Wolf Lepenies: Macht am Mittelmeer

Beiträge, Französisch

Joseph Jurt, „Ein Subtext Frankreichs: Mittelmeeridee, Latinität und Katholizismus. Zu Wolf Lepenies, ‚Die Macht am Mittelmeer‘“, erscheint in Romanische Studien 4 (2016).

Wolf Lepenies, Die Macht am Mittelmeer: französische Träume von einem anderen Europa (München: Carl Hanser Verlag, 2016), 341 S., ISBN : 978-3-446-24732-1, € 24,90 (D).

Auszug aus der Rezension:

Wolf Lepenies, den ehemaligen Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, braucht man nicht vorzustellen. Sein Buch Die drei Kulturen1 ist zu einem Standardwerk geworden, auf das man immer wieder mit Gewinn zurückgreift. Der Autor zeichnet sich nicht nur durch seine herausragende Kenntnis der genannten drei Wissenschaftskulturen aus, sondern auch durch die (seltene) gleichzeitige Vertrautheit mit der deutschen, französischen und der angelsächsischen Geisteswelt. Mit seiner Monographie über den Literaturkritiker Sainte-Beuve2 beleuchtete er eine bedeutende Persönlichkeit des französischen Geisteslebens des 19. Jahrhunderts, die man nach Prousts Contre Sainte-Beuve zu unterschätzen geneigt war.

Wolf Lepenies ist auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt durch seine Interventionen in der Presse, zunächst in der Süddeutschen Zeitung und seit ein paar Jahren in der Welt. In diesen Beiträgen schätzt man immer wieder den hell wachen und immer bestens informierten Blick des Autors auf aktuelle Tendenzen namentlich in Frankreich, die der gängigen Berichterstattung zumeist entgehen3. So fiel ihm schon früh die starke Mittelmeerorientierung Frankreichs auf, die etwa in Sarkozys Idee einer Mittelmeerunion mündete, die den Machtzuwachs Deutschlands kompensieren sollte. Schon 1999 hatte er dafür plädiert, Frankreich solle für Deutschland weit stärker als bisher zum „Mittler zwischen Süd und Ost“ werden, damit es in Europa vom Konflikt zur notwendigen Kooperation der Himmelsrichtungen komme: „Es tut uns Deutschen gut, von Frankreich und anderen mediterranen Ländern an die islamische Prägung von Mittelalter und Mittelmeer erinnert zu werden.“4

Das Scheitern der intendierten Mittelmeerunion hatte Lepenies mehrfach publizistisch kommentiert. Daraus entstand die Idee einer historischen Vertiefung in einer Monographie, die nun vorliegt: Die Macht am Mittelmeer: französische Träume von einem anderen Europa. Im Zentrum stehen die Versuche, eine (politische) Union der ‚lateinischen Nationen‘ unter der Ägide Frankreichs als Gegengewicht zu Deutschland zu bilden. Es handelt sich zweifellos um einen originellen Fokus, der es erlaubt das französische Selbstverständnis aus einer anderen Perspektive zu behandeln, ein Vorhaben, dem keineswegs die Legitimität wegen der Tatsache abgeht, dass die Vorstellungen oft, wie der Titel schon suggeriert, bloß „Träume“ blieben. Es handelt sich in jeden Fall um ein spannendes Buch, das zur Diskussion anregt.

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Der Latinitäts-‚Traum‘ manifestierte sich 2013 in einem Zeitungsartikel des Philosophen Giorgio Agamben, der zunächst in der italienischen Zeitung La Repubblica und dann in Libération, dort unter dem von der Redaktion gesetzten provokativen Titel „Que l’Empire latin contre-attaque!“ am 24. März 2013 erschien. Agamben bezog sich auf einen vom Philosophen und hohem Beamten des französischen Staates Alexandre Kojève 1947 veröffentlichten Essay „L’Empire latin“, der neue Aktualität gewonnen habe. Kojève habe damals vorausgesagt, Deutschland werde zur wichtigsten Wirtschaftsmacht Europas aufsteigen und dann Frankreich auf eine sekundäre Rolle verweisen. Frankreich solle darum an die Spitze eines ‚lateinischen Imperium‘ treten, das zusätzlich Spanien und Italien umfassen und im Einklang mit der Tradition der katholischen Kirche stehen und sich gleichzeitig auf den Mittelmeerraum öffnen sollte. Jetzt, wo die EU sich nur an einer ökonomischen Logik orientiere und die konkreten kulturellen Affinitäten missachte, sei es Zeit, sich auf Kojève zu besinnen:

Une Europe qui prétend exister sur une base strictement économique, en abandonnant toutes les parentés réelles entre les formes de vie, de culture et de religion, n’a pas cessé de montrer toute sa fragilité, et avant tout sur le plan économique.5

Es mache keinen Sinn, so Agamben, einem Griechen oder einem Italiener den Lebensstil eines Deutschen vorzuschreiben. Das führe zu einer Zerstörung des kulturellen Erbes, das sich vor allem in einer bestimmten Lebensform äußere.

In der Rezeption durch die Öffentlichkeit wurden diese Thesen aber sehr stark verkürzt, als ob es um einen Kulturkampf zwischen dem ‚Süden‘ gegen den deutsch dominierten ‚Norden‘ ginge. Agamben stellte das in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung richtig: „Wie könnte ich die lateinische Kultur der deutschen entgegenstellen, wo doch jeder intelligente Europäer weiß, dass die italienische Kultur der Renaissance oder des klassischen Griechenlands heute mit vollem Recht auch zur deutschen Kultur gehört, die sie neu durchdacht und sich angeeignet hat!“6 Agamben führte dann weiter aus, das Ziel seiner Kritik sei nicht Deutschland gewesen, „sondern die Weise, in der die Europäische Union konstruiert wurde, nämlich auf ausschließlich ökonomischer Basis. So werden nicht nur unsere spirituellen und kulturellen Wurzeln ignoriert, sondern auch die politischen und rechtlichen. Wenn eine Kritik an Deutschland herauszuhören war, dann nur, weil Deutschland aus seiner dominierenden Position heraus und trotz seiner außergewöhnlichen philosophischen Tradition momentan unfähig erscheint, ein Europa zu denken, das nicht allein auf Euro und Wirtschaft beruht.“7 Europa beruhe auf dem Dialog mit der Vergangenheit, die eben nicht nur Tradition sei, sondern eine „anthropologische Grundbedingung“.8

Agamben hatte sich, wie er im Gespräch ausführte, „vielleicht etwas provokativ“ auf Kojèves Projekt bezogen. Immerhin lenkte er den Blick auf die genannte Denkschrift. Lepenies kommt das Verdienst zu, den (kaum bekannten) Essay von Kojève ausführlich vorzustellen auf der Basis des maschinenschriftlichen Typoskripts, das im Archiv der Hoover Foundation aufbewahrt wird unter dem schlichten Titel „Esquisse d’une doctrine de la politique française“ (datiert auf den 27. August 1945). Der 1902 in Russland geborene und seit 1926 in Frankreich lebende Kojève war vor allem als Philosoph bekann. Sein Hegel-Seminar an der Ecole pratique des Hautes Etudes von 1933–39 war legendär; zählten doch zu den Hörern neben Georges Bataille auch Lacan, Raymond Aron und Merleau-Ponty. In seiner Lektüre der Phänomenologie des Geistes ging es ihm darum, Hegel von der Dialektik von Herr und Knecht her zu verstehen und in der Dialektik das Spezifische der Geschichte zu sehen. Aus seinen Thesen über das Ende der Geschichte und der Philosophie zog er Konsequenzen und arbeitete als Berater des französischen Wirtschaftsministeriums im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen.

In seiner „Esquisse“ entwickelte er die These, den slawisch-sowjetischen und angelsächsischen Imperien müsse als Puffer ein ‚Lateinisches Reich‘ entgegengestellt werden, das die Errungenschaften der lateinisch-katholischen Zivilisation verteidige, die eben nicht in ökonomischen und politischen Erfolgen bestehe, sondern in einer Lebensform, einer ‚Humanisierung‘ der freien Zeit. Detaillierte Maßnahmen sollten sicherstellen, dass Deutschland die Schaffung eines ‚Lateinischen Reiches‘ nicht hemmen könne. Die „Esquisse“ orientierte sich nicht mehr an der These des Endes der Geschichte, sondern war, so Lepenies, „Ausdruck des Wunsches, Frankreich möge die Initiative an sich reißen, um aktiv die Zukunft Europas zu gestalten“ (32).

