Weltliteratur – Literaturen der Welt (W. Asholt)

Beiträge, Französisch, Spanisch

Wolfgang Asholt, „Von der Weltliteratur zu den Literaturen der Welt?“, Vorabdruck der Rezension für Romanische Studien.

Rez. von Ottmar Ette, WeltFraktale: Wege durch die Literaturen der Welt (Stuttgart: J. B. Metzler, 2017), IX, 392 S.


Vorabdruck der Rezension:

Von der Weltliteratur zu den Literaturen der Welt?

Wolfgang Asholt (Humboldt-Universität zu Berlin)

Wenn es zur Zeit zu einer Konjunktur des Begriffs der „Weltliteratur“ und der Debatten um ihn kommt,1 so ist dies zweifelsohne der gegenwärtigen Globalisierungsphase geschuldet, die wegen ihrer Geschwindigkeit und Unausweichlichkeit auch die Literaturwissenschaft nicht ignorieren kann. „Weltliteratur“ kann allerdings auch heute in höchst unterschiedlicher Weise verstanden und definiert werden: im Sinne ihres Erfinders als ein bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts kaum und vor allem nicht im damaligen Ausmaß möglich gewordener Austausch der (west-östlichen) Literaturen, im Sinne von Erich Auerbachs Mimesis und seiner „Philologie der Weltliteratur“ als das diese Literaturen einigende Band des „Realismus“ und eine zunehmende Homogenisierungstendenz, oder wie die meisten aus der Comparative Literature stammenden Konzeptionen, etwa David Damroschs What Is World Literature?2, als heuristischer Begriff für weltweit (bzw. auf dem Horizont der nordamerikanischen Humanities) kanonisierte Werke der Nationalliteraturen. Die von Ottmar Ette vorgelegte Studie unterscheidet sich grundlegend von diesen Ansätzen, auch wenn sie sich, die jeweiligen Globalisierungsphasen berücksichtigend, durchaus in der Tradition von Goethe und Auerbach sieht. Wie diese in ihrer Epoche versteht Ette die gegenwärtige Phase der Globalisierung als einen Paradigmenwechsel, wenn auch einen, wie es ihn für Literatur und Literaturgeschichte so tiefgreifend und umwälzend noch nicht gegeben hat. Dem versucht er nicht nur begrifflich, sondern auch konzeptionell Rechnung zu tragen.

Wenn ein Buch den Titel WeltFraktale trägt, und im Untertitel Wege durch die Literaturen der Welt verspricht, betont es deutlich theoretische und konzeptionelle Differenzen in Hinblick auf die genannten und andere Weltliteratur-Modelle. Der mehrfach lesbare Begriff der „WeltFraktale“ verweist zugleich auf die Selbstähnlichkeit von Fraktalen als der notwendigen Voraussetzung des Lebenswissens der Literatur, aber auch darauf, dass wegen dieser vielperspektivischen Sichtweise es nicht nur die Aufgabe der Literatur und der Literaturwissenschaft ist, die Welt (besser) zu verstehen, sondern dass die Multiperspektivität sie dazu in besonderer Weise befähigt. Diese „Kraft der Philologie“ bildet in schon fast Auerbachscher Weise ein Kriterium für „WeltFraktale“, nicht umsonst wird im kurzen „Vorwort“ die „signifikante Vorreiterrolle“ (3) Erich Auerbachs betont. Zugleich aber wird mit den Wegen durch die Literaturen der Welt die Auerbachsche These einer (immer) homogeneren „Weltliteratur“ aber als ein überholtes Modell einer früheren Globalisierungsphase markiert. In der gegenwärtigen Phase gibt es nach Ette weniger eine Tendenz zur Reduzierung oder Vereinheitlichung der sprachlichen und kulturellen Unterschiede als vielmehr eine solche zur Differenzierung, Heteronomisierung und Komplexitätssteigerung. Durch das Labyrinth oder das Rhizom der „Literaturen der Welt“ sind immer nur „Wege“ möglich (É. Glissant), was allerdings auch bedeutet, dass immer wieder neue und andere Wege eingeschlagen werden können.

