CFP Empire latin: Romania und Europa

Call for Papers, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch

Die Ambivalenz eines romanischen Europa

Einladung zur Artikeleinreichung bei den Romanischen Studien

Text aus dem Editorial von Heft 2 (2015)

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Hiermit soll eingeladen werden, mit den Instrumentarien der Romanistik eigene Beiträge aus der Literatur-, Kultur- oder auch Sprachwissenschaft bei den Romanischen Studien einzureichen, die die Ideengeschichte eines (romanischen?) Europa aus der aktuellen Erfahrung heraus diskutieren, kulturwissenschaftliche Reflexionen zur europäischen Identität bzw. Erinnerung vorzuschlagen, landeswissenschaftliche Berichte aus Ländern der Romania und ihren jeweiligen Perspektiven auf Europa, Stellungnahmen zur Diversität europäischer Gesellschaften, zu den Migrationsströmen in die ‚Festung Europa‘, eine Analyse der laufenden Debatten um die Krise der Union und schließlich Entwürfe für das künftige Europa, aber auch Lektüren fiktionaler Texte oder sprachwissenschaftliche Analysen von Europadiskursen.

„Der hässliche Deutsche ist wieder da“, lesen wir im Juli 2015.1 Auf die Besorgnis erregenden Renationalisierungs- und Entfremdungstendenzen der letzten Zeit werden Ideen wie Ernst Robert Curtius’ Stiftung eines geistigen Europa in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948)2 keine Antwort mehr bieten. Zwischen der Vision von Vereinigten Staaten Europas des Grafen Coudenhove-Kalergi und der Ernüchterung, die zu Agambens panromanischer Provokation führte, liegen 90 Jahre:

Der Entfaltung im kulturellen Sinne setzt Pan-Europa keine Schranken. Ziel ist nicht Entnationalisierung der Völker Europas – sondern Zusammenfassung ihrer nationalen Individualitäten zu einem politischen und wirtschaftlichen Zweckverband.3

Non seulement il n’y a aucun sens à demander à un Grec ou à un Italien de vivre comme un Allemand; mais quand bien même cela serait possible, cela aboutirait à la disparition d’un patrimoine culturel qui se trouve avant toute chose une forme de vie. Et une unité politique qui préfère ignorer les formes de vie n’est pas seulement condamnée à ne pas durer, mais, comme l’Europe le montre avec éloquence, elle ne réussit pas même à se constituer comme telle.4

Warum bleibt die deutsche Romanistik so auffällig still, wenn im Ringen um die europäische Währungsunion alte und neue Europabilder beschworen oder verabschiedet werden, in der Politik wie den Medien? Während etwa die Frankophonie bzw. außereuropäische Romanistik inzwischen etablierte Forschungsfelder in der deutschen Romanistik aufgebaut hat, bleibt das Europäische methodologisch wie thematisch trotz aller Beteuerungen ein doch eher landes- oder politikwissenschaftliches Arbeitsgebiet. Versäumen Romanist(inn)en im interkulturellen Ungefähr, zwischen dem Nationalen und dem Globalen heute, sich in der „postnationalen Konfiguration“ (Habermas) der europäischen Demokratie(n) einzumischen? Ist politisches Engagement im Exotischen nicht wohlfeil, während zu Hause alte Risse sich auftun und das europäische Projekt in Frage gestellt wird? Genügt es, den Aufstieg europaskeptischer Parteien und damit auch rechter Fraktionen im europäischen Parlament wie „Europe des nations et des libertés“ (mit u.a. Front National, Lega Nord) als kurzlebige Protestwahlen zu beschreiben? Ist ein bloß ökonomisches Elitenprojekt noch zusammenzubringen mit einem solidarischen Europa der Bürger? Wie kann Europa mit den Migrationsströmen umgehen? Wie verändern sich Europabilder und kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und der europäischen Romania?

