Baron de Charlus und Balzac

Beiträge, Französisch

Dt. Eröffnung der Balzac-Lektüren: Stephan Leopold, „Metaleptische Lektüre: M. de Charlus liest Balzac“, Romanische Studien 3 (2015)

Zusammenfassung:

Prousts vielleicht interessanteste Figur, der Baron de Charlus, kennt Balzac auswendig, und das hat Folgen. Charlus neigt nämlich nicht nur dazu, sich selbst mit Figuren Balzacs zu verwechseln, er erweist sich auch als eine Art Spielführer, der anderen Figuren balzacianische Rollen zuweist. Um das sich solchermaßen ergebende metaleptische Bezugsgefüge zwischen À la recherche du temps perdu und der Comédie humaine geht es im vorliegenden Aufsatz.

Auszug aus dem Aufsatz
von Stephan Leopold:

Cette réalité selon la vie des romans de Balzac, fait qu’ils donnent pour nous une sorte de valeur littéraire à mille choses de la vie qui jusque-là nous paraissaient trop contingentes. […] Là, sous l’action apparente et extérieure du drame, circulent des mystérieuses lois de la chair et du sentiment. (Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve)

I

Marcel Prousts Monumentalwerk À la recherche du temps perdu ist etliches: Ein Roman über die unwillkürliche Erinnerung, später ein Roman über die unfassbare Albertine und schließlich ein Roman über einen Roman, den der Erzähler noch zu schreiben, der Leser indes bereits gelesen hat. Ab der Mitte, also mit Beginn von Sodome et Gomorrhe, wird die Recherche aber vor allem zu einem Roman sozialen Wandels, des langsamen Zusammenbruchs gesellschaftlicher Stratifikationen, der Umkehrungen all dessen, was Marcel bislang von gleichsam ontologischer Gültigkeit erschienen war.1 Gegen Ende – im berühmten bal de têtes – kulminiert diese Bewegung in einer Figur radikaler Entropie: Mme Verdurin, deren Salon zu Anfang noch so unendlich weit vom Faubourg Saint-Germain entfernt gewesen war, entpuppt sich zum Erstaunen Marcels als die neue Prinzessin von Guermantes, und von Gilberte Swann, der zur Marquise de Saint-Loup aufgestiegenen Tochter eines Juden und einer Kokotte, weiß man, dass sie die neue Herzogin von Guermantes sein wird.2 Proust selbst hat für diese Bewegung einen eigenen Begriff, den der „inversion“, gewählt.3 In ästhetischer Hinsicht kündigt sich diese Inversion bereits in den Gemälden des Malers Elstir an, etwa in dem schlechterdings unvorstellbaren Port de Carquethuit (R II, 192ff.), wo sich Land und Meer in immer neuen Volten verkehren und die Ekphrasis jede Form von Mimetismus sprengt. Explizit thematisch wird die Inversion allerdings erst mit Sodome et Gomorrhe.4 Dort zunächst noch auf die männliche Homosexualität begrenzt und also von ontogenetischer Natur (R III, 18), weitet sie sich in La Prisonnière zu einer phänomenologischen Kippfigur aus, die an der Frage nach der vermeintlichen oder realen Inversion Albertines ansetzt und zugleich eine schier unendliche Semiose im Zeichen der différance in Gang setzt.5 Zu guter Letzt erfasst die Inversion alle Bereiche des symbolischen Registers – Semantik, Etymologie, ja sogar die Topographie – und deprogrammiert damit eben auch die Restbestände einer feudalen Ordnung, wie sie zu Anfang noch die euphorische Erinnerungspoetik des Romans bestimmt hat.6

