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Zum Artikel von Annette Schiller

Die 1914 verbreitete Kriegsbegeisterung nahm auch die Romanisten nicht aus. Briefe und Tagebuchnotizen aus der Zeit zeigen, wie Lehrende und Studenten unseres Faches, deren gemeinsamer Bezug die Zugehörigkeit zum Romanischen Seminar Halle war, vom „Großen Krieg“ betroffen waren und führen uns die Situation und Geisteshaltung der Professoren und Studenten und die Rückwirkungen des Krieges auf das Fach vor Augen.

Victor Klemperer:

Wie sollte mir heute die Selbstverständlichkeit des ‚Wir‘ und der vaterländischen Begeisterung und der vollkommenen Überzeugtheit von Deutschlands schneeweißer Unschuld, von Deutschlands berechtigtem Anspruch auf die Vorherrschaft in Europa aus der Feder fließen? Ich bringe es nicht über mich, das neuformend nachzuerzählen, […] Heute, im Herbst 1940, wo ich zwischen meinen damaligen Mitbürgern enger und rechtloser als ein Kriegsgefangener lebe, ist meine Erinnerung ganz gefühlsmäßig erfüllt von jenem einheitlichen Enthusiasmus des Sommers 1914. Und nun, im Durchlesen der alten Aufzeichnungen, sehe ich mit Erstaunen, wie ich damals, gerade aus der unbefangenen Selbstverständlichkeit meines Deutschgefühls heraus, in aller Begeisterung und bei aller Unerschütterlichkeit jener Grundüberzeugungen dennoch fast von Anfang an auch Stunden des Selbstbesinnens und des Zweifelns hatte. Auch diese kritischen Ergüsse kann ich nicht nachformen; ich würde sonst nie die Furcht los, in mein damaliges Empfinden hineinzufälschen, was ich heute denke.
Victor Klemperer, Curriculum vitae. Erinnerungen 1881–1918, hrsg. von Walter Nowojski, 2 Bde. (Aufbau-Verlag: Berlin, 1996), Bd. 2, 173–74.

Abbildung: Halle (Saale), das Robertinum der Universität
Karl Voretzsch, der Hallenser Romanist leistete von 1914 bis 1917 als Oberleutnant Kriegsdienst im Heer. (Quelle)

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