Rezension der Monographie von Stephanie Fleischmann durch Christian von Tschilschke, im kommenden Heft der Romanischen Studien
Stephanie Fleischmann, Literatur des Desasters von Annual: das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 (Bielefeld: transcript, 2013).
Auszug aus der Rezension:
Im Gegensatz zur „Literatur der 98er-Generation“ oder der „Literatur des Spanischen Bürgerkriegs“ hat die „Literatur des Desasters von Annual“ in die spanische Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bisher noch nicht als Ordnungskategorie Einzug gehalten, obwohl das ihr zugrundeliegende historische Ereignis ebenfalls tiefgreifende gesellschaftliche und politische Folgen hatte und eine wahre Flut an Texten hervorbrachte. Das mag, wie Stephanie Fleischmann in ihrer gleichnamigen, im Jahr 2011 von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommenen Studie, erläutert, zwei Gründe haben.
Ein Grund dafür liegt zweifellos darin, dass die katastrophale Niederlage der spanischen Armee gegen die aufständischen Rifkabylen unter ihrem Führer Abd-el-Krim, bei der die Spanier im Juli 1921 bei Annual im Nordosten des seit 1912 bestehenden Protektorats Spanisch-Marokko innerhalb weniger Tage mehr als zehntausend Soldaten verloren, ebenso wie der spanisch-marokkanische Rifkrieg (1921–1926) insgesamt, lange Zeit im Schatten des wesentlich größeren Interesses für den nachfolgenden Bürgerkrieg und die Zeit der Franco-Diktatur standen und erst spät, um die Jahrtausendwende, und dann jedoch mehr oder weniger gleichzeitig in den Fokus der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie einer breiteren Öffentlichkeit traten.1 Dieses wenn auch verspätete Interesse erscheint indessen umso mehr angebracht, als der spanische Kolonialkrieg in der Folgezeit nicht nur in der spanischen Gesellschaft und Literatur stets im Hintergrund präsent blieb, sondern auch entscheidend zum Ausbruch und Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs beitrug und damit die spanische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert entscheidend beeinflusste. So „verspielte die Republik wohl eine wichtige Chance, den Bürgerkrieg zu gewinnen“ (337), wie Fleischmann ganz am Ende ihrer Studie hervorhebt, als sie im September 1936 darauf verzichtete, auf das Angebot der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung einzugehen, sich gegen die nationalistischen Putschisten zu erheben und dafür im Gegenzug die Unabhängigkeit des Rifgebiets zugesichert zu bekommen.
Der zweite Grund, warum das Desaster von Annual als „textuelles Ereignis“ (9) bislang nicht zu einem festen literarhistorischen Datum wurde, ist darin zu sehen, dass die darüber produzierten Texte in der großen Mehrzahl aufgrund ihres formal traditionellen, trivialen, dokumentarischen und oft stark ideologischen Charakters nicht den ästhetischen Kriterien genügten, die für die Aufnahme in den literaturgeschichtlichen Kanon zu erfüllen waren – um so etwa den Werken der generación del 98 oder der generación del 27 an die Seite gestellt werden zu können. Lediglich drei Texte aus dem großen Korpus, auf den sich Fleischmann stützt, konnten bisher nennenswerte literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangen: José Díaz Fernández’ episodischer Erzähltext El blocao (1928), Ramón José Senders Roman Imán (1930) und La ruta (1943), der Mittelteil von Arturo Bareas autobiographischer Spanientrilogie La forja de un rebelde (1941–1944).
Fortsetzung im nächsten Heft der Romanischen Studien