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Die Nachkriegszeit entwickelte sich indes nicht im Sinne von Kojève. Der Schumanplan war ein wichtiger Schritt auf dem Weg der wirtschaftlichen Integration Westeuropas mit Deutschland als gleichwertigem Partner. Für die These, de Gaulle sei der Adressat von Kojèves „Esquisse“ gewesen, gibt se nach Lepenies keine eindeutigen Belege, selbst wenn gewisse Passagen den Vorstellungen des Generals hätten entsprechen können. Dieser sprach auf jeden Fall nicht von einem ‚Lateinischen Reich‘. Aber wie für Kojève ging auch für de Gaulle, so schreibt Lepenies, „die größte Gefahr für Frankreich von einem wieder erstarkten Deutschland“ aus (40). Der General habe sich darum nach dem Krieg jeder Zentralisierung der deutschen Verwaltung widersetzt. Einen deutschen Einheitsstaat wollte er auch später mit allen Mitteln verhindern. Er konnte kein Europa akzeptieren, in dem zwischen dem siegreichen Frankreich und dem besiegten Deutschland Parität herrsche (42). Er befürchtete überdies, die Deutschen würden den Franzosen auf dem Feld der Wirtschaft bald eine neue Niederlage zufügen. Frankreich könne seiner historischen Bestimmung nur gerecht werden, wenn sich am Prinzip der „grandeur“ orientiere.

De Gaulle sei aber Realist genug gewesen, um einzusehen, dass ein gegen Deutschland gerichtetes ‚Lateinisches Reich‘ eine Illusion war und dass er darum für ein ‚europäische Europa‘ nicht gegen, sondern mit Deutschland plädierte. Mit dem „rheinischen Katholiken“ Adenauer sei die Aussöhnung leichter zu erreichen gewesen. De Gaulle habe aber darauf bestanden, „dass auch in Zukunft zwischen Frankreich und Deutschland ein politisches Ungleichgewicht gelten müsse“ (44). De Gaulles Ziel, ein selbstsicheres Europa aufzubauen, habe der Ambition, ein Lateinisches Reich zu schaffen kaum nachgestanden. „In der Einschätzung der Gefahren, die Frankreich von einem wieder erstarkten Deutschland drohten, unterschied sich dabei de Gaulle kaum von den Befürchtungen Kojèves (46).

Man kann sich aber fragen, ob hier die Nachkriegspolitik Frankreichs und namentlich de Gaulles nicht zu sehr durch die Brille von Kojève gesehen wird. Der französische Politikwissenschaftler René Rémond hatte auf einem Kolloquium über die Nachkriegszeit festgehalten, dass Frankreich als Siegermacht 1918 es sich hätte leisten können, mit dem deutschen Volk freundschaftliche Beziehungen aufzunehmen, während 1945 nach der Niederlage von 1940 und einer äußerst unerbittlichen Besatzungszeit eine mögliche Versöhnung keineswegs evident war. Paradoxerweise trat das Gegenteil ein. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das gegenseitige Misstrauen kaum abgebaut. Nach 1945 brauchte es indes nur wenige Jahre, bis sich die Meinung durchsetzte, der deutsch-französische Antagonismus sei überholt. René Rémond schreibt das auch der Tatsache zu, dass sich namentlich Mitglieder der Résistance gegen das nationalsozialistische Regime und nicht gegen das deutsche Volk wandten und sich mit demokratischen Kräften in Deutschland eins wussten.9