Dieser komplexitätssteigernden Konzeption entspricht auch die Gliederung des Bandes. Die dreizehn Kapitel des Buches sind aus Vorträgen (der letzten vier Jahre) gespeist, die von Beginn an „zusammengedacht“ (3) wurden; Teile der einzelnen Kapitel sind schon veröffentlicht worden.3 Jedes einzelne Kapitel schlägt einen anderen Weg vor, um Grenzen infrage zu stellen und zu überwinden und bildet damit einen Baustein zu einer „Epistemologie der Erweiterung“. Ein Überblick des „Inhalts“ verdeutlicht allerdings, dass es sich nicht um ein „Flanieren“ durch die Literaturen der Welt handelt, sondern dass die dreizehn Wege stets exemplarisch für fraktale Selbstähnlichkeitsverschiebungen sein sollen. Diese „Wege“ oder Kapitel sind fünf großen Teilen zugeordnet, die auf unterschiedlichen Erkenntnisebenen operieren. Die ersten beiden Kapitel sind unter dem Titel „Auf dem Weg zu einer Philologie der Literaturen der Welt“ (der unübersehbar auf Auerbachs „Philologie der Weltliteratur“ verweist), dem „Theorie“-Teil zugeordnet und Weltliteratur-historisch konzipiert, wobei in der oder den Vorgeschichten schon der „Vor-Schein“ heutiger Konstellation erblickt werden kann. Dies gilt für die „Ausblicke von Erich Auerbachs Philologie der Weltliteratur“ vielleicht noch mehr als in der „Republik der Weltliteratur“ französischer (Pascale Casanova) oder die „World Literature“ nord-amerikanischer Provenienz (z. B. David Damrosch). Der zweite Teil umfasst unter den Titelbegriff „Vektoren“ drei Kapitel, die sich dem „politischen und kritischen Potential relationaler Philologie“ widmen. Mit dem zwischen Theorie und Konzeption changierenden Begriff der „Vektoren“ werden stets Verschiebungen bzw. Wechsel von Bezugssystemen analysiert: während einer Epoche (anhand der „Berliner Debatte um die Neue Welt“), mit den „Reiselandschaften“ (von Forster und Alexander von Humboldt bis zu Barthes und Glissant) geschieht dies epochen- und systemübergreifend, und mit „Karneval und anderen Katastrophen“ in Hinblick auf einen als „globalen Archipel“ verstandenen Ort (New Orleans), wobei die Reise innerhalb dieses Teils von „Wissenspolitiken“ über „Nomadisches Wissen“ zur „Politischen Ökologie“ und den „Landschaften der Theorie“ geht.

Der dritte Teil widmet sich unter und mit dem Titel „Archipel I“ einem Begriff, der seit einem mit Gesine Müller herausgegebenen Band4 Ettes Literaturkonzeption umfassend prägt, hier aus der Perspektive „Occidentes – Orientes“. Dies geschieht einerseits am Beispiel der fraktalen „Kartographien“ Roland Barthes’ und andererseits anhand des „Mittelmeers als Bewegungsraum“, in diesem Falle von der Frühgeschichte bis zu unserer Gegenwart.

„ZeitRäume“ als der vierte Teil (mit drei Kapiteln) widmet sich mit Balzacs La peau de chagrin einem Klassiker der Weltliteratur und interpretiert die Literatur als „LebensMittel“, anschließend geht es um die „Vektorizität“ der „Unruhe“ von Humboldt bis Vargas Llosa und schließlich, am Beispiel der archipelischen Gedichte José A. F. Olivers, um das „Lebenswissen der Literaturen der Welt“. Die Spannbreite erstreckt sich also von der (prekären) Totalität des Balzacschen Lebens- und Gesellschaftskonzepts der Comédie humaine bis zur heutigen „Dichtung ohne festen Wohnsitz“.

„Archipel II“, das den Band mit noch einmal drei Kapiteln abschließt, wechselt von der Alten (Occidentes – Orientes) in die „transareale“ Neue Welt, wobei die „Archipele des Wissens“ und die transarealen „Globalisierungen“ im Mittelpunkt stehen. Dabei geht Ette vom „Modernismus“ bis zur „Postmodernität“ auf für ihn paradigmatische Autoren ein (Martí, Ortiz und Lezama Lima), interpretiert Garcilaso de la Vegas Werk als einen Beitrag zu einer „transarealen Globalisierungsgeschichte“ und erweitert die Perspektive in Hinblick auf eine transareale Vektorizität von Produkten des Kunsthandwerks in West-Ost-Richtung über den Pazifik und Atlantik zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert.