Dass Europa als Empire latin und damit ein ‚romanisches‘ Europa aus deutscher Sicht ambivalent bleibt, sei kurz skizziert. Die Romanistik ist ein Kind der politischen Romantik, (Re-)Konstruktion eines Zusammenhangs der neolateinischen Kulturräume.5 Das macht sie zunächst empfänglich für Europa als ‚lateinisches Reich‘, diese französische Idee einer romanisch-katholischen Vereinigung, die tief in die Geschichte reicht, man denke an die Klimatheorie des 18. Jahrhunderts mit ihrer Nord-Süd-Opposition, an den politischen Klassizismus der Frz. Revolution und Napoleons, schließlich an den Panlatinismus6. Die französische idée latine des 19. Jahrhunderts (Alphonse Roque-Ferrier und Charles de Tourtoulon), noch im 20. Jahrhundert vertreten etwa durch den Okzitanen Roger Barthe7, geht von einer Zusammengehörigkeit des romanischen Südeuropa aus, selbst ästhetisch plädiert die Abkehr vom Hermetismus durch den Dichter Jean Moréas in den 1890er Jahren für eine neoklassisch-mediterrane Schönheit.8

Der Klassizismus der Moderne ist immer auch Geschichtspolitik und Hegemonieanspruch: Maurras formulierte eine römische Ordnungsidee in Abgrenzung vom ‚Barbaren‘9; auch auf deutscher Seite wurde das Römische zur politischen Idee, so in Carl Schmitts Römischer Katholizismus und politische Form10; Plessners Studie Die verspätete Nation11 opponiert wiederum die rationale Rechtsidee Frankreichs mit der fehlenden demokratischen Kultur in Deutschland und ihrem „römischen Komplex“. 1947 entwirft der Philosoph Kojève eine französische Hegemonie, die die lateinischen Länder anzuführen habe, also eine Union ohne England und Deutschland.12

Michel Houellebecq spielt in seinem letzten Roman Soumission (2015) mit einer Arabisierung Frankreichs, die die koloniale Richtung einer Mittelmeerunion gewissermaßen umkehrt. Diese Dystopie verweist durchaus auf politische Realität: Denn auch wenn Nicolas Sarkozy als Reaktion auf die Osterweiterung der EU seine Union méditerranéenne aller Mittelmeer-Anrainerstaaten nicht unter Ausschluss des übrigen Europa durchsetzen konnte – die darauf gegründete Union pour la Méditerranée setzt lediglich den Barcelona-Prozess fort –, die Idee eines Gegengewichts zum unfreiwilligen Hegemon Deutschland blitzt auch bei Hollandes Griechenlandverhandlungen des Jahres 2015 auf. Wolf Lepenies vertritt in mehreren Texten der letzten Jahre die These eines neuen Nord-Süd-Konflikts in Europa:

Die „Lateinische Option“ schien mit dem Ende der Mittelmeerunion endgültig ad acta gelegt – und erfuhr als Folge der Finanzkrise im südlichen Europa eine paradoxe Wiederbelebung. In der Krise formte sich der „Lateinische Block“, der in Zeiten des allgemeinen europäischen Wohlbefindens ein vages Projekt geblieben war. Man braucht nur das Foto vom EU-Gipfel in Rom im Juni dieses Jahres zu betrachten, auf dem Angela Merkel vom Trio François Hollande, Mario Monti und Mariano Rajoy an den Rand gedrängt wird, um bereits von Körpersprache und Physiognomie her zu erkennen, wo die neuen europäischen Konfliktlinien verlaufen. Der Nord-Süd-Konflikt ist wieder aktuell geworden.13

Auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spinnt die europäische Entfremdung als neues Mächteverhältnis weiter:

Grundsätzlich gibt es für Frankreich noch die Alternative einer engeren Verbindung mit den Italienern (sowie den Spaniern): die sogenannte Mittelmeerallianz. Eine Wiederaufnahme des Mittelmeerprojekts durch Frankreich würde zwangsläufig zur Bildung eines Nord-Ostsee-Projekts als Gegengewicht führen, innerhalb dessen sich dann eine Achse Berlin-London herausbilden könnte – falls Großbritannien Mitglied der EU bleibt. Deutschland hat insofern ein fundamentales Interesse am Verbleib der Briten in der europäischen Gemeinschaft und wird darum auch nahezu alles tun, um diesen Verbleib möglich zu machen – nicht nur deswegen, weil er die deutschen Optionen vergrößert und dadurch die Position der Macht in der Mitte festigt, sondern auch, weil er die Attraktivität einer „Mittelmeerallianz“ für Frankreich begrenzt und damit die Spaltung Europas in einen Süd- und einen Nordblock unwahrscheinlicher macht.14

Angesichts solcher Beschreibungen eines latenten Konflikts im Kern Europas, der sich mit der neuen Weltordnung nach 1989 gebildet hat, ist auch die Romanistik herausgefordert, sich einzubringen. Die Geschichte der europäischen Einigung wird häufig erzählt als Harmonisierungsnarrativ, wo doch Misstrauen (z.B. Anfänge der Montanunion) und nationale Egoismen (z.B. Thatchers „We want our money back!“) häufig die Triebfedern der Integrationsschritte waren. Die europäische „Identitätsliteratur“15 scheint mit der „imperialen Überdehnung“ einer kulturell immer heterogeneren Union nicht wirklich Schritt zu halten, die Verlangsamung politischer Prozesse vor 1989 war bedingt durch den alles strukturierenden Ost-West-Gegensatz:

In der Phase der Verlangsamung konnten sich die Europäer den Luxus einer aufwendigen Suche nach der gemeinsamen Identität leisten, aber unter den Konstellationen der Beschleunigung, wie sie seit Anfang der 1990er Jahre Platz gegriffen haben, stehen ihnen diese Zeitspannen nicht mehr zur Verfügung.16

Die europäische Identität und die europäische Erinnerung, sind dies Ideen, die sich in den Köpfen und Herzen der europäischen Bürger wirklich gebildet haben, jenseits von der heute verblassenden „negativen Erinnerungskultur“ der Kriegsvermeidung oder der Initiative einzelner Intellektueller wie Derrida und Habermas vor zehn Jahren? Ist das künftige Haus der Europäischen Geschichte in irgendeiner Weise welthaltig, deutet umgekehrt das neue Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée in Marseille eine Verlagerung der Perspektive bereits an? Haben wir Pierre Nora mit seinem Konzept der lieux de mémoire unzulässig europäisiert? Schließlich erwies er sich als Vertreter einer nationalen Erinnerung der französischen Republik, als er 1997 in einem Interview die europäische Geschichte ablehnte:

L’histoire européenne? Moi, je n’y crois pas. Je ne vois pas très bien quelles sont les racines d’une histoire strictement européenne. Ce serait mettre la charrue avant les bœufs, comme on dit, en présupposant un cadre qui n’existe pas encore. Et puis pensez à la question impertinente: dans une histoire strictement européenne, quelle place faites-vous à Jeanne d’Arc, anti-anglaise? En revanche, la seule histoire de type européen qu’on puisse inculquer civiquement, c’est une histoire démocratique, une histoire des valeurs de la démocratie au sens large du mot. Cela dit, elle est aussi américaine qu’européenne. Mais sur le fond, oui, il n’y a pas de doute qu’on peut expliquer aux enfants l’état de droit, le refus du terrorisme, les libertés individuelles, la liberté de se déplacer sans contrôle, la liberté de la personne: ce sont des idées qu’on peut expliquer concrètement et facilement. Mais encore une fois, est-ce une idée strictement européenne? Et la colonisation, faut-il expliquer que c’est un phénomène strictement européen, aussi?17

Auch bleibt die deutsche Rede von Europa seit 1945 stark auf Frankreich beschränkt, um die Erbfeinde zu versöhnen und den deutsch-französischen Motor diskursiv zu begleiten. In der geographischen Breite von Portugal und Spanien über Italien bis Rumänien usf. hat sich bislang keine vergleichbar kontinuierliche Erforschung des Europäischen im Fach herausgebildet. Was hat die Romanistik zu einer neuen Vertiefung der europäischen Einigung beizutragen?