Frankreich ließ sich bei seiner Deutschlandpolitik von der Idee eines dissoziativen Föderalismus leiten, der im Kontrast zur eigenen zentralstaatlichen Organisation stand. „Jamais plus de Reich“ – diese Forderung artikulierte de Gaulle in der Tat immer wieder. Dieses Prinzip diente sicher zuallererst französischen Sicherheitsinteressen. Der französische Botschafter Pierre Mailland betonte indes in diesem Zusammenhang den ausgesprochenen Geschichtssinn des Generals. In seinen Augen entsprach der föderalistische Staatsaufbau der historischen Tradition Deutschlands besser.10 Nach Maillard sah de Gaulle im Nachbarland zunächst eine Bedrohung, fühlte sich von ihm auch angezogen, war er doch mit der deutschen Philosophie und Literatur vertraut. Sein Wort von der Größe des deutschen Volkes bei der berühmten Ludwigsburger Rede von 1962 beruht auf einer intimen Kenntnis des Landes. Schon in den Reden nach 1945 hatte er von der Versöhnung und der Komplementarität der beiden Völker gesprochen. Die Idee der Nation setzte für ihn die Achtung der Rechte anderer Nationen voraus. Die Einheit der deutschen Nation stellte er nie in Frage und plädierte schon 1959 für die Wiedervereinigung.

Der Föderalismus entsprach in seinen Augen, wie gesagt, der Tradition Deutschlands. Dem pflichtete auch der deutsche Politikwissenschaftler Frank R. Pfetsch bei, wenn er die Sensibilisierung der französischen Verantwortlichen in der Besatzungszone für die gewachsenen Strukturen unterstreicht:

Juristisch geschulter Verstand und die Kenntnis deutscher Geschichte und Kultur bei zahlreichen in französischen Behörden angestellten französischen Germanisten ließen die historischen und kulturellen Wurzeln bei der deutschen staatlichen Organisation stärker zum Tragen kommen als bei den anderen Siegermächten.11

Das Engagement von Vertretern der Zivilgesellschaft trug so wesentlich zur Aussöhnung bei.

So setzte sich langsam die Einsicht durch, dass man mit den rein realpolitischen Konzepten von 1918 – territoriale Aufsplitterung, Gebietsamputationen, Annexionen, Reparationen – keine neue Deutschlandpolitik begründen konnte. Hier hat sich, vor allem auch aufgrund der Forschungsergebnisse von Rainer Hudemann, der Konsens durchgesetzt, dass die positive französische Kultur- und Sozialpolitik in der Besatzungszone in Deutschland nicht bloß kompensatorischen Charakter hatte, um die Härten der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik abzufedern. Das französische Verständnis von Sicherheitspolitik hatte sich gegenüber 1919 grundlegend gewandelt:

Sicherheitspolitik bedeutete für die politisch entscheidenden französischen Instanzen jetzt nicht mehr nur ein Sicherheitsglacis an der Ostgrenze und die Ausschaltung wesentlicher Teile des deutschen Wirtschaftspotentials. Ausgehend von einer – durch die französische Germanistik geförderten – Interpretation des Nationalsozialismus als Konsequenz der deutschen Geschichte, gewannen jetzt Konzeptionen an Boden, welche durch gesellschaftliche Reformen dem, was man für deutschen Militarismus und Nationalismus hielt, den Boden entziehen wollten.12

Die Deutschlandpolitik Frankreichs, die im Rahmen von De Gaulles Vision von Europa gedacht wurde, war, so Lepenies, wohl nicht ‚lateinisch‘, trug aber „katholische Züge“ (46). So sei es von großer symbolischer Bedeutung gewesen, dass die Aussöhnung mit Deutschland 1962 mit einer Messe in der Kathedrale von Reims gefeiert wurde. De Gaulle und Adenauere werde es bewusst gewesen sein, dass die Architekten des vereinten Europa – neben ihnen Monnet, Schuman, de Gasperi, Spaak – „ausnahmslos Katholiken“ (46) waren. De Gaulle war wohl praktizierender Katholik, Péguy-Leser und gut vertraut mit christlich-demokratischen Denkern; seine Sammelbewegung sollte indes unterschiedliche politische Traditionen integrieren und er selber respektierte immer das Prinzip der „laïcité“. Die Option für die Kathedrale von Reims war ein starkes Symbol der Aussöhnung; war doch das Monument ein wichtiger französischer (und nicht bloß katholischer) Erinnerungsort. Nach dem von den Zeitgenossen zu Recht als barbarisch angesehenem deutschen Bombardement der Kathedrale von Reims im ersten Kriegsjahr 1914 war die Stadt ein Schauplatz des Krieges geblieben und bis zu 80 Prozent zerstört worden. Dass die Gründerväter des vereinten Europa Katholiken waren, inspirierte wohl kaum den Traum einer römisch-katholischen politischen Gemeinschaft, kann aber eine mehr universalistisch als nationalstaatliche politische Ausrichtung befördert haben.13

Neben den nun immer bedeutender werdenden Beziehungen zu Deutschland durften auch für de Gaulle die ‚lateinischen‘ Affinitäten nicht vernachlässigt werden. Der General sprach wohl in Italien von ‚lateinischer Brüderlichkeit‘. Aber frühere Pläne eines ‚mediterranen Paktes‘ wurden nicht aktualisiert. Der Bezug auf die ‚Latinität‘ war bloß mehr ein „Element der politischen Rhetorik“ (53).

