Deutsch-französische Beziehungen nach den Wahlen

Beiträge, Französisch

Christoph Vatter, „Quoi de neuf? Eine Netzwerk-Tagung in Lyon fragt nach dem Stand der deutsch-französischen Kulturbeziehungen“, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien 6 (2017)


Vorabdruck des Tagungsberichts:

Quoi de neuf?

Eine Netzwerk-Tagung in Lyon fragt nach dem Stand der deutsch-französischen Kulturbeziehungen

Christoph Vatter (Saarbrücken)

Tagungsbericht: „‚Quoi de neuf?‘ Les relations culturelles franco-allemandes revisitées“ (11.–13. Mai 2017), Colloque international „Jeunes chercheurs“, Programm: http://www.romanistik.de/aktuelles/2437, Organisation: Christoph Vatter (Universität des Saarlandes), Ulrich Pfeil (Université de Lorraine), Joachim Umlauf (Goethe-Institut Lyon) sowie Nicole Colin (Aix-Marseille Université), Jürgen Ritte (Université Sorbonne Nouvelle) und Corine Defrance (CNRS) mit Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule

Vor dem Hintergrund der aktuellen europäischen und internationalen Herausforderungen sind die Pflege und Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen ein wichtiger Aspekt der bilateralen Zusammenarbeit, gilt es doch auch in Zukunft das dichte Netzwerk zwischen den Gesellschaften beider Länder zu pflegen und zu stärken. Dabei stellt vor allem die Einbindung der jungen Generation in die Kooperation eine zentrale Aufgabe dar, soll sie doch die grenzüberschreitende Freundschaft lernen und für sich neu entdecken, um gerade in Fragen von Partnersprache, Bildung, Studium und Medien das Bestehende weiterzuentwickeln. Unmittelbar nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons bei den französischen Präsidentschaftswahlen war ein deutsch-französisches Forschungsatelier am Goethe-Institut Lyon Anlass für eine Bestandsaufnahme auf diesen Feldern und skizzierte Perspektiven für die Gestaltung und Erforschung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Darüber hinaus verfolgte das Atelier das Ziel, deutsche und französische Nachwuchswissenschaftler/innen interdisziplinär untereinander, aber auch mit Expert/innen der Erforschung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen und Praktiker/innen aus diesem Bereich zu vernetzen. Ausgerichtet wurde die Tagung von einem deutsch-französischen Konsortium: Christoph VATTER (Universität des Saarlandes), Ulrich PFEIL (Université de Lorraine), Joachim UMLAUF (Goethe-Institut Lyon) sowie Nicole COLIN (Aix-Marseille Université), Jürgen RITTE (Université Sorbonne Nouvelle) und Corine DEFRANCE (CNRS) mit Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule.

Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen

Nachdem Frankreich und Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als das Symbol der „Erbfeinde“ galten, sprechen nicht wenige heute von „Erbfreunden“ und vom „Motor“ der europäischen Integration. Angesichts dieser tiefgreifenden Veränderungen in dem Verhältnis zwischen beiden Staaten bemühen viele, unter ihnen auch der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer, das Bild von einem „Wunder“, doch kann diese Erklärung die intellektuelle Neugierde auch heute nicht befriedigen. Seit vielen Jahren unterstreichen die zahlreichen vorliegenden wissenschaftlichen Studien die Vielfältigkeit und die Komplexität des Annäherungsprozesses zwischen beiden Gesellschaften nach 1945, die heute auf den unterschiedlichen Ebenen eng miteinander verschränkt sind.