Dieser Überblick verdeutlicht, dass es sich um jeweils anders gelagerte und mit unterschiedlichen Karten durchschrittene „Wege durch die Literaturen der Welt“ handelt, wobei die ersten drei Globalisierungsphasen schon auf die vierte, d.h. auf die „vielperspektivische Sichtweise“ (3) der WeltFraktale verweisen. Mit den hier entwickelten Konzeptionen sowie jenen der „Literatur in Bewegung“ und der „Literaturen ohne festen Wohnsitz“, auf die immer wieder verwiesen wird, soll der erheblichen Komplexitätssteigerung, die mit der gegenwärtigen Phase der Globalisierung einhergeht, sowie ihren Asymmetrien Rechnung getragen werden. Dies gelingt in den dreizehn exemplarischen Kapiteln gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektivierung in jeder Hinsicht überzeugend. Der (erhebliche) Anspruch, der damit erhoben wird, ist jener, einen der Auerbachschen „Philologie der Weltliteratur“ vergleichbaren Paradigmenwechsel einzuleiten. Inwiefern ein solches, erneut aus einem romanistischen Kontext hervorgegangenes, in ihm gründendes und aus ihm entwickeltes Modell angesichts des (welt)literaturwissenschaftlichen Feldes unserer Zeit Chancen hat, seinem Anspruch entsprechend wahrgenommen zu werden,5 lässt auch Rückschlüsse auf den Grad der Offenheit des literaturwissenschaftlichen Feldes zu und seine Bereitschaft, Zentralisierungsmechanismen und Hierarchien unter den Literaturen der Welt zu verringern.

Die beiden Theorie-Kapitel, auf die dem Anspruch des Bandes entsprechend ausführlicher eingegangen werden soll, führen von Auerbachs „Philologie der Weltliteratur“ (Kap. 1) „zu einer viellogischen Philologie der Literaturen der Welt“ (Kap. 2), wobei zwischen Auerbachs Projekt und der „künftigen Philologie der Literaturen der Welt“ (Kap. 1) eine Kohärenz und Kontinuität etabliert wird, die zwischen der „Republik der Weltliteratur“ (Pascale Casanova) und der „viellogischen Philologie“ nicht existiert. Mit beiden Kapiteln situiert Ottmar Ette sein eigenes Projekt nicht nur (literatur-) wissenschaftsgeschichtlich, sondern setzt sich, vor allem im zweiten Kapitel, auch mit gegenwärtigen Weltliteratur-Positionen auseinander.

Im ersten Kapitel wird die Verbindung von der Auerbachschen Vorgeschichte der „Weltliteratur“ zu den gegenwärtigen „Literaturen der Welt“ in sechs mit Untertitel markierten Schritten vollzogen. Die ersten drei sind dem Universum der Mimesis gewidmet (Dante; Auerbach selbst; Woolf, Proust und Joyce), und der zweite Teil dekliniert „Welten“: die „der Weltgeschichte“; die „der Weltliteratur“ und die „der Literaturen der Welt“. Zu Recht beton Ette im Dante-Teil die Bedeutung der „Erfindung der Figur des Lesers“, die auf die „Figura […] des Philologen“ verweist. Dante hat nicht nur, wie Auerbach es formuliert, „die Welt durch seine Sprache neu entdeckt“ (6), das Dante-Kapitel der Mimesis ist auch eine mise en abyme der Situation Auerbachs und damit „jener Widerständigkeit des Ästhetischen“ (11), die die Voraussetzung für eine „Zukunft eines grenzüberschreitenden Zusammenlebens“ (12) bildet. Auerbach erfährt mit dem so gelesenen Dante „im zeitlosen Sein das innergeschichtliche Werden“ (20). Dies berechtigt Ette, Auerbach für ein „ÜberLebenswissen“ (15), eine „Lebenswissenschaft“ (ebd.) und für eine „Philologie ohne festen Wohnsitz“ (14) in Anspruch zu nehmen. Im folgenden Teil sind Proust, Joyce und Woolf, mit der die Mimesis endet, nicht nur Repräsentanten eines neuen „Einstellung des Schriftstellers zur Wirklichkeit der Welt“ (21), etwa im Vergleich mit den „Realisten“ des 19. Jahrhunderts, sie belegen auch, dass sich die Literatur „einem direkten Erleben von Wirklichkeit als überlegen erweist“ (21). Damit aber partizipiert die Philologie „an jenem Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Leben“ (27), oder um es mit einer für Ette typischen Formulierung zu sagen, „Die Literatur erprobt und entfaltet ein Wissen, das in seiner undisziplinierbaren Spezialisierung auf das Nicht-Spezialisierbare Orientierungspunkte für ein philologisches Wissen offeriert“ (26). Wenn dieses Auerbachsche Schreiben als „literaturwissenschaftlich und literarisch zugleich“ (26) qualifiziert wird, kommt damit ein Literaturbegriff zum Ausdruck auf den später eingegangen wird.