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  1. Matthias Naß, „Der hässliche Deutsche ist wieder da“, Zeit online, 29. Juli 2015, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-07/deutschland-nationalismus-deutsche-frage-europa.
  2. Vgl. Manfred Fischer, „Europa“ und „das Nationale“ bei Ernst Robert Curtius (Aachen: Fischer, 2000).
  3. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, „8. Die europäische Frage“ (1922), in ders., Krise der Weltanschauung = La crise de la représentation du monde (Wien: Pan-Europa-Verlag, 1923), 105–116, hier 154.
  4. Giorgio Agamben, „Que l’Empire latin contre-attaque!“, Libération, 24 mars 2013, http://www.liberation.fr/monde/2013/03/24/que-l-empire-latin-contre-attaque_890916. Vgl. die luzide Analyse von Aleida Assmann und Bernhard Giesen, „Dieser Philosoph will der Chirurg Europas sein“, Süddeutsche Zeitung, 11. Juni 2013, 13.
  5. Vgl. neuerdings etwa mythengeschichtlich Roland Alexander Ißler, Europa Romanica: Stationen literarischer Mythenrezeption in Frankreich, Italien und Spanien zwischen Mittelalter und Moderne, Analecta Romanica 84 (Frankfurt am Main: Klostermann, 2015).
  6. Emil Deckert, Panlatinismus, Panslawismus und Panteutonismus in ihrer Bedeutung für die politische Weltlage: ein Beitrag zur europäischen Staatenkunde (Frankfurt am Main: Keller, 1914); Käthe Panick, La race latine: politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Pariser historische Studien 15 (Bonn: Röhrscheid, 1978).
  7. Roger Barthe, L’idée latine, 2 Bde. (Toulouse: Inst. d’Études occitanes, 1950–1952).
  8. Vgl. zum Mittelmeer und der literarischen Moderne die Anthologie Leeres Zentrum, hrsg. von Franck Hofmann und Markus Messling (Berlin: Kulturverl. Kadmos, 2015), die aus dem Projekt „Transmed! Pensée méditerranéenne et conscience européenne“ entstanden ist.
  9. Charles Maurras, „Barbares et Romains“, in La dentelle du rempart: choix de pages civiques en prose et en vers, 1886 – 1936 (Paris: Grasset, 1937), 143–160.
  10. Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, (Hellerau: Hegner, 1923).
  11. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation: Über die Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes, 1934 (Stuttgart: Kohlhammer, 21959).
  12. Alexandre Kojève, „L’empire latin: esquisse d’une doctrine de la politique française“ (27 août 1945), La Règle du Jeu 1 (1990): 89–123.
  13. Wolf Lepenies, Ost und West, Nord und Süd: der europäische Himmelsrichtungsstreit, Hallesche Universitätsreden 3 (Halle a.d. Saale, Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 2013), http://www.universitaetsverlag-halle-wittenberg.de/media/upload/file/Kapitel_Vorworte/0635_Lepenies.pdf.
  14. Herfried Münkler, „Macht in der Mitte“, Die Welt, 3. März 2015, 2.
  15. Herfried Münkler, „Die imperiale Herausforderung Europas“, Imperien: Die Logik der Weltherrschaft (Reinbek: rororo, 22007), 245–254.
  16. Münkler, Imperien, 248.
  17. „Entretien avec Pierre Nora“, propos recueillis par Catherine Colliot-Thélène et Daniel Malbert, Revue internationale d’éducation de Sèvres 13 (1997): 53–58, https://ries.revues.org/3243.

 

Abb.: Euro-Banknoten mit Brückenmotiven

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