Endet nun die Recherche mit dem Triumph der Mme Verdurin und Gilberte Swanns, so ist diese Schlussfügung nicht nur die konsequente Durchführung der Inversion, sondern auch insofern ein balzacianisches Ende, als es uns einigermaßen unmissverständlich an den Anfang der Comédie humaine zurückverweist. Dort heißt es im Avant-propos programmatisch: „un épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social“ (CH I, 4)7. Fragt man vor diesem Hintergrund nach dem adeligen Gegenstück zu Mme Verdurin und Gilberte Swann, so wird man nicht lange nachzudenken haben, denn Proust hat den gefallenen Aristokraten emblematisch in der Figur des Baron de Charlus angelegt. Charlus, der in Le Côté de Guermantes noch als Verkörperung des Standesdünkels auftritt und sich bei jeder Gelegenheit in nicht enden wollenden Herleitungen seiner merowingischen Abkunft gefällt, steht in zweierlei Hinsicht im Zeichen der Inversion. Zum einen folgt auf die Entdeckung seiner Homosexualität durch Marcel zu Beginn von Sodome et Gomorrhe auf der Handlungsebene die sukzessive Ausdehnung der Inversion auf bald alle Bereiche der Gesellschaft; zum anderen bewirkt gerade seine im Zuge dieser Ausdehnung immer ostentativer zur Schau gestellte Vorliebe für den jungen Plebejer Charlie Morel seinen Fall. Beide Bewegungen haben ihren Angelpunkt kaum zufällig in Mme Verdurin, die Charlus am Ende von La Prisonnière als Verderber der Jugend demaskiert und damit seine gesellschaftliche Ächtung und ihren endgültigen Aufstieg einleitet. Auf dem sozialen Tiefpunkt ist Charlus dann in Le Temps retrouvé angelangt. Nur wenige Seiten bevor Mme Verdurin auf dem bal de têtes als neue Prinzessin von Guermantes in Erscheinung tritt, begegnen wir ihm in einem Männerbordell wieder, wo er sich während der Bombennächte des 1. Weltkriegs von Apachen auspeitschen lässt, die ihm gar nicht vulgär und brutal genug sein können (R IV, 388ff.).8

Weshalb nun aber Charlus für unsere Fragestellung von Interesse ist, liegt nicht allein daran, dass er eine gleichsam balzacianische Umschlag-Figur darstellt, sondern schuldet sich vor allem dem Umstand, dass er selbst ein enthusiastischer Leser Balzacs ist. Wir erfahren dies zunächst eher beiläufig. Marcel ist zum ersten Mal bei den Guermantes zu einer Soiree eingeladen, und als der Herzog im Laufe des Abends irgendwann einmal auf Balzac zu sprechen kommt, unterbricht ihn seine Gattin Oriane jäh, da es ihrer Meinung nach hierzu in der Familie weitaus Berufenere gebe, nämlich ihren Schwager Charlus, der, wie sie sagt, „le sait par cœur“ (R II, 781). Man überliest die Bemerkung schon deshalb leicht, weil das Gespräch augenblicklich einen anderen Verlauf nimmt und sich wie so viele der Salon-Gespräche in Le Côté de Guermantes in einer eigentümlichen Mischung aus Tagespolitik, Klatsch sowie Meinungen zu Literatur, Kunst oder Botanik verliert. Nur ist es eben so, dass sich Proust niemals in einer reinen Mimesis an aristokratischer Blasiertheit übt. Wenn Oriane etwas später etwa auf ihre Orchideen zu sprechen kommt – „il faudrait un mari pour mes fleurs. Sans cela je n’aurai pas de petits!“ (R II, 805) – so verweist dies nicht nur auf die sexuelle Vernachlässigung durch ihren notorisch untreuen Ehemann, sondern eben auch auf den Anfang von Sodome et Gomorrhe, wo die (unwahrscheinliche) Orchideenbestäubung den Ausgangspunkt für jene Episode bildet, in der Charlus erstmals von seiner ,Hummel‘ Jupien ,bestäubt‘ wird.9 Was nun den Balzac-Bezug angeht, finden wir den nächsten Hinweis auf die Lektürepräferenzen des Barons erst sehr viel später, fast am Ende von Sodome et Gomorrhe. Den Rahmen hierzu bildet eine der zahlreichen, nicht enden wollenden Fahrten im petit train zu dem von den Verdurins in der Nähe von Balbec angemieteten Schloss La Raspelière, die sich hier dadurch auszeichnet, dass Charlus in einer Ecke des Abteils Balzac liest, während die anderen Fahrgäste etwas abseits über seine Homosexualität feixen. Marcel, den erstmals Albertine zu einem Diner bei den Verdurins begleitet, spricht Charlus auf Balzac an. Der soeben noch in Les Secrets de la Princesse de Cadignan vertiefte Baron vergleicht nun alsbald, „[pour] parler des choses qui puissent intéresser cette jeune fille“ (R III, 441), die Garderobe Albertines mit derjenigen der Princesse de Cadignan. Daraufhin ist er plötzlich tief bewegt:

Il tomba dans une songerie profonde, et comme se parlant à soi-même: « Les Secrets de la princesse de Cadignan! s’écria-t-il, quel chef-d’œuvre! comme c’est profond, comme c’est douloureux, cette mauvaise réputation de Diane qui craint tant que l’homme qu’elle aime ne l’apprenne! Quelle vérité éternelle, et plus générale que cela n’en a l’air! comme cela va loin! » M. de Charlus prononça ces mots avec une tristesse qu’on sentait pourtant qu’il ne trouvait pas sans charme. […] Et maintenant que depuis un instant il confondait sa situation avec celle décrite par Balzac, il se réfugiait en quelque sorte dans la nouvelle, et à l’infortune qui le menaçait peut-être et ne laissait pas en tous cas de l’effrayer, il avait cette consolation de trouver dans sa propre anxiété ce que Swann et aussi Saint-Loup eussent appelé quelque chose de « très balzacien ». (R III, 445)

Der Passus ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert, handelt doch Balzacs Novelle von (später) Liebe und dem Verbergen eines in sexueller Hinsicht alles andere als normkonformen Vorlebens. Diane de Cadignan hat es in knapp zwanzig Jahren auf ein „album“ (CH IV, 952) voller Portraits ehemaliger Geliebter gebracht und fürchtet nun, da sie den tugendhaften Schriftsteller Daniel d’Arthez für sich gewinnen will, nichts mehr, als dass diese Geliebten D’Arthez ihr – sexuelles – Geheimnis enthüllen könnten. Dass sich Charlus mit der Prinzessin identifiziert, muss angesichts der Situation, in der er sich befindet, nicht weiter wunder nehmen, denn auch er will nicht, dass sein sexuelles Vorleben ruchbar und seinem jungen Protegé Morel zur Kenntnis gebracht wird. Diese Furcht ist in Hinblick auf Morel allerdings unbegründet, da dieser, wie man wenig später erfährt, seinerseits mit Männern schläft. Gerade darum ist aber Charlus’ identifikatorische Lektüre so interessant, bewirkt sie es doch, dass Balzacs Novelle, die man im Sinne der geglückten Verbürgerlichung einer in die Jahre gekommenen Mme de Merteuil lesen könnte, einen gleichsam doppelt homoerotischen Unterton bekommt. Hieraus erklärt sich auch der Bezug zu Albertine. Denn wenn die Novelle zu den Dingen gehört, „qui puissent intéresser cette jeune fille“, so vor allem wohl darum, weil sich Albertine in einer sehr ähnlichen Lage befindet wie Diane de Cadignan: Sie verfügt über kein Vermögen, will Marcel für sich gewinnen und ist – sofern wir geneigt sind, einer Reihe von Enthüllungen aus Albertine disparue Glauben zu schenken – vor allem lesbisch. Indem Charlus Balzac auf sich überträgt und zugleich Albertine mit der Prinzessin in Beziehung setzt, liest er letztere nun als eine Art Caché, unter dem sich gleich die beiden Varianten sexueller Inversion verbergen, und so erweist sich Diane de Cadignan letztlich als Stellvertreterfigur für Sodome et Gomorrhe, für den Titel also, den Proust seinem Roman gegeben hat.