Dieser Befund gilt insbesondere für den kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern, der von einem engen Netzwerk geprägt und in seiner Art sicherlich einzigartig ist. In der Nachkriegszeit waren – trotz früher, v. a. zivilgesellschaftlicher Bemühungen der Annäherung – die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland (oder besser: den beiden deutschen Staaten) noch von Misstrauen, Hass und einem Revanchegefühl bestimmt; es bedurfte Frauen und Männer guten Willens, die sich als interkulturelle Mittler1 für die Annäherung engagierten und auf diese Weise die kulturellen Grundlagen für die deutsch-französische Verständigung legten. Diese Persönlichkeiten fanden sich nicht alleine unter den politischen Eliten, sondern kamen zumeist aus den verschiedenen Sektoren der Zivilgesellschaft2. Nur über diesen Weg konnte die deutsch-französische „Versöhnung“ eine Breite und dauerhafte gesellschaftliche Verankerung erreichen. Dabei waren es vor allem Mittlerpersönlichkeiten, die Modelle entwickelten und kulturelle Übersetzungsarbeit leisteten, sich als Organisatoren betätigten, die Verbände, Organisationen, Zeitschriften und Begegnungsformen begründeten, die sich schnell etablierten wie z. B. in Städtepartnerschaften.3 Andere betätigten sich als Autoren und Redner, um sich direkt an Jugendliche und Multiplikatoren zu wenden, schrieben in Zeitschriften und beteiligten sich an Treffen von jungen Menschen und Verständigungsarbeitern. Im Unterschied zur Zwischenkriegszeit beschränkte sich der kulturelle Austausch somit nicht alleine auf die kulturellen Eliten wie Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler. Parallel zum hochkulturellen Austausch entstanden neue Formen von Kulturbeziehungen, gerade auch im Bereich der Populärkultur und der Medien, wie z. B. in Musik, Film und Fernsehen. Der Sport war ein weiteres Feld, auf dem sich Emotionen zwischen den Beteiligten breit machten.4

Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 sind also Ausdruck eines erweiterten Kulturbegriffes, zu dem sich auch die verschiedenen Formen von Wissensproduktion gesellten. Gerade im Bereich der Wissenschaft vollzogen sich Transferprozesse und gemeinsame Projekte, die meist von wissenschaftlichen Mittlern und Institutionen organisiert wurden, die dieses Feld strukturierten und mit ihren Initiativen den Austausch und den Dialog förderten.5

„Quoi de neuf ?“ – aktuelle Herausforderungen und Perspektiven

Mit den französischen Präsidentschaftswahlen im Mai und den Reformplänen Emmanuel Macrons in Frankreich sowie den Bundestagswahlen in Deutschland stehen beide Länder in einem Prozess, der von Veränderungen und Wandel geprägt ist, maßgeblich auch im europäischen und internationalen Kontext, v. a. angesichts der durch den Brexit verschärften Krise der Europäischen Union sowie der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA. Das im Mai 2017 in Lyon organisierte Forschungsatelier verfolgte die Zielsetzung, Nachwuchswissenschaftler/innen aus Deutschland und Frankreich mit Expert/innen aus dem Bereich der Forschung zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen sowie aus den Institutionen des franco-allemand zusammenzubringen, um neue Perspektiven im Kontext dieser aktuellen Herausforderungen („Krise“) für die Europäische Union und auch das deutsch-französische Verhältnis zu diskutieren.