Mit den drei folgenden „Welt“-Teilen nähert sich die Argumentation den „Literaturen der Welt“ an, beginnend mit der „Welt der Weltgeschichte“ (27 ff.). Ette bezeichnet „die althergebrachten Grenzen Europas“ (29) als jene, die der Komplexität „von Erich Auerbachs Mimesis ihren Grenzen“ (28) setzen, und aus dieser begrenzten) Perspektive kann Auerbach seine These einer „homogenisierenden Globalisierung“ (30) entwickeln, die für die heutige Phase einer erneut beschleunigten Globalisierung keine Gültigkeit beanspruchen kann. Diese „abendländische Fundierung“ (34), so die Programmatik der „Welt der Weltliteratur“ (31 ff.) setzt der Mimesis zwar Grenzen, hält aber ein konzeptionelles Innovationspotential bereit, des „auch heute bei weitem nicht ausgeschöpft ist“ (35), und das Ottmar Ette für seine Arbeit umfassend beansprucht.

In diesem Sinne bildet Auerbachs „Philologie der Weltliteratur“ zugleich „Ansporn und Anspruch“ (37), wie der Teil „Die Welt der Literaturen der Welt“ (36 ff.) postuliert. Wenn Auerbach der Philologie die Aufgabe stellt, „eine in ihrer Vielfalt einheitliche Vorstellung vom Menschen zu entwickeln“ (37, Kursivierung Ette), so soll das Konzept der „Literaturen der Welt“ (ebd.) dem Auerbachschen Erbe Rechnung tragen. „Vielfalt“ heißt für Ette auch, von jeder „einzelnen, singulären Logik“ (38) Abschied zu nehmen und stattdessen zu konstatieren und zu postulieren: „Die Zukünfte der Philologie sind viellogisch.“ (39). Erich Auerbach wird also in doppelter Weise in Anspruch genommen: als Begründer einer „Philologie der Weltliteratur“ (die im übrigen erst durch Edward Saids Übersetzung wirklich wirksam geworden ist) während einer historisch gewordenen Phase der Globalisierung, und als Prophet und Berufungsinstanz für die „Literaturen der Welt“, die der gegenwärtigen Phase der Globalisierung angemessen Rechnung tragen.

Im zweiten Kapitel („Von der Republik der Weltliteratur zu einer viellogischen Philologie der Literaturen der Welt“, 40–68) werden zwei Konzeptionen schon mit dem Titel gegenübergestellt: die der République mondiale des lettres (1999) von Pascale Casanova, die seit ihrem Erscheinen kontrovers diskutiert und überwiegend kritisiert wird, und die Ettes. Auch wenn Ette die Begrifflichkeit Casanovas kritisiert, geht es ihm vor allem um die mit dem Begriff der „Weltliteratur“ verbundenen „Grundprobleme“, nämlich die mit einem Peripherie-Zentraum-Modell implizit oder explizit einhergehende Hierarchisierung und Homogenisierung. Dem stellt Ette zunächst das Transkulturationsmodell Fernando Ortiz’ und das Modell der Bewegungsräume Lezama Limas entgegen. Anschließend widmet er sich dem derzeit dominierenden Modell, nämlich David Damroschs What Is World Literature? (2003), bei dem er Homologiestrukturen mit Casanova konstatiert, nur dass an die Stelle der (französischen) Republik die Statistik der MLA-Bibliographie getreten sei, die ein anderes, womöglich effizienteres Peripherie-Zentrum-Modell darstelle. Spätestens hier stellt sich die Frage, wie die vorhandenen Machtstrukturen dieses Modell erschüttert oder gar überwunden werden können.

