ab 10. September 2016 online: Vorabdruck der Rezension von Franziska Meier, „Dante in dürftiger Zeit: eine Rezension des neuen Romans ‚Pfingstwunder‘“, die erscheinen wird in Romanische Studien 5 (September 2016), http://blog.romanischestudien.de/dante-in-duerftiger-zeit

Im Heft 2 der Romanischen Studien: Ein Interview mit der Büchner-Preisträgerin 2013 Sibylle Lewitscharoff zu ihrem kommenden Buch Das Pfingstwunder. Hier ein kurzer Auszug:

Frau Lewitscharoff, wir führen ein Gespräch über Ihr Buch Das Pfingstwunder, das voraussichtlich im Jahr 2016 vorliegen wird – von Vorablesungen und einem gleichnamigen Hörspiel abgesehen, das vom Deutschlandradio Kultur im Winter 2014 und dem Hessischen Rundfunk am Pfingstmontag 2015 gesendet wird. Können Sie den momentanen Plan skizzieren?

S.L. Im Roman geht es um einen Dante-Kongress, der 2013 bei den Maltesern auf dem aventinischen Hügel in Rom stattfindet. Danteforscher aus verschiedenen Ländern und Erdteilen kommen da zusammen und gehen Canto für Canto die Commedia durch, bis sich ein neues pfingstliches Sprachwunder ereignet, natürlich just in dem Moment, in welchem die Glocken des Peterdoms das Pfingstfest einläuten; und dann geht – salopp gesagt: die Post ab. Die Danteforscher erheben sich jubilierend, sprachwunderlich pneumatisch gehoben, daherquasselnd in mindestens fünfzehn Sprachen, geradewegs in den Himmel. Einer ist übriggeblieben, Richard Ellwanger, der traurige Chronist. Kein wundergläubiger Mann. Er hockt inzwischen wieder in seiner Frankfurter Wohnung und schreibt auf chaotische, zweifeldurchsetzte Weise nieder, was ihm widerfahren ist.

[…]

Nach Varna ist es nicht weit. Bevor die Stadt in Sicht kommt, stehen auf der staubigen Lastwagenroute die Prostituierten. Es ist brühwarm. Schwitzwetter. Die Frauen sind zum Erbarmen. Nie habe ich so hässliche, so elende Prostituierte gesehen, ihre Leiber in knallfarbenes Plastik geschnürt, an den Füßen tragen sie Stiefel. Es verdingen sich Frauen fast jeden Alters, sie stehen vor den müllübersäten Böschungen und grinsen die Fahrer verzweifelt an. Irrsinnige Hoffnung, sich für einen winzigen Betrag mit einem Mann hinters Gebüsch verziehen zu dürfen oder zu ihm in die Fahrerkabine zu klettern und auf den nächsten Parkplatz zu fahren. Die Qualen der Hölle, wie Dante sie ausgemalt hat, scheinen mir plötzlich harmlos, es sind poetische Qualen, Feuer, die nicht wirklich brennen, Schwären, die für den poetischen Genuss eitern. Hier, im Sonnenglast, kommt alles verschärft zum Ausdruck, das große Widrige wie das kleine Widrige, Schweiß, Sperma, Urin, die Abszesse, das Blut, Schreie, Schläge, Juckreiz, Fliegen, zerbrochene Flaschen, Plastikdreck, Brennesseln, Getreidespelzen, die sich in die Haut bohren. Das Schicksal der bulgarischen Landstraßenhuren ist ebenso grausam, wie es das Schicksal der Leprösen über viele Jahrhunderte hinweg war. Doch weit und breit kein Christusfolger in Sicht, der ihnen die schmerzenden Füße salbte oder wenigstens eine von ihnen erlöste.

Lewitscharoff, Apostoloff.

Im Roman Apostoloff ist die Hölle nicht mehr wie bei Dante poetisch, sondern eine bulgarisch-irdische geworden, man denkt zugleich an Sartres Huis clos. Wird Das Pfingstwunder uns doch eine Hoffnung gewähren?

S.L. Ja, schon. Aber Hoffnung ist für den Erzähler des Romans nicht in Sicht. Er wurde ja vom Wunder förmlich ausgestoßen und ist deshalb zum Erzählen verdammt. Eine höchst unglückliche Position, die aber auf das Erzählen generell zutrifft. Nur die Unglückswürmer, die aus dem Paradies Vertriebenen, erzählen. Warum um Gotteswillen sollte ein zutiefst glücklicher Mensch einen Roman schreiben?

[…]

Wohin führt die Beschäftigung mit Dante denn nun Ihre Wissenschaftler?

S.L. Es führt sie zu einem aufgekratzten, beschwingten Kongreßerlebnis, das zunächst den ordnenden Rahmen der Divina Commedia nicht verläßt. Aber dann werden die Halteseile gekappt, und es geht hoch und immer höher hinaus. Reproduktion ist dabei nicht im Spiel, weder bezüglich der Commedia, noch mit Blick auf die heilsbewimmelten Danteforscher.

(Mehr im Heft 2 der Romanischen Studien.)

Abbildung: Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg (um 1180)

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