Wichtiger war indes die Beziehung zu Lateinamerika. Mehr als die Hälfte der ‚Comités de la France libre‘ waren während des Zweiten Weltkrieges auf dem amerikanischen Subkontinent entstanden. Es handelte sich hier um ein zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten der Vorstellung Frankreichs, wie es de Gaulle verstand – als eines Ensembles von Werten – gegen die scheinbar ‚realpolitische‘ Option Vichys.14 De Gaulle knüpfte daran an, als er 1964 Mexiko und dann auch Mittel- und Südamerika bereiste und die ‚Latinität‘ Amerikas beschwor, was nach Lepenies jedoch „ohne politische Wirkung“ (55) blieb. Ich bin aber nicht sicher, dass Lateinamerika Frankreich „vollkommen fremd“ (55) war. Das würde sicher für Brasilien so nicht gelten. Wenn nach 1815 der wirtschaftliche Einfluss Großbritanniens in Brasilien dominant wurde, so sollte diese Dominanz durch kulturelle Aktivität der Franzosen ausgeglichen werden. So war eine große Anzahl der in der Restaurationszeit nicht mehr genehmen Mitglieder der Pariser Académie des Beaux-Arts nach Brasilien ausgewandert, wurde dort mit dem Aufbau einer eigenen Kunstakademie betraut und führte den neoklassischen Stil ein. Auch die brasilianische Flagge wurde von einem Franzosen der Akademie, Jean-Baptiste Debret, entworfen. Nachhaltig war bei der Gründung der Republik 1889 der positivistische Einfluss Victor Cousins, dessen Motto ‚Ordem e Progresso‘ danach auf der brasilianische Flagge Platz fand15. Für das zwanzigste Jahrhundert ist daran zu erinnern, dass neben Levi-Strauss auch Braudel und Foucault in Brasilien forschten und lehrten. Der brasilianische Staatspräsident Fernando Enrique Cardoso hatte vorher an der Universität Nanterre gelehrt.

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Im vorliegenden Buch geht es indes weniger um intellektuelle als um politische Beziehungen. Die werden dann auch sehr kenntnisreich hinsichtlich von Mitterands ‚Sozialismus des Südens‘ dargestellt. Kernpunkt des Streites zwischen der von Mitterand angeführten PS und der SPD war das Verhältnis zur Kommunistischen Partei. Die französischen Sozialisten und ihre Genossen des ‚Südens‘ waren zu einer Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei bereit, was die SPD strikte ablehnte. Man wird hier nicht vergessen, dass die KPF durch ihr Engagement im Widerstand an Legitimität gewonnen hatte, war sie doch 1945 mit 26 Prozent der angegebenen Stimmen zur stärksten Partei Frankreichs geworden. Die Bundesrepublik befand sich an der Nahtstelle zum Ostblock und die 1968 gegründete KPD war eine Kleinpartei, die nicht über 0,3 Prozent der Stimmen hinaus kam. Die Kommunistischen Parteien Frankreichs, Spaniens und Italiens hatten sich überdies erneuert und lehnten den Führungsanspruch der Sowjetischen KP ab16, was bei der DKP nicht der Fall war. Mitterand verfolgte wohl der KPF gegenüber eine ähnliche Strategie wie de Gaulle, der auch Vertreter der KPF in seine erste Nachkriegsregierung aufgenommen hatte: „Il faut les noyer dans le pouvoir.“

Die geopolitische Situation hatte sich nach 1989 radikal verändert. Das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland beruhte vorher im Gleichgewicht zwischen der ökonomischen Vormacht Deutschlands und der politischen Führungsrolle Frankreichs. Nun verschob sich das Zentrum Europas gegen Osten und das vereinte Deutschland übernahm die politische Führungsrolle. Für Lepenies war es bezeichnend, dass Bernard-Henry Lévy in der ersten Nummer seiner 1990 gegründeten Zeitschrift La Règle du Jeu unter dem Titel „L’Empire Latin“ einen Teilabdruck von Kojèves Memorandum von 1945 brachte, das kritisch kommentiert wurde.17 Nach Alain Minc konnte nur eine ‚Lateinische Föderation‘ eine Antwort auf ein von Deutschland bestimmtes Kontinentaleuropa sein.