Im Zentrum der Tagung standen Vernetzung und Austausch, so dass keine Abfolge von Vorträgen vorgesehen war, sondern vielmehr in vier thematischen „tables rondes“ verschiedene Schwerpunkte ausgehend von Kurzbeiträgen interaktiv diskutiert wurden. An jedem Panel nahmen sowohl Nachwuchswissenschaftler/innen als auch etablierte Expert/innen sowie Praktiker/innen aus den Institutionen des deutsch-französischen Kulturaustauschs teil. Folgende übergreifende Fragestellungen verbanden die verschiedenen Gesprächsrunden: Wie kann es gelingen, eine neue Generation für die deutsch-französischen Beziehungen zu gewinnen, während die „Versöhnungsgeneration“ nach und nach abtritt? Diese Frage stellt sich auf individueller Ebene, aber auch für die Institutionen und die Medien. Sie wirft das Problem der Verstetigung der deutsch-französischen Verständigung auf, der Notwendigkeit ihrer Fortentwicklung angesichts der neuen Herausforderungen, die sich insbesondere auf der zivilgesellschaftlichen und lokalen Ebene stellen, z. B. bei Städtepartnerschaften oder auch den vielerorts überalterten deutsch-französischen Gesellschaften. Zweitens wirft der Blick auf den aktuellen Zustand der deutsch-französischen Kulturbeziehungen die Frage nach der Verstetigung und Erneuerung der Aufgaben zwischen Verständigung, Annäherung, Versöhnung und Kooperation auf, sowohl auf bilateraler als auch auf europäischer oder gar auf globaler Ebene. Seit dem Ende des Kalten Krieges, der deutschen Wiedervereinigung und der Erweiterung der Europäischen Union sind Frankreich und Deutschland gezwungen, den Bilateralismus hinter sich zu lassen, um die neuen Entwicklungen in Europa und darüber hinaus zu begleiten, sowohl auf der Ebene der offiziellen Strukturen wie auch in den sozio-kulturellen Verbänden, die oftmals auf privatem Feld aktiv sind. Dabei kann es nicht darum gehen, das „deutsch-französische Modell“ der Versöhnung und Kooperation zu exportieren, vielmehr haben Deutsche und Franzosen in den letzten Jahrzehnten einen „Werkzeugkasten“6 entwickelt, aus dem einige Instrumente in angepasster Form auch in anderen Kontexten hilfreich sein könnten. Drittens sollte schließlich die Rolle der Mittler diskutiert werden. Neben einer Ausdifferenzierung und Erweiterung des Mittler-Begriffs7 stellt sich im Lichte jüngerer Entwicklungen im Feld vermehrt die Frage nach weiteren Perspektiven für Mittler im franco-allemand, ihren Institutionen und Medien sowie der Tragweite und Zukunftsfähigkeit des Konzepts für die jüngeren Generationen.

Fünf thematische Schwerpunkte standen im Fokus der „tables rondes“ des Forschungsateliers: 1. Nouveaux regards – das franco-allemand von außen betrachtet; 2. die Zivilgesellschaft in den deutsch-französischen Beziehungen; 3. Zur Rolle der Populärkultur in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen; 4. Journalismus – Medien – Auslandskorrespondenten; 5. Mediation, Konflikt und Innovation.

Neu-Perspektivierungen im franco-allemand

Der Blick von außen auf das deutsch-französische Verhältnis spielt innerhalb des franco-allemand leider nur recht selten eine Rolle. In der Berichterstattung der deutschen und französischen Presse nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons leider genauso wenig wie in den einschlägigen Forschungsarbeiten zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Dass dies jedoch sehr produktive Perspektiven eröffnet, zeigte das erste Panel des Forschungsateliers, das von Ulrich Pfeil (Metz) moderiert wurde. Cécile PEYRONNET (Institut français, Paris, vorher Pnomh Pen (Kambodscha)) erinnerte an die Sichtbarkeit der deutsch-französischen Zusammenarbeit, die durch den gemeinsamen Fonds culturel franco-allemand/Deutsch-französischen Kulturfonds seit 2003 in Drittländern weltweit erzielt wird. Fallstudien zur Wahrnehmung des deutsch-französischen Paars – und auch zur strategischen Nutzung eventueller Dissonanzen – aus dem (post-)kolonialen Kontext Westafrikas (Isabelle Scheele, Rouen), den USA (Scott Krause, Chapel Hill) und Italien (Gabriele d’Ottavio, Trento) zeigten in differenzierter Art und Weise die Bedeutung historisch-politischer Kontexte auf, aber auch Ängste anderer EU-Länder wie Italien vor einer Marginalisierung innerhalb der EU angesichts einer deutsch-französischen Dominanz. Gleichwohl belegt die Diskussion, dass eine Übertragbarkeit des „deutsch-französischen Modells“ auf andere Konstellationen schwierig ist, nicht zuletzt da – und hier mag ein Spezifikum vorliegen – die Initiativen nach 1945 maßgeblich von zivilgesellschaftlichen Akteuren ausgingen.

