Marco Thomas Bosshard, „Nationalsozialismus und Genozid in der spanischen Gegenwartsliteratur: Ikonographien des Bösen und fiktionalisierte images malgré tout bei Ricardo Menéndez Salmón“, Romanische Studien 4 (2016)
1. Einleitung: Erinnerungskultur siebzig Jahre nach Kriegsende
2. Literatur und Shoah in Spanien
3. Menéndez Salmóns Trilogie des Bösen und ihre ikonotextuelle Weiterführung
4. Von der Ikonographie zur Ikonologie des Bösen: Medusa
Der vorliegende Artikel untersucht die literarischen Repräsentationen von nationalsozialistischen Kriegsverbrechen in den Romanen La ofensa und Medusa des spanischen Schriftstellers Ricardo Menéndez Salmón. Ausgehend von einer Kontextualisierung der Romane im Gesamtschaffen des Autors werden intertextuelle Bezüge nicht nur zu anderen literarischen Texten, sondern auch zur Theorie herausgearbeitet. Gegenüber dem im Zusammenhang mit Holocaust-Darstellungen oft postulierten ‚Bilderverbot‘ realisiert Menéndez Salmón in Anlehnung an Didi-Huberman fiktionalisierte images malgré tout im Medium der Sprache, deren Funktion über die Darstellung von Nazi-Verbrechen hinausgeht und eine metamediale Reflexion über den Zusammenhang von Bild, Sprache und Schrecken anstößt.
Auszug aus dem Fachaufsatz
von Marco Thomas Bosshard:
Im Zuge der Masse an Veröffentlichungen 2014 anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs hundert Jahre zuvor, 2015 dann auch wieder in der breiten Berichterstattung über das Weltkriegsende und vor allem die Befreiung der Konzentrationslager vor siebzig Jahren hat sich gezeigt, welche Relevanz die kulturwissenschaftliche Theorie zu den lieux und milieux de mémoire1 noch immer besitzt: Die Weltkriege als europäischer, ja weltweiter Erinnerungsort hallen im kollektiven Gedächtnis nach wie vor nach.2 Und dennoch verändert sich das Phänomen, vollzieht sich gerade jetzt jener Paradigmenwechsel, jener Umbruch, den die Theorie längst zu benennen weiß, deren konkrete Auswirkungen jedoch noch nicht wirklich absehbar sind: Wie soll eine angemessene Erinnerungskultur angesichts sterbender Zeugen bzw. sich auflösender Erinnerungsmilieus auch über den immer größer werdenden zeitlichen Abstand hinweg weitergeführt werden? Dass hier gerade die französische Theoriebildung die gesellschaftliche und auch kulturwissenschaftliche Debatte stark beeinflusst hat, ist angesichts der unmittelbaren Involvierung Frankreichs in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, auch angesichts des Todes von Maurice Halbwachs im KZ Buchenwald, nicht ganz so überraschend. Für Spanien hingegen trifft dies nicht oder nur höchst mittelbar zu. Zur zeitlichen Distanz zu den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs gesellt sich hier obendrein eine räumlich-geschichtliche Distanz, die fast jegliche Äußerungen von dort zu diesem Thema auf den ersten Blick als obsolet erscheinen lassen.
Ein Trugschluss. Wenn man den Nationalsozialismus als kulturelles Phänomen der ersten Hälfte des Jahrhundert – als Spitze der Unkultur der Moderne – nicht allein vor dem Hintergrund spezifisch deutscher Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts erklären mag, sondern sein antisemitisches, rassistisches, faschistisches Substrat mit Diskursen der Epoche, wie sie in der gesamten Romania präsent sind, auf Schnittmengen hin untersucht, dann wird man selbstredend auch in Spanien fündig werden. Die künstlerische Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung dieser Diskurse hingegen gehorcht dort einer Eigendynamik, die uns in dieser Form weder aus dem deutschen noch aus dem französischen oder italienischen Kontext geläufig ist.
Angesichts der formalen Neutralität Spaniens im Zweiten Weltkrieg mag man vermuten, dass die spanische Gesellschaft, deren Erinnerungskultur und -arbeit sich naturgemäß bis heute um das Trauma des eigenen Bürgerkriegs dreht, zum Nationalsozialismus und zur Shoah als dem Thema einer kritischen literarischen Auseinandersetzung nur einen sehr mittelbaren Zugang hat, der entsprechend auch quantitativ nicht sonderlich ins Gewicht fallen dürfte. Und tatsächlich: Das Genre der mehr oder minder breit rezipierten KZ-Zeugenliteratur nach dem Modell eines Primo Levi, Robert Antelme, Jean Améry, Jean Cayrol, Elie Wiesel oder auch Imre Kértesz ist in Spanien nahezu inexistent3 – sieht man einmal von Joaquim Amat-Piniella, Max Aub und natürlich vor allem von Jorge Semprún4 ab. Alle diese spanischen Autoren wurden jedoch nicht aufgrund ihrer jüdischen Abstammung, sondern aus politischen Gründen verfolgt. Ebenso wenig sind sie in Vernichtungslagern im engeren Sinne interniert gewesen, sodass sie als Zeugen der Shoah nur bedingt und indirekt angeführt werden können.
So wie Semprún und Amat-Piniella ihre Erinnerungen an die Lager nicht auf Kastilisch, sondern auf Französisch bzw. Katalanisch niederschrieben, gehen auch die im internationalen Vergleich späten Anfänge der nunmehr nicht mehr vorwiegend autobiographisch geprägten, stärker fiktionalisierenden KZ-Literatur in Spanien interessanterweise ebenso wenig einher mit der Verwendung der spanischen bzw. kastilischen Sprache: Maria Àngels Angladas katalanischsprachiger Roman El violí d’Auschwitz, erschienen notabene 1994, eröffnete in Spanien eine Reihe von – in der Zählung Marteen Steenmeijers – gerade einmal acht, in der Folge auch auf Kastilisch verfassten Romanen zum Themenkreis der Shoah, die bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit Ausnahme von Antonio Muñoz Molina und seinem Roman Sefarad (2001) von mehrheitlich wenig bekannten Autoren veröffentlicht wurden.5 In den letzten zehn Jahren schlossen sich daran einige weitere Romane an, so z.B. jüngst der eher kommerziell ausgerichtete Roman La bibliotecaria de Auschwitz (2012) von Antonio G. Iturbe, Javier Cercas’ Roman El impostor (2014) sowie die beiden Romane La ofensa (2007) und Medusa (2012) von Ricardo Menéndez Salmón, auf die hier näher eingegangen werden soll. Am Beispiel der letztgenannten Texte lässt sich mit Blick auf die Repräsentation der Shoah und anderer Kriegsverbrechen der Nazi-Zeit in der spanischen Gegenwartsliteratur das Zusammenspiel einer Reihe von europäischen Diskursen sowohl literarischer (Modiano, Littell, Sebald) als auch theoretischer (Didi-Huberman, Agamben, Žižek) Provenienz mit einem durch Borges und Bolaño vorgeprägten lateinamerikanischen Resonanzraum verdeutlichen, der sich immer mehr für Täter- als für Opferfiguren zu interessieren scheint.6 Ihnen allen gemeinsam ist ihr impliziter Dialog mit dem Topos des indicible, des Verbots bzw. der Vermeidung der Darstellung des Unsagbaren – und teilweise auch dessen Transgression –, wie er etwa in Claude Lanzmanns Film Shoah zum Tragen kommt.7
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der Romanischen Studien
Ill.: Michelangelo Merisi (Caravaggio): Medusa, Uffizien Florenz