„Vom Kreisverkehr zum Karussell: Nicht-Orte als komische Spielräume bei Jacques Tati“, Beitrag von Wolfram Nitsch im kommenden Heft der Romanischen Studien
Auszug aus dem Beitrag von Wolfram Nitsch
in Romanische Studien 3 (2015)
In nicht weniger als drei seiner insgesamt nur sechs abendfüllenden Filme hat sich Tati ausgiebig mit Nicht-Orten auseinandergesetzt, nicht nur als Hauptdarsteller in der Rolle des komischen Helden Monsieur Hulot, sondern auch als detailbesessener Drehbuchautor und Regisseur, dem man wegen seiner Pedanterie den Spitznamen „Tatillon“ verlieh. Teilweise hat er solche abstrakten Zonen on location gefilmt, vor allem im letzten Hulot-Film TRAFIC (1971), in dem sich der zum Autodesigner aufgestiegene Außenseiter vorwiegend auf Autobahnen, Tankstellen und Parkplätzen aufhält. Meistens jedoch hat er sie am Set eigens erbauen lassen, jeweils beraten von dem Theatermaler und Architekten Jacques Lagrange. Auf dessen Pläne geht etwa die hypermoderne Villa Arpel zurück, die in Tatis oscargekröntem Film MON ONCLE (1958) den glatten Gegenpol zu Hulots verwinkelter Behausung in einer pittoresken, von terrains vagues durchzogenen Pariser Vorstadt bildet. Für das Breitwandepos PLAYTIME (1967) hat Lagrange schließlich sogar ein ganzes Stadtviertel voller Hochhäuser und Durchgangsräume entworfen. Dieses bald „Tativille“ genannte Ensemble wurde am Rand von Paris inmitten von Brachflächen errichtet, die hier jedoch anders als in MON ONCLE nicht mehr vor der Kamera erscheinen, lediglich am Ende des gleichzeitig gedrehten Kurzfilms COURS DU SOIR (1967) für einen Augenblick sichtbar werden.
In PLAYTIME hat der Nicht-Ort somit keinen Gegenort mehr, dafür aber einige Gegenstücke in der zeitgenössischen Architektur von Paris, dessen Stadtbild im Zuge der sogenannten ‚Zweiten Haussmannisierung‘ der sechziger und siebziger Jahre sozusagen im Zeitraffer nach anderswo längst gängigen Standards der internationalen Moderne umgebaut wurde – teilweise gleichfalls unter Mitwirkung von Lagrange. Dennoch war Tatis Filmstadt ihrer Zeit um einige Jahre voraus, und so hat man sie nachträglich nicht zu Unrecht als „La Défense avant La Défense“ bezeichnet. Noch visionärer aber erscheint heute der Film, der in dieser größtenteils beweglichen und daher riesig wirkenden Kulisse entstand. Für Tati selbst war er ein ruinöses Unternehmen, da er die hohen Bau- und Drehkosten niemals einspielen konnte, auch nicht in einer bald nach der erfolglosen Premiere erstellten gekürzten Fassung. Filmkritikern hingegen gilt er spätestens seit der umjubelten Wiederaufführung der Originalversion in Cannes 2002 als wegweisendes Experiment, weil hier wohl erstmals in der Geschichte des Genres nicht der komische Held, sondern der Schauplatz im Mittelpunkt des Geschehens steht. Der eigentliche Hauptdarsteller von PLAYTIME ist das von Hulot einen Tag lang durchwanderte Hochhausviertel, das als Nicht-Ort in Reinkultur ständig und keineswegs nur beim Protagonisten allein komische Verwirrung erzeugt.
Forts. in Heft 3 der Romanischen Studien
Ill.: Caratello