Wenn schon Mitterand und Chirac daran dachten, die Mittelmeerpolitik Frankreichs zu verstärken, so versuchte erst Sarkozy, dieser Südpolitik einen institutionellen Rahmen in Gestalt einer Mittelmeerunion zu geben. Die Kraftlinien dieses Projektes werden im Buch detailliert vorgestellt. In einer Rede des Präsidentschaftskandidaten in Toulon im Februar 2007 stimmte dieser eine Hymne auf den Mittelmeerraum an als dem Scharnier unterschiedlicher Kulturen. Auffallend sei der große Raum gewesen, den er der arabischen Zivilisation und dem Islam gab, indem er die Europäer „Kinder Córdobas und Granadas nannte, Kinder der arabischen Gelehrten, die uns das Erbe des antiken Griechenlands übermittelt und es bereichert haben“ (72). Nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft Europas liege im Süden. Sarkozy sei es dabei auch im die Stimmen der Algerienfranzosen gegangen. Die Idee der Mittelmeerunion stammte von seinem Berater Henri Guaino, einem Links-Gaullisten, der aus dem Süden stammte.

Man darf dabei aber nicht vergessen, dass Sarkozy mit Patrick Buisson auch einen rechten, ja sehr rechten ‚Schutzengel‘ hatte, ein Bewunderer von Maurras, der für eine vereinte Rechte unter Einschluss des Front National plädierte. Von diesem stammte ein anderes Projekt von Sarkozy, das zum ersteren im Widerspruch stand, das Vorhaben, ein Ministerium der Einwanderung und der nationalen Identität zu schaffen.18 Sarkozy instrumentalisierte in geschickter Weise das Konzept der nationalen Identität, das er mit Beispielen aus der Vergangenheit unterfütterte, für eine Strategie einer gelenkten Einwanderung. Die nationale Identität sah er gleichzeitig gefährdet durch die ‚clandestins‘ und durch den Kommunitarismus. Die negativen Beispiele, die nicht mit der ‚nationalen Identität‘ vereinbar seien, bezogen sich in seinen Reden ausschließlich auf Praktiken der islamischen Religion. Die Schaffung eines „Ministère de l’Immigration et de l’Identité nationale“ wurde wohl von 88 Prozent der Wähler des Front National gutgeheißen, jedoch nur ein Prozent der Wähler, die sich zum Islam bekannten, gab an, für Sarkozy gestimmt zu haben. Das war weit weg von Loblied auf die „Kinder Córdobas“.

Die Ambitionen, die Sarkozy außenpolitisch mit der Mittelmeerunion verband, waren kühn. Sie sollten zu den Friedenbemühungen zwischen Israel und den Palästinensern beitragen.19 Deutschland widersetzte sich dem Plan, die Union nur den Anrainern des Mittelmeers vorzubehalten. Aus der geplanten Parallelinstitution der EU wurde eine ‚Union für das Mittelmeer‘ unter der Ägide der EU. Das Konzept einer ‚variablen Geometrie‘ innerhalb der EU, für das Schäuble und Lamers plädiert hatten, sei so „von einer CDU-Kanzlerin zu Fall gebracht“ worden (80). „Warum also mussten alle EU-Länder Mitglieder der Mittelmeerunion werden?“, fragt Lepenies mit Bedauern über das Scheitern der Initiative. „Warum konnte diese Initiative nicht vertrauensvoll den Südländern überlassen werden?“ (80).