Ette vertraut offensichtlich auf die Überzeugungskraft der diskursiven Auseinandersetzung, wenn er der „(jeweils dominanten) Logik dieser Weltliteratur“ die „vielen verschiedenen Logiken innerhalb der Literaturen der Welt (60) gegenüberstellt. Auch wenn die Bedeutung von „Austauschprozessen“ (62), etwa innerhalb der romanischen Literaturen, nicht relativiert werden soll, fragt sich doch, ob solche Prozesse die symbolische und ökonomische Macht des Zentrums beeinträchtigen können, oder ob sie nicht, wie Moretti behauptet6 nur Randphänomene angesichts eines weltweit dominierenden Modells darstellen. Wenn Ottmar Ette mit guten Gründen angesichts der verwirrenden Vielfalt „allein bewegungsgeschichtlich […] ausgerichtete Kultur- und Literaturtheorien“ (64) für hinreichend hält, unsere Gegenwart zu verstehen, so ist es nicht sicher, ob diese Polyperspektivik und ihre Polylogik ohne die entsprechenden sozialen und politischen Veränderungen das dominierende Weltliteratur-Modell verdrängen können. Wenn es so ist, dass die Literatur ein „ÜberLebensWissen“ zur Verfügung stellt, so fordert Ette zu Recht, dass daraus „ein ZusammenLebensWissen“ (67) entsteht. Doch schon mit dieser Begrifflichkeit ist ein gesellschaftlicher Horizont präsent, und ohne ein politisches, soziales und kulturelles Engagement der Literaturwissenschaft wird es ihr nicht gelingen, das „viellogische Leben der Literaturen der Welt“ (gelebte) Wirklichkeit werden zu lassen. Und da es sich, wie die an Bourdieu geschulte Casanova illustriert, stets auch um Machtstrukturen handelt, ist der Ausgang dieser Auseinandersetzung zugunsten der „Literaturen der Welt“ keine automatisierte, sich selbst erfüllende Entwicklung.

Diese theoretischen Kapitel werden durch Fallbeispiele, die ausnahmslos Studien eigenen Ranges darstellen, nicht nur illustriert, sondern in ihren Perspektiven erläutert und erweitert, so dass so etwas wie ein Kaleidoskop der „Literaturen der Welt“ entsteht, das in immer neuen Farben, Brechungen und Kombinationen die Polyperspektivik eindrucksvoll und überzeugend erfahrbar macht.

Die zweite der zwanzig „Thesen“, die Emily Apter ihrer Translation Zone (2006) voranstellt, lautet: „Global translation is another name for comparative literature“, und dies kann man in Hinblick auf die WeltFraktale übertragen mit: „Globales Übersetzen ist ein anderer Name für Literaturen der Welt“. Dem Etteschen Band fehlt ein Kapitel zur Übersetzung, doch er hat sich dieser Frage schon in anderen Studien gewidmet, vor allem im dritten Kapitel des ZwischenWeltenSchreibens (2005): „Translationen“. Dort weist er zu Recht darauf hin, „daß die Nähe des ZwischenWeltenSchreibens der literarischen Übersetzung zum Schreiben ohne festen Wohnsitz keineswegs zufälliger Natur ist“ (120–1); in den WeltFraktalen ist die Übersetzung also stets mitzudenken. Dennoch bleibt die Gleichung, Globale Übersetzung = Vergleichende Literaturwissenschaft oder Globale Übersetzung = Literaturen der Welt, auch an die konkreten Bedingungen der Translation Zone, also des Übersetzungsfeldes als Voraussetzung ihrer Möglichkeitsbedingungen gebunden. Gisèle Sapiro hat in ihrem „Übersetzungsbeitrag“ zu French Global (2010), „French Literature in the World System of Translation“, darauf hingewiesen, dass mit Übersetzungen auch Hierarchisierungsprozesse verbunden sind: „a book has a better chance of being translated from a peripheral language into a central language or into another peripheral language if it has already been translated into a central language“ (314), und es versteht sich, welches die eigentlich „zentrale“ Sprache ist. Ein großer Teil der Austausch- und Übertragungsprozesse zwischen den „Literaturen der Welt“ verläuft also über die „Zentren“ und wird von ihnen „kontrolliert“.Wenn man zudem berücksichtigt, dass von den fünfzehn Literatur-Sprachen, die 2015 und 2016 am häufigsten ins Französische übersetzt wurden, nur vier (Japanisch, Koreanisch, Chinesisch, Arabisch) außereuropäisch sind und dass mehr als 75% aller Übersetzungen aus dem Englischen stammen, stellt sich die Frage nach der „Relationalität“ der Literaturen der Welt.