Folgt man den Ergebnissen von Meinungsumfragen in den letzten Jahren, so kommt man zu dem Schluss, dass, trotz abweichender politischer und wirtschaftlicher Weichenstellungen, die Bürger in Deutschland und Frankreich ein überwiegend positives Bild vom Nachbarn haben. Sind also die Gesellschaften die Garanten für die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern? Gibt es eine deutsch-französische Zivilgesellschaft? Wer sind die Träger und die Vektoren dieser Beziehungen? Welchen Platz nimmt die Jugend ein, wie entwickelt sich die Partnersprache bei der wechselseitigen Kommunikation? Wie sehen die Bilanz der Städtepartnerschaften und ihre Zukunft aus? Diese Themen wurden im Rahmen der folgenden, von Corine Defrance geleiteten „table ronde“ zur Rolle der Zivilgesellschaft in den deutsch-französischen Beziehungen diskutiert. Bodo MROZEK (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) unterstrich die Bedeutung der (medialen) Jugendkulturen im deutsch-französischen Wissens- und Kulturtransfer als bislang noch unzureichend berücksichtigte Kontexte. Béatrice ANGRAND, die Generalsekretärin des DFJW, sprach über aktuelle Herausforderungen der Erweiterung und notwendige Neuperspektivierungen des Jugendaustauschs zwischen beiden Ländern jenseits des „Versöhnungsdiskurses“, um das Deutsch-Französische weiter attraktiv zu halten. Constanze KNITTER (Mainz/Metz) schloss sich dieser Position auf Basis der Analyse der Probleme von Städtepartnerschaften an. Ergänzt wurde das Panel durch Frédéric AURIA (Deutschlehrerverband ADEAF, Lyon), der Einblicke in die Entwicklung des schulischen Deutschunterrichts seit der „réforme du collège“ sowie die mit der Wahl Macrons verbundenen aktuellen Entwicklungen gab. Als Ergebnis der Diskussion erscheinen vor allem drei Perspektiven vielversprechend: 1. Dreieckspartnerschaften im Jugendaustausch oder auch von Städtepartnerschaften, z. B. mit Entwicklungsländern; 2. die Verortung des franco-allemand in der Migrationsgesellschaft; sowie 3. die Notwendigkeit, kürzere, projektbezogene Formen des Engagements zu entwickeln, die den Bedürfnissen junger Menschen entsprechen.

Mit der Frage nach der Rolle der zahlreichen interkulturellen Verflechtungen in der Populärkultur8 für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen rückte die folgende, von Christoph Vatter (Saarbrücken) geleitete „table ronde“ einen bislang in der einschlägigen Forschung wenig beachteten Bereich in den Fokus. Gerade für viele junge Menschen stellen populär- und massenkulturelle Medien Zonen des ersten Kontakts mit der anderen Kultur dar und können – zumindest kurzfristig – deutsch-französische Konjunkturen beeinflussen. Es stellt sich also die Frage, inwiefern die Präsenz und Verfügbarkeit von Repräsentanten und medialen Repräsentationen des Anderen zu einer sozialen Verbreiterung und Ausdifferenzierung des deutsch-französischen Austauschs beizutragen vermögen. Aline MALDENER (Saarbrücken) zeigte auf, wie Jugendmedien wie Bravo oder Salut les copains in den 1960er Jahren als „Europeanisierungsagenten“ wirksam wurden und transnationale Netzwerke zwischen Jugendlichen aktiv beförderten. Christine ASMUS (Saarbrücken) verwies auf die Bedeutung des Tourismus, der eine zentrale interkulturelle Kontaktzone für die Zivilgesellschaft darstellt, vor allem auch über Reiseführer als wichtige Vektoren für Fremdbilder und Generatoren von Erwartungen an den Anderen. Trotz der jüngsten Aufwertung von Comics als „graphic novels“ nimmt die Gattung dies- und jenseits immer noch einen anderen Stellenwert ein. Der Beitrag von Catherine TEISSIER (Aix-en-Provence) zeigte auf, wie die „bandes dessinées“ als attraktives Medium des Wissenstransfers und auch der Reflexion deutsch-französischer Beziehungen wirksam werden können, insb. auch durch inter- und crossmediale Effekte, wie z. B. Playlists. Gaëlle COUSIN (Nantes) erinnerte schließlich am Beispiel der „musiques actuelles“ an die Einbindung populärkultureller Formen in die auswärtige Kulturpolitik, v. a. auf französischer Seite.

