometrie geht Cixous von einem „utopischen Programm [aus], das sich einem strukturierenden Zugriff zu entziehen sucht“44; vielmehr strebt sie einen holistischen Zugang zum Schreiben an, der die strukturalistischen Ebenen von histoire und discours, erzählender Instanz und erzählter Instanz verschwimmen lässt45. In einem ihrer meist rezipierten, fast Performance-Essay „Le Rire de la Méduse“ (1975) hält die Autorin fest: „Il faut que la femme se mette au texte – comme au monde, et à l’histoire –, de son propre mouvement.“46 Diese Kraft des Einschreibens, die écriture, basiert bereits auf der Ebene des Körpers, denn dieser „connaît des chants inouïs“, die es erst ermöglichen „à exploser de torrents lumineux, de formes beaucoup plus belles que celles qui encadrées se vendent pour toute la galette qui pue.“47 Denn es ist gerade der Rahmen einer „société biblico-capitaliste,“48, der die Geschichtsschreibung entspringe, „[qui] a plus que confisqué [le corps de la femme], dont [l’Histoire] a fait l’inquiétant étranger dans la place, le malade ou le mort, et qui si souvent est le mauvais compagnon, cause et lieu des inhibitions.“49 Ihr credo, welches auch als die Poetik Riboulets verstanden werden könnte, lautet demnach: „Écris-toi: il faut que ton corps se fasse entendre.“ – und noch viel treffender in Bezug auf Riboulets Anwendungsbereich dieser Imperative liest sich Cixous’ Schlussfolgerung: „Écrire [son corps] l’arrachera à la structure surmoïsée dans laquelle on lui réservait toujours la même place de coupable (coupable de tout, à tous les coups… .“50 Oder, in Riboulets Worten: „Et leur corps est témoin de l’errance qu’ils pratiquent, leur histoire s’y inscrit et s’y lit sans un mot.“51
Riboulet theoretisiert diese körperliche Erzählung nicht nur, sondern setzt sie narratologisch um: in einer réécriture corporelle52, wie sie in Anlehnung an Cixous’ Konzept bezeichnet werden kann, die narratologisch in Körperpraxis verortete revisionistische Erzählung jener Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich.53 Erst die Vereinigung der nicht-zu-vereinbarenden Körper bringt jene transformative Kraft der réécriture, jene queere Appropriation zum Tragen, die sich direkt in eine Dekonstruktion geschichtlichen Spuks wandelt:
L’entente sexuelle n’est pas une mince affaire, elle a la puissance imparable des cataclysmes naturels, déroute la raison, la déboute, ne s’apaise que parvenue au bout de ses propres logiques. Elle nous fait rire, Andreas et moi. […] Ce que nous touchons dans l’amour en pénétrant le corps: le lieu où la pensée bascule, que submerge l’obscur […].54
Die körperliche Erzählinstanz schafft so eine queere, revisionistische Form narrativer Wirklichkeitserfahrung, die sich als formalästhetische Umsetzung von Gesellschaftskritik, d.h. als eine im weitesten Sinne Desakralisierung von Gedächtnis und Erinnerung, verstehen lässt.
In einer Rezension seines neuesten Romans Entre les deux il n’y a rien (2015) bezeichnet Sophie Joubert Mathieu Riboulet als „écrivain du corps.“55 In der Tat reihen sich Les Œuvres de miséricorde in eine regelrechte Untersuchung der narratologischen und soziokulturellen Potentiale von Körpererzählung ein, die Riboulet in seinem Gesamtwerk entwirft. In unterschiedlichsten Settings lotete der Autor den Körper bereits aus: Mit Quelqu’un s’approche (2000), Le Corps des Anges (2005), L’Amant des morts (2008), Avec Bastien (2010), Lisières du corps (2015) und Or, il parlait des sanctuaire de son corps (2016) lässt sich nicht nur von einer „politique inscrite dans le corps“, sondern vielmehr auch von einer poétique inscrite dans le corps sprechen, die sich als Ausgangsbasis für innovative Narratologien anbietet.
Ill.: Duvette Benoît, Mathieu Riboulet dans Le Corps des Anges, adaptation cinématographique par Benoît Duvette – Collectif des Routes, Creative Commons