Erich Auerbach hat zu Ende der Mimesis auf eine sich seiner Meinung nach ankündigende „Vereinheitlichung und Vereinfachung“ hingewiesen. Ottmar Ette, der sich in vieler Hinsicht auf den „großen“ Romanisten beruft, widerspricht ihm hierin deutlich und kann sich mit seinem Vorgehen (zumindest teilweise) auf eine Bemerkung zu Ende der „Philologie der Weltliteratur“ beziehen: „Aber je mehr die Erde zusammenwächst, umso mehr wird die synthetische und perspektivische Tätigkeit sich erweitern [Kursivierung W. A.] müssen“ (310), und diese Perspektive aufgenommen und erweitert zu haben, kann Ette für sich in Anspruch nehmen. Es gibt jedoch noch ein weiteres Verfahren, mit dem er in der Folge Erich Auerbachs steht. Ebenfalls in der „Philologie der Weltliteratur“ geht Auerbach ausführlich auf die Bedeutung ein, die der „Ansatzpunkt“ für sein magnum opus hat. Die einzelnen Kapitel der WeltFraktale bilden gewissermaßen „Ansatzpunkte“, in denen die „Dinge selbst zur Sprache kommen“ (309).

Mit den Literaturen der Welt wollen die WeltFraktale unter den (veränderten) Bedingungen einer vierten Globalisierungsphase eine „Antwort“ geben auf Auerbachs „Philologie der Weltliteratur“, das Buch, das zu einem kanonischen Text der Komparatistik geworden ist. Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur die Romanistik dieses anspruchsvolle Werk angemessen diskutiert, sondern dass es auch von der Komparatistik adäquat wahrgenommen wird. Dass dafür eine Übersetzung wohl eine notwendige Voraussetzung bildet, illustriert, dass die Bedingungen der „Literaturen der Welt“ auch für die „Philologie der Literaturen der Welt“ Gültigkeit besitzt.


  1. Etwa: Christian Moser und Linda Simonis, Hrsg., Figuren des Globalen: Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien (Göttingen: V & R unipress, 2014); der XXI. Kongress der ICLA (Wien 2016), insbesondere die Panel-Diskussion mit Emily Apter und David Damrosch: „Theory, World Literature and the Politics of Translation“; das DFG-Symposion: „Vergleichende Weltliteraturen = Comparative World Literatures“ (Villa Vigoni, 2018).
  2. David Damrosch, What Is World Literature? (Princeton: Princeton University Press, 2003).
  3. Zum Beispiel: Teile von Kap. 5, unter dem englischen Titel in: Ottmar Ette und Gesine Müller, Hrsg., New Orleans and the Global South, Pointe 17 (Hildesheim: Olms, 2017) oder Teile von Kap. 8, ebenfalls unter einem englischen Titel in: Ottmar Ette, Yvette Sánchez und Veronika Sellier, Hrsg., LebensMittel: Essen und Trinken in den Künsten und Kulturen (Zürich: Diaphanes, 2013).
  4. Ottmar Ette, Hrsg., Worldwide: archipels de la mondialisation = archipiélagos de la globalización (Frankfurt am Main: Vervuert, 2012)
  5. Etwa im Zusammenhang der in Fußnote 1 erwähnten Debatten, an denen die Romanistik kaum beteiligt ist.
  6. Franco Moretti, Graphs, Maps, Trees: abstract modes for a Literary Theory (London: Verso, 2005).

Ill.: Thomas Guignard, Curtain of books (A detail of Jan’s latest book sculpture, „Rosace“).

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