In welcher Weise tragen Journalismus und Massenmedien zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen bei und wie ist die Rolle der Auslandskorrespondenten als Mittler, häufig mit Gatekeeper-Funktion, einzuschätzen? Diese Fragen leiteten die von Jürgen Ritte (Paris) moderierte Diskussion der vierten „table ronde“ der Lyoner Tagung. Valérie ROBERT und Nicolas HUBÉ (beide Paris) zeigten differenziert Bezüge zwischen Medien und Macht in Deutschland und Frankreich auf, aber auch wie die wechselseitige Wahrnehmung der Medien von Stereotypen und blinden Flecken geprägt ist. Hieraus leitete sich die Frage nach einer deutsch-französischen bzw. europäisches Öffentlichkeit als zentrales Diskussionsthema ab, die jedoch angesichts divergenter journalistisch-medialer Praktiken und Kommunikationskulturen, die Clarissa HERRMANN (Aix-en-Provence) am Beispiel von Morgensendungen im Radio analysierte, noch längst nicht realisiert ist. Für die Auslandskorrespondenten erinnerte Imke SCHULZ (Aix-en-Provence) am Beispiel von Heinz Sieburg an die Komplexität und Ambivalenz von Mittlerpersönlichkeiten. Ulrich PFEIL entwickelte schließlich am Beispiel von Ernst Weisenfeld, der sich sowohl als Journalist als auch als wissenschaftlicher Experte für Frankreich positionieren konnte, die Idee von Gruppenbiographien als Perspektive für die künftige Mittlerforschung.

Die deutsch-französischen Beziehungen waren und sind von stetigen Aushandlungsprozessen geprägt, so dass Konflikte, Vermittlung/Mediation und die Suche nach Innovation als Bedingungskontexte zentrale Untersuchungsgegenstände der Forschung dazu sind. Das von Nicole Colin moderierte Panel zu diesem Thema unterstrich mit zahlreichen Beispielen die Produktivität von Konflikten und Krisenzeiten in der Entwicklung der deutsch-französischen Annäherung seit 1945.9 Juliette CONSTANTIN und Gwendoline CICCOTINI (Aix-Marseille) zeigten dies im Kontext der Erinnerungskulturen an die Zeit des zweiten Weltkriegs auf, einerseits am Beispiel der Entwicklung der Reisen von „anciens déportés“ nach Buchenwald (Constantin) und andererseits anhand der Kriegs- und Besatzungskinder sowie deren Engagement in den deutsch-französischen Beziehungen. Ergänzt wurde das Panel durch die Beiträge von Gundula Gwenn HILLER (Aix-Marseille), die aus der Perspektive des interkulturellen Lernens Möglichkeiten zur Arbeit mit Konfliktsituationen und Missverständnissen, sog. „critical incidents“, diskutierte, und Dana MARTIN (Clermont-Ferrand), die für eine Integration von deutsch-französischen Alltagserfahrungen in die Erforschung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen plädierte.

Ergänzt wurden die Diskussionsrunden des Forschungsateliers durch ein Rahmenprogramm mit einem umfassenden Vortrag des Historikers Nicolas BEAUPRÉ (Clermont-Ferrand) zu Geschichte und Erinnerungskultur an den ersten Weltkrieg in deutsch-französischer Perspektive – seit 2014 ein zentrales Thema der deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Anlässlich des 100jährigen Gedenkens an die in beiden Ländern sehr unterschiedlich erinnerte Epoche wird deutlich, dass es – wie Beaupré mit zahlreichen Beispielen unterstrich – zwar keine gemeinsame deutsch-französische Erinnerungskultur gibt, aber durchaus gemeinsame Projekte, die den intensiven Austausch erlauben.