Inwiefern eine solche Lektüre à rebours berechtigt erscheint, lässt sich ansatzweise erkennen, sobald man sich die ehemaligen Geliebten der Prinzessin näher ansieht. In Dianes Album befinden sich nämlich unter anderen die Porträts von Eugène de Rastignac und Lucien de Rubempré (CH IV, 952), also von zwei männlichen Figuren, die mit Vautrin und damit eben auch mit Homosexualität assoziiert sind. Besonders Lucien de Rubempré, der Selbstmord begeht, als seine Beziehung zu Vautrin bekannt zu werden droht, schlägt die Brücke zu Mme de Cadignan, ist er doch das Beispiel für eine gescheiterte Verbergung devianter Sexualität. Aber auch zu Rastignac gäbe es einiges zu sagen. Zumindest ist Charlus dieser Meinung. Auf die Frage Marcels, welche Romane Balzacs er bevorzuge, kommt er sogleich auf das große Diptychon der Comédie humaine zu sprechen:

Comment! vous ne connaissez pas Les Illusions perdues? C’est si beau, le moment où Carlos Herrera demande le nom du château devant lequel passe sa calèche: c’est Rastignac, la demeure du jeune homme qu’il a aimé autrefois. Et l’abbé alors de tomber dans une rêverie que Swann appelait, ce qui était bien spirituel, La Tristesse d’Olympio de la pédérastie. Et la mort de Lucien! je ne me rappelle plus quel homme de goût avait eu cette réponse, à qui lui demandait quel événement l’avait le plus affligé dans sa vie: “ La mort de Lucien de Rubempré dans Splendeurs et misères ”. (R III, 437)

Fortsetzung im kommenden Heft
der Romanischen Studien


  1. Die komplexe Erzählsituation der Recherche ist vielfältig ausdifferenziert worden. Ich unterscheide auf die Gefahr übergebührlicher Vereinfachung hin, indes der Klarheit halber, zwischen der erlebenden Figur Marcel, dem Erzähler als extradiegetischer Instanz eines Wissens, das der Figur so nicht zuhanden ist, sowie Proust als Autor.
  2. Dieser in Le Temps retrouvé nicht realisierte, letzte Aufstieg Gilbertes wird in Albertine disparue vorweggenommen, wenn es dort bezüglich des neuen monde heißt: „Sans doute ne songent-ils pas à rechercher les causes de l’accident qui fit de Mlle Swann Mlle de Forcheville, et de Mlle de Forcheville la marquise de Saint-Loup puis la duchesse de Guermantes“, R IV, 248. Ich zitiere À la recherche du temps perdu durchweg nach der vierbändigen, von Jean-Yves Tadié besorgten Pléiade-Ausgabe (Paris: Gallimard 1987–89) unter der Sigel R und der Angabe von Band und Seitenzahl.
  3. Zur „inversion“ als grundlegendem formalen Prinzip der Recherche siehe erstmals Roland Barthes, „Une idée de recherche“, in Recherche de Proust, hrsg. von Gérard Genette und Tzvetan Todorov (Paris: Seuil 1980), 34–9, hier insb. 36–7.
  4. Auf den Bezug von Elstirs Ästhetik zu der sexuellen „inversion“ hat bereits Rainer Warning hingewiesen und den Port de Carquethuit demzufolge auch als eine metapoetische mise-en-abyme gelesen, in der die für die Recherche grundlegende Dekonstruktionsbewegung vorgezeichnet ist. Vgl. „Zu Prousts ,impressionistischem Stil‘: 1. Proust und Flaubert. 2. Le port de Carquethuit“, in ders., Proust-Studien (München: Fink, 2000), 51–76, hier insb. 86–7.
  5. Zur différance als unabschließbare Semiose im Zeichen von Aufschub und Verschiebung vgl. den hierfür einschlägigen, weithin bekannten Aufsatz von Jacques Derrida, „La différance“ (1968), in ders., Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 1–30, hier 8–9.
  6. Zur ,Deprogrammierung‘ als die dialektische Überwindung von Restbeständen feudaler Narrative siehe Fredric Jameson, „The Existence of Italy“, in ders., Signatures of the Visible (London u.a.: Routledge, 1992), 155–229, hier 164–7.
  7. Ich zitiere die Comédie humaine durchweg nach der von Pierre-Georges Castex besorgten Pléiade-Ausgabe (Paris: Gallimard, 1976ff.) unter Angabe von Band und Seite.
  8. In der Tat vergehen zwischen diesen beiden Ereignissen „beaucoup d’années“, R IV, 433, die der Erzähler in einem Sanatorium verbringt, die jedoch in der Erzählung selbst elliptisch bleiben.

Ill.: Reynaldo Hahn

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