zum CFP „Empire latin: Romania und Europa“
Aktuelle Themen wie das des lateinischen Reichs laden dazu ein, sie nach Maßgabe sachlicher, historisch-politischer Voraussetzungen zu diskutieren. Der vorliegende Beitrag versucht unter dem Stichwort Untergangsphantasien nichtsdestoweniger einen Schritt zurückzutreten und das diskursive, narrative Feld zu klären, in dem solche Diskussionen beheimatet sind.
Themen: Untergang; Décadence; Apokalypse; lateinisches Reich; Interkulturalität; Kojève, Alexandre; Agamben, Giorgio; Céline, Louis-Ferdinand; Voyage au bout de la nuit; Goll, Iwan; Die Eurokokke; Gracq, Julien; Le rivage des Syrtes; Houellebecq, Michel; Soumission
Auszug aus dem Artikel von Franziska Sick:
Europa, sagt man, muss sich zusammenschließen, um in der globalisierten Welt wirtschaftlich bestehen zu können. Andererseits führt die Verschmelzung von Hartwährungsländern mit Weichwährungsländern zu beträchtlichen ökonomischen Verwerfungen – aber auch zu ideologischen. Wie europaweit zu besichtigen ist: Im Gefolge der Währungsunion und neuerdings der Flüchtlingskrise sind sowohl am linken wie am rechten Rand nicht unerhebliche Tendenzen zur Renationalisierung zu verzeichnen. Sie verleiten selbst Intellektuelle zu so provokanten wie eben deshalb parteilichen und unausgewogenen Einlassungen.
So bringt Agamben gegen die Austeritätspolitik Merkels Kojèves Forderung nach einem lateinischen Reich ins Spiel.1 Kojève sagte nach dem Zweiten Weltkrieg das Wiedererstarken Deutschlands voraus; er unterstellte ferner, dass Deutschland sich am angelsächsischen Raum orientieren und Frankreich damit in eine Satellitenrolle abgedrängt werde. Um dem vorzubeugen, sollten sich Frankreich, Italien und Spanien zu einem lateinischen Reich zusammenschließen.2 In mehr oder weniger loser Anlehnung an Kojève spielt Agamben mit dieser Idee eines lateinischen Reichs. Nur so könne man dem Ökonomismus des protestantischen Nordens entkommen, der die romanische, vom Katholizismus geprägte Lebensart zerstöre.3
Obwohl das nicht meine argumentative Hauptstoßrichtung ist: Fragwürdig ist Agambens Vortrag bereits in wirtschaftspolitischer/-historischer Hinsicht: Vor der Währungsunion hat wohl keine deutsche Regierung den romanischen Ländern in ihre Wirtschafts- und Lebensart hineingeredet, und richtig ist wohl auch, dass die Initiativen für eine Währungsunion eher von Frankreich als von Deutschland ausgingen.4 Unabhängig davon: Eine gemeinsame Währung erfordert – um ökonomische Verwerfungen zu vermeiden – eine Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sowie weiterer volkswirtschaftlicher Eckdaten. Das hat nichts mit dem katholischen Geist hier und dem protestantischen dort zu tun. Es sind vorrangig die volkswirtschaftlichen Bedingungen einer Währungsunion, die hierbei in Anschlag zu bringen sind. Wenn das von Agamben propopagierte lateinische Reich weniger ökonomisch orientiert und deshalb dauerhaft weniger wirtschaftlich-leistungsfähig sein sollte, führt das unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Währung dazu, dass entweder der Norden den Süden alimentieren (Stichwort: Transfer- oder Inflationsunion) oder das „lateinische Reich“ die Kosten seiner Lebensart in Form von u.a. Lohnverzicht oder einer erhöhten Arbeitslosenquote selbst tragen müsste.
Agamben äußert sich zu solchen finanzwirtschaftlichen Zusammenhängen nicht. Er zieht es stattdessen vor, die kulturelle Hegemonie des Südens unter der Führung Frankreichs zu fordern. Gegenüber den Deutschen hört sich das dann das so an:
[…] imposer à la majorité des plus pauvres les intérêts de la minorité des plus riches, qui coïncident la plupart du temps avec ceux d’une seule nation, que rien ne permet, dans l’histoire récente, de considérer comme exemplaire.5
Man muss sich an dieser Stelle schon fragen, wen Agamben mit den Reichsten meint: die Aldi-Erben und die griechischen Reeder – oder nicht doch die Deutschen, also die Aldi-Erben und die Hartz IV-Empfänger?6 Fragwürdig ist nicht zuletzt sein Quellenbezug: Kojève schlug, die wirtschaftliche Schwäche des lateinischen Reiches vorhersehend vor, diese durch eine gemeinsame Ausbeutung der Kolonien zu kompensieren. Die Frage, wie das lateinische Reich nach Wegfall der Kolonien seine wirtschaftliche Schwäche ausgleichen könne, stellt sich Agamben nicht; stattdessen weicht er in ein interkulturelles Diskursschema aus:
Non seulement il n’y a aucun sens à demander à un Grec ou à un Italien de vivre comme un Allemand; mais quand bien même cela serait possible, cela aboutirait à la disparition d’un patrimoine culturel qui se trouve avant toute chose une forme de vie.7
Da der drohende Untergang ein Kernargument in Agambens Essay ist, da er sich überdies trotz des gemeinsamen Diskussionsrahmens als äußerst ambig erweist – Ausbeutung der fremden versus Schonung der eigenen Lebensart – scheint es lohnend, der Tradition solcher Argumentationsweisen oder aber auch Untergangsphantasien nachzufragen.