Weiterhin widmete sich eine öffentliche Abendveranstaltung den aktuellen Ereignissen im Kontext des Wahljahrs 2017 in beiden Ländern. Gäste der vom Leiter des Goethe-Instituts Lyon, Joachim Umlauf, moderierten Runde waren der frühere Deutschlandkorrespondent von Le Monde Frédéric LEMAÎTRE, der ausgewiesene Kenner der deutsch-französischen Beziehungen Stephan MARTENS (Cergy-Pontoise) sowie Jürgen RITTE (Paris), der neben seiner wissenschaftlichen auch seine journalistische Perspektive als Berichterstatter aus Frankreich in verschiedenen Medien einbringen konnte. Neben Fragen nach der Zukunft der Europäischen Union, die sich nach dem Wahlsieg Macrons an einer möglichen Flexibilität des „modèle allemand“ kristallisierten, konnte einhellig festgestellt werden, dass die französischen Wahlen im Kontext der aktuellen Herausforderungen der EU zu einer enorm großen Aufmerksamkeit und Präsenz in der Presse des Nachbarlandes geführt haben und somit das Thema der deutsch-französischen Beziehungen in Europa trotz vielfach beschworener Krisen und der vermeintlichen Routine einer „entfaszinierten Freundschaft“ (Peter Sloterdijk) die öffentliche Meinung zu mobilisieren vermag.

Bilanz und Perspektiven

Wie steht es nun um die deutsch-französischen Kulturbeziehungen? Das tagungsleitende „Quoi de neuf?“ verlangt natürlich gleichzeitig nach einer Bilanz und bringt so auch „du déjà vu“ hervor. Dazu gehörte vor allem die Herausforderung des Generationenwechsels und der Abkehr vom Versöhnungsparadigma. Auch die Diskussion der „couple de dirigeants“ oder des „modèle allemand“, insbesondere in Wirtschaftsfragen, überraschte angesichts der aktuellen politischen Situation nur wenig. Die Tagung unterstrich aber auch die zyklische Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen, die von Anfang an Konjunkturen mit Höhen und Tiefen unterlagen (es sei nur an die Verstimmung in Folge der Präambel erinnern, die vom deutschen Bundestag 1963 dem Elysée-Vertrag zur Versicherung der transatlantischen Partnerschaft vorangestellt wurde), so dass die Klage über eine Krise des franco-allemand genuiner Bestandteil desselben war und ist. Als fruchtbare Perspektivierungen für die Erforschung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen ergaben sich in erster Linie die folgenden fünf Aspekte: 1. die Produktivität von Konflikten und Krisenzeiten als kreative Impulse für die Weiterentwicklung der Beziehungen, insbesondere auf zivilgesellschaftlicher Ebene; 2. der Blick von außen auf das franco-allemand, nicht zuletzt auch in transatlantischer sowie postkolonialer Perspektive; 3. die Erschließung neuer Forschungsbereiche durch bislang unzureichend betrachteter Medien und Erfahrungsräume, v. a. in der Populärkultur. Mit Blick auf die institutionelle und praxisorientierte Ebene der deutsch-französischen Beziehungen sind, 4., die weiterhin aktuelle Frage der Mittler, ihren Netzwerken, Medien, Motivationen sowie des Rezeptionskontexts ihres Wirkens und schließlich (5.) die Suche nach neuen Kooperations- und Interaktionsformen für eine zivilgesellschaftliche Beteiligung zu nennen. Insbesondere für die Einbindung jüngerer Generationen erscheint die Öffnung für projektbezogene, punktuelle Formen des Engagements, auch über social media, als ein dringliches Desiderat, für das die herkömmlichen Strukturen von Vereinigungen und Institutionen noch unzureichend gewappnet sind.

