Die Brache in Stadt- und Raumwissenschaften

Beiträge, Französisch

Terrain vague

im kommenden Heft von Romanische Studien berichten Daniel Ritter und Jacqueline Maria Broich (Köln) vom DFG-Projekt „Terrain vague: Ästhetik und Poetik urbaner Zwischenräume in der französischen Moderne“ (Romanisches Seminar der Universität zu Köln, Projektleiter Wolfram Nitsch) und vom Workshop vom 24. und 25. April 2015 „Terrain vague: Die Brache in den Stadt- und Raumwissenschaften“

Auszug aus dem Projektbericht:

Ob Filme, Romane, Gedichtbände, Comics, Fotografien, Gemälde, symphonische Kompositionen, Pop-Alben oder Ausstellungen: Der Begriff des terrain vague hat in den letzten Jahrzehnten als Titel für so ziemlich alles gedient, was vom Kunstbetrieb her auf den Markt kommt – und nicht nur aus Frankreich. Doch obwohl sich dieser Ausdruck einer solch großen Beliebtheit erfreut, versteckt sich – zumindest hierzulande – hinter dem vagen Charme, den er verbreitet, stets eine gewisse Ratlosigkeit darüber, was er eigentlich bezeichnet. Noch häufiger als seine denotative Wortbedeutung aber bleibt seine eng damit verknüpfte 200-jährige Geschichte im Dunkeln, die sich fast lückenlos durch die französische Literatur nachzeichnen lässt.

Geprägt wurde der Begriff des terrain vague, für welchen es diverse Vorläufer in älteren Sprachstufen des Französischen gibt, in der Romantik. Namentlich ist es François-René de Chateaubriand, der in seinem Itinéraire de Paris à Jérusalem (1811) den Ausdruck erstmalig gebraucht und damit das seinerzeit unmittelbar vor der Stadtbefestigung Athens gelegene, relativ leere Gelände bezeichnet, in dessen Mitte die Säulen des Olympieion stehen. Zwei Jahrzehnte später verlagert Honoré deBalzac das terrain vague an den Pariser Stadtrand und lässt es dort als einen Ort auftauchen, an dem sich Kinder ungestört (und ohne zu stören) dem Spielen hingeben können. Von nun an taucht es in literarischen Darstellungen des Pariser Stadtraums immer häufiger auf, verfestigt seine Bedeutung als ‚leeres Gelände in der Stadt oder am Stadtrand‘ und avanciert zu einem Kuriosum des urbanen Raums, dessen semantisches Potential und Faszinationskraft bis heute ungebrochen sind. Die unterschiedlichsten Attribuierungen machen es noch im 19. Jahrhundert zu einem städtischen Ort, an dem Dinge geschehen, die hors du commun sind: einzigartige, sonderbare, abgründige, grenzüberschreitende Dinge.

Ab 1865 geraten sie für ein Vierteljahrhundert lang in den naturalistischen Blick ÉmileZolas, der die leeren Gelände des sich während des Zweiten Kaiserreichs rasant und radikal verändernden Paris in den unterschiedlichsten, für die Kulturgeschichte der Stadt höchst relevanten Facetten ausleuchten wird. Es ist die Zeit tiefgreifender Veränderungen des gesellschaftlichen Raums. Das soziale und geographische Ordnungsschema ‚Stadt/Land‘ wird durch die Entfestigung der Stadt eingerissen, es entsteht der neue Raum der industriellen Vorstadt und gleichzeitig kommt es zu einer sozialen Umschichtung vom Bauerntum zur Arbeiterschaft und damit zur Geburt einer neuen Klasse, dem Proletariat. Industrialisierung und Urbanisierung gehen Hand in Hand, und das Verschwinden alter Ordnungen macht sich besonders dort bemerkbar, wo geographische und soziale Grenzen gleichermaßen ins Wanken geraten, wo neue Ränder entstehen und neue Zwischenräume. Genau in diesem Bereich tauchen die meisten terrains vagues der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und werden dort bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf ihre sozialräumliche Bedeutung hin ausgelotet. Auf diese Weise wird das terrain vague nicht nur zu einem Ort des Sonderbaren, sondern auch zum Vexierbild der geschichtlichen Entwicklung des städtischen Lebensraums, in dem sich wie in einem Prisma die Linien dieser Geschichte bündeln und brechen.