Das ist, wenn wir über europäische Kultur(en)gemeinschaft reden,8 ein vielleicht randständiges Thema. Denn diese behauptet entweder – wenn wir das Wort im Singular nehmen – eine weitgehende Homogenität europäischer Kultur- und Lebensart, oder sie insinuiert – wenn wir das Wort im Plural nehmen –, dass es in Europa zwar unterschiedliche Kulturen gebe, die Unterschiede auf dem Wege eines interkulturellen Verstehens aber überbrückbar seien. So vielleicht etwas zu optimistisch interpretiere zumindest ich die Rede von der Kultur(en)gemeinschaft. Agamben schlägt einen anderen Ton an. Seiner Auffassung zufolge sind die kulturellen Differenzen so groß, dass er den Verlust der eigenen Kultur befürchtet und im Gegenzug hegemoniale Forderungen erhebt. Im Grunde kündigt er damit die interkulturelle Diskursgemeinschaft auf. Denn die Voraussetzung von Interkulturalität im emphatischen Sinne besteht eben darin, dass man die andere Kultur als prinzipiell gleichwertig anerkennt.9
Wie sich an dieser Stelle zeigt, besteht Europa nicht bloß aus erworbener Gemeinsamkeit und – im Geiste der Aufklärung – aus toleranter Überbrückung der verbliebenen historischen Differenzen, sondern eben auch aus Untergangsphantasien. Nicht nur bei Agamben und nicht nur in negativer Weise. Das Nachkriegseuropa bezieht nachgerade seine Identität hieraus: Nach zwei Kriegen hat man verstanden, dass man nicht länger Krieg gegeneinander führen sollte. Insofern ist die Identität Europas zutiefst von einer Untergangsphantasie gespeist.
Diese Identität ist so schwach wie zugleich stark. Schwach ist sie, weil sie als Untergangsphantasie nur den Charakter einer Vermeidung und keinen positiven Bezugspunkt hat. Stark ist sie, weil nichts stärker eint als ein bevorstehender Untergang oder ein gemeinsamer Gegner. Der gemeinsame Gegner, das ist im Europa der Weltkriege es selbst, es selbst mit seinen Nationalismen. Für gewöhnlich identifizieren Untergangsphantasien nichtsdestoweniger einen äußeren Feind als Gegenbild zum Risiko des eigenen Verfalls. So etwa bei Iwan Goll:
Ich bin ein armer, alter, blasser, schlaffer Europäer, zu nichts mehr nutz.10
Aber ich hasse Amerika […].11
Nachdem ich vorstehend das Thema Untergangsphantasien/-diskurse problembezogen und deshalb etwas freihändig eingeführt habe, scheint es angebracht, es begrifflich zu präziseren: Untergangsphantasien handeln vom Verfall, von der Bedrohung der eigenen Kultur, aber auch – und obwohl dies ein Grenzfall ist – von einer Bedrohung, die dem Einzelnen12 aus solchen Szenarien erwächst.
Die Rede von Untergangsphantasien ist dabei nicht so zu verstehen, dass es sich um eine reine Phantasterei handelt. Der Begriff ‚Phantasie‘ ist im vorliegenden Beitrag schon deshalb angebracht, weil er überwiegend literarische Texte behandelt. Angemessen scheint er aber auch im außerliterarischen Bereich, weil wir auch dort über Zukunftsprojektionen, und das heißt über Fiktionen und große Erzählungen sprechen. Unangemessen wäre es vor solchem Hintergrund, von Untergangsprognosen zu reden. Als Beispiel hierfür kann Agambens Essay dienen. Er ist schon deshalb keine Prognose, weil Agamben kein hinlängliches Daten- und Diskussionsmaterial bereitstellt, sondern stattdessen Ängste bedient und schürt.
Damit ist unter der Hand eine erste Richtung der vorstehenden Untersuchung beschrieben: Im Vordergrund stehen weniger Inhalte, sachliche Positionen – etwa zum lateinischen Reich –, sondern Diskursstrukturen, Narrative, rhetorische Zurichtungen sowie eine erste Typisierung von Untergangsphantasien. Zu erarbeiten ist letztere im Kontrast zum interkulturellen Diskurs, ohne dass dieser vollumfänglich zu betrachten und zu charakterisieren wäre.
Um einleitend hierzu eine erste Vorschau zu bieten.
Soviel einleitend zum Ausblick. Wie an ihm zu ermessen ist, besitzen Untergangsphantasien eine beträchtliche Spannbreite. Ich versuche diesem Umstand zumindest ansatzweise dadurch gerecht zu werden, dass ich mit den Autoren Goll, Céline, Gracq und Houellebecq eine vergleichsweise heterogene Textauswahl in Blick nehme. Ich behandle die Texte nicht chronologisch, sondern gliedere sie systematisch: Céline und Gracq beziehen sich auf ein Kriegsszenario. So unterschiedlich die beiden Autoren damit auch umgehen – Untergangsphantasien treten uns hier im Kontext internationaler Konflikte entgegen. Goll und Houellebecq sind demgegenüber in ungleich höherem Maße mit dem eigenen kulturellen Ungenügen und weniger mit internationalen Konflikten befasst.
Fortsetzung in Heft 4 der Romanischen Studien
Ill.: Louis-Ferdinand Céline