Lepenies sieht als intellektuellen Hintergrund der Mittelmeerorientierung Sarkozys Braudels magistrales Werk La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (1949), das die Geschichtsschreibung verändert und ein Bild vom Mittelmeer geprägt hat, das bis heute wirksam ist. Es wird darauf hingewiesen, dass Braudel wohl aus Lothringen stammte, aber neun Jahre in Algier lehrte. Wichtig war aber auch sein Aufenthalt in Brasilien. Die Erfahrung dieses immensen Landes trug dazu bei, wie er sagte, „die Zeit in Raum“ zu verwandeln. Entscheidend war auch die Begegnung mit Lucien Febvre auf dem Schiff, das die beiden 1937 aus Lateinamerika zurückbrachte; Febvre schlug dann auch die entscheidenden Vorgaben zu Braudels Mittelmeerbuch vor. Das Werk realisierte das Projekt einer „géo-histoire“, die zwischen drei Zeitlichkeiten unterschied, zunächst die geographische Zeit, eine fast stillstehende Geschichte des Milieus und der wiederkehrenden Phänomene, dann die soziale Zeit der ökonomischen Entwicklung, die Geschichte der Staaten und der Kontakte zwischen den Zivilisationen und schließlich, „an der Oberfläche“, die Ereignisgeschichte. Braudel antwortete so auch dem Vorwurf von Lévi-Strauss, die Geschichtswissenschaft sei unfähig, die Tiefenstrukturen zu erfassen, die eine Gesellschaft letztlich bestimmten. Die Historiker überwand mit seinem Konzept der „longue durée“ die Kluft zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften.20 Über die Strukturgeschichte war der Raum zu einer neuen wichtigen Kategorie geworden, was vielleicht auch die Resonanz erklärt, die das Konzept des Mittelmeers als Raum nun fand.

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[…]

Wolf Lepenies hat mit seinem Buch Die Macht am Mittelmeer in sehr umfassender Weise einen Subtext der französischen Geschichte sichtbar gemacht, der letztlich nie so dominant war, dass er in eine Allianz der lateinischen Länder Südeuropas mündete, der aber als historisches Unbewusstes immer wieder auftaucht. Es handelt sich hier um ein äußerst komplexes Phänomen, einerseits um die räumlich bestimmte Mittelmeer-Idee, die von den geographischen Bedingungen her eine Gemeinsamkeit ableitet, die sich in analogen agri-kulturellen und kulturellen Praktiken in einem weiteren Sinn manifestiert60, und gleichzeitig geopolitische Strategien anregen kann, andererseits geht es um die Latinitätsidee, die mit dem Katholizismus in Verbindung gebracht wird, die nur eine Minderheit der Anrainerstaaten des Mittelmeers bestimmt (hat). Beide Phänomene manifestierten sich in verschiedenster Form als Stereotypen, als Zuschreibungen, als Konstrukte, aber auch als systematische Reflexionen und politische Strategien. Diese komplexe Gemengelage aufgezeigt zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst des Buches von Wolf Lepenies.

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Volltext erscheint als: Joseph Jurt, „Ein Subtext Frankreichs: Mittelmeeridee, Latinität und Katholizismus. Zu Wolf Lepenies, ‚Die Macht am Mittelmeer‘“, Romanische Studien 4 (2016).