Neben den beiden genannten Aspekten einer Poetik des terrain vague, dem Potential für außergewöhnliche Ereignisse einerseits und der Funktion als Guckfenster in die Dynamik der sozioökonomischen Stadtentwicklung andererseits, muss schließlich aber noch ein dritter, entscheidender Aspekt genannt werden: die Ästhetisierung des terrain vague. Denn im Unterschied zum Begriff der Brache, der als terminus technicus innerhalb der Siedlungsgeographie an handfeste ökonomische Nutzungsmerkmale einer Fläche gebunden ist, fällt in dem Attribut vague die Etymologie des lateinischen vacuus, womit die objektive Eigenschaft der Leere benannt wird, mit der Etymologie des ebenso lateinischen vagus zusammen, womit die subjektive Qualität eines perzeptuell und intellektuell nicht ganz zu erfassenden Gegenstands gemeint ist. Aus diesem Grund geht mit dem Begriff des terrain vague, so wie er literarisch verwendet wird, je schon eine Perspektive einher, welche diesen seltsamen urbanen Ort zu einem Phänomen ästhetischer Erfahrung macht. Dabei erfährt das terrain vague parallel zum spektakulären Wandel des urbanen Raums einen entscheidenden Wandel seiner Wahrnehmung: War es einige Jahrzehnte lang ein Ort, der maßgeblich aufgrund seines morbiden, finsteren, melancholischen und ambigen Charakters fasziniert hat, erfährt er gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine ästhetische Aufwertung.

Natürlich nimmt die Geschichte künstlerischer Auseinandersetzungen mit den urbanen Brachflächen auch im späteren 20. Jahrhundert ihren Lauf. In dieser Zeit sind es wiederum die deutlichen Zäsuren der Stadtentwicklung, die Veränderungen der urbanen Gesellschaft und die konkreten Umgestaltungen der Stadtstruktur, welche sich in der literarischen und immer mehr auch filmischen Darstellung des terrain vague niederschlagen. So könnte man im Hinblick auf die Stadtbrachen sagen: Was die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist, das ist die Tertiärisierung und Globalisierung im 20. Jahrhundert. Sowohl die Stadtzentren als auch ihre Peripherie verändern sich in Folge der Suburbanisierung und der Modernisierung der verschiedenen Wirtschaftssektoren erneut enorm. Und während der soziale Raum der Stadt zunehmend Tendenzen der Homogenisierung und der Regulierung ausgesetzt ist, mausert sich das terrain vague langsam, aber sicher zu einem Reservat für ortlos gewordene Erfahrungen der Urbanität und zu einem Gegenort der Freiheit inmitten eines überdeterminierten, von Effizienzimperativen regierten Stadtraums.

Dieser geschichtliche Abriss soll lediglich einen Einblick geben in das ungeheure semiotische und ästhetische Potential, welches zu erschließen das erklärte Ziel des Forschungsprojekts „Terrain vague: Ästhetik und Poetik urbaner Zwischenräume in der französischen Moderne“ ist. Wie wird das genannte Potential in Film und Literatur ausgeschöpft und umgesetzt? Welche Rollen und welche Bedeutungen erhalten die terrains vagues speziell in den narrativen Zusammenhängen der untersuchten Texte und Filme? Und welche Rückschlüsse lassen sich daraus über die Wahrnehmung und die Verfassung des städtischen Lebensraums ziehen? Dies sind drei der Fragerichtungen, welche unsere Forschung orientieren.

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