  1. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen: Soziologie zwischen Literatur und Gesellschaft (München: Carl Hanser, 1985).
  2. Wolf Lepenies, Sainte-Beuve: auf der Schwelle zur Moderne (München: Carl Hanser, 1997).
  3. So etwa unlängst der Hinweis auf den Ökonomen Jacques Sapir, der eine Anti-Europa-Front in Frankreich vorschlug, die die radikale Linke und die äußerste Rechte umfassen sollte, Die Welt, 12. September 2015.
  4. „Opfer des eigenen Erfolgs: Wolf Lepenies über die verblassende deutsch-französische Freundschaft“, Die Woche, 6. August 1999, 8.
  5. Giorgio Agamben, „Que l’Empire latin contre-attaque!“, Libération, 24. März 2013.
  6. „Giorgio Agamben im Gespräch: Die endlose Krise ist ein Machtinstrument“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 2013.
  7. Ebenda. Agamben, der von Hause aus Jurist ist kritisierte gleichzeitig die mangelnde legitime Fundierung der EU, die nicht auf einer Verfassung beruhe. Unlängst kritisierte er auch die Verlängerung des Ausnahmezustandes in Frankreich. Giorgio Agamben, „De l’Etat de droit à l’Etat de sécurité“, Le Monde, 23. Dezember 2015.
  8. Auch Karlheinz Stierle kam in seinem Vortrag anlässlich des Romanistentages 2013 auf Agambens Intervention zurück. So problematisch dessen Thesen im einzelnen sein mögen, so führte er aus, „sie treffen sich mit einer romanistischen Grundüberzeugung von der tiefgreifenden Einheit der romanischen Welt. Dass auch das kulturelle Deutschland nicht ohne Zusammenhang mit dieser romanischen Welt gedacht werden kann und dass ihrer Vermittlung eine wesentliche politische Aufgabe liegt, gehört zu ihren Grundüberzeugungen.“ Karlheinz Stierle, „Romanistik als Passion“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. September 2013.
  9. René Rémond, „Continuité, rupture ou nouveauté: la place de ces années dans l’histoire générale des relations entre la France et l’Allemagne“, Cahiers de l’Institut d’Histoire du temps présent 13–14 (Dezember 1989–Januar 1990): 305.
  10. Pierrre Mailland, „La politique du Général de Gaulle à l’égard de l’Allemagne 1945–1965) – continuité et discontinuité“, in Joseph Jurt, Hrsg., Von der Besatzungszeit zur deutsch-französischen Kooperation (Freiburg: Rombach, 1993), 56–7; siehe dazu auch Pierre Maillard, De Gaulle et l’Allemagne: le rêve inachevé (Paris: Plon, 1990).
  11. Frank R. Pfetsch, „Die französische Verfassungspolitik in Deutschland nach 1945“, in Joseph Jurt, Hrsg., Von der Besatzungszeit zur deutsch-französischen Kooperation (Freiburg: Rombach, 1993), 88–109.
  12. Rainer Hudemann, „Die Besatzungsmächte und die Entstehung des Landes Baden-Württemberg“, in Baden-Württemberg und der Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1989), hrsg. von Meinrad Schaab und Gregor Richter (Stuttgart: Kohlhammer, 1991), 7; zum Engagement der Intellektuellen für ein ‚neues Deutschland‘ siehe Martin Strickmann, ‚L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle‘: die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950 (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2004), 382–6.
  13. Nach Markus Göldner soll indes die blaue Europa-Fahne mit dem Sternenkranz einer marianischen Symbolik entsprechen (Markus Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1988).
  14. Siehe dazu Joseph Jurt, „Bernanos au Brésil et la France libre“, in Monique Gosselin-Noat, Hrsg., Bernanos et le Brésil (Lille: Roman 20–50, 2007), 11–28.
  15. Siehe dazu Joseph Jurt, „Le Brésil: un Etat-nation à construire. Le rôle des symboles nationaux: de l’empire à la république”, Actes de la recherché en sciences sociales, Nr. 201–202, März 2014), 44–57. Zu den Beziehungen zwischen Frankreich und Brasilien äußert sich Lepenies 157–158 in seinem Buch.
  16. Siehe dazu Adolf Kimmel, Hrsg., Eurokommunismus (Köln und Wien: Böhlau, 1989.
  17. Man darf allerdings die Zeitschrift und auch BHL nicht überbewerten. La Règle du Jeu spielt in den intellektuellen Debatten nicht eine große Rolle; sie wird in Jacques Julliard und Michel Winock, Dictionnaire des intellectuels français (Paris: Seuil 1997) nicht einmal aufgeführt. Zu BHL siehe Jan Christoph Sutrup, Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart (Berlin: LIT Verlag, 2010), 372–82: „‚BHL‘ – neuer Malraux oder ‚Rambo-Rimbaud‘?“
  18. Siehe dazu Gérard Noiriel, A quoi sert ‚l’identité nationale‘ (Marseille: Agone, 2007), 81–114.
  19. Sehr aufschlussreich sind in diesem Kontext die im Buch vorgestellten, wenig bekannten Hinweise von Hannah Arendt auf das Projekt einer Mittelmeerföderation als einer Art Commonwealth als Rahmen für die Lösung der Palästinafrage (81–7).
  20. Fernand Braudel, „Histoire et sciences sociales: la longue durée“, Annales 13 (1958): 725–53.Ill.: UFM Member States
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