Insgesamt erwies sich die Tagung als ein sehr produktives und gelungenes Format sowohl aufgrund ihrer Organisation in „tables rondes“ mit viel Raum für Diskussion als auch aufgrund der Kooperation zwischen Nachwuchswissenschaftler/innen und Expert/innen aus Forschung und Praxis der deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Neben der transdiszplinären Vernetzung unter Doktorand/innen erlaubte das Format den Austausch mit erfahrenen Expert/innen und Vertreter/innen von Institutionen des deutsch-französischen Kulturaustauschs, der damit sowohl als wissenschaftliches als auch als Berufsfeld in den Fokus rückte. Diese doppelte Perspektive machte die Tagung beispielsweise auch für fortgeschrittene Studierende attraktiv. In der Abschlussdiskussion des Kolloquiums wurde die Initiative als durchweg gelungen eingeschätzt und eine Fortführung dieser Form des Dialogs gewünscht, so dass seitens der Organisator/innen eine Institutionalisierung der Tagung als Plattform des deutsch-französischen Austauschs im zweijährigen Rhythmus vorgesehen ist.


  1. Vgl. Katja Marmetschke, „Was ist ein Mittler? Überlegungen zu den Konstituierungs- und Wirkungsbedingungen deutsch-französischer Verständigungsakteure“, in France-Allemagne au XXe siècle: la production de savoir sur l’autre (vol.1) = Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert: akademische Wissensproduktion über das andere Land (Bd.1), hrsg. von Hans-Jürgen Lüsebrink, Michel Grunewald, Reiner Marcowitz und Uwe Puschner (Bern: Peter Lang, 2011), 183–99; dies., „Dossier Mittlerstudien: Einleitung“, lendemains 146/147 (2012): 10–7; Manfred Bock, Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung: Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Tübingen: Narr, 2005); Nicole Colin und Joachim Umlauf: „Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff“, in dies., Corine Defrance und Ulrich Pfeil, Hrsg., Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 (Tübingen: Narr, 2013), 69–80.
  2. Vgl. Corine Defrance, Michael Kißener und Pia Nordblom, Hrsg., Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945: zivilgesellschaftliche Annäherungen (Tübingen: Narr, 2010).
  3. Vgl. Lucie Filipová, Erfüllte Hoffnung: Städtepartnerschaften als Instrument der deutsch-französischen Aussöhnung, 1950–2000 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015).
  4. Vgl. z. B. Jochen Müller, Von Kampfmaschinen und Ballkünstlern: Fremdwahrnehmung und Sportberichterstattung im deutsch-französischen Kontext (St. Ingbert: Röhrig, 2004); Ulrich Pfeil, Hrsg., Football et identité en France et en Allemagne (Villeneuve d’Ascq: Septentrion, 2010).
  5. Vgl. die Serie „Grenzgänger der Wissenschaft = Des passe-frontières de la science“ der Zeitschrift Dokumente = Documents (2013ff.).
  6. Vgl. Stefan Seidendorf, Hrsg., Deutsch-Französische Beziehungen als Modellbaukasten? Zur Übertragbarkeit von Aussöhnung und strukturierter Zusammenarbeit (Baden-Baden: Nomos, 2012).
  7. Vgl. Nicole Colin und Joachim Umlauf, „Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff“, in dies., Corine Defrance und Ulrich Pfeil, Hrsg., Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 (Narr: Tübingen, 2013), 69–80.
  8. Vgl. Dietmar Hüser und Ulrich Pfeil, Hrsg., Populärkultur und deutsch-französische Mittler: Akteure, Medien, Ausdrucksformen = Culture de masse et médiateurs franco-allemands: acteurs, médias, articulations (Bielefeld, Transcript, 2015); Alex Demeulenaere, Florian Henke und Christoph Vatter, Hrsg., Deutsch-französische Schnittstellen in Populärkultur und Medien: interkulturelle Vermittlungsprozesse und Fremdwahrnehmung = Interfaces franco-allemandes dans la culture populaire et les médias: dispositifs de médiation interculturels et formes de perception de l’Autre (Berlin und Münster: LIT, 2017).
  9. Vgl. dazu das Dossier „Interkulturalität in Kriegszeiten = Interculturalité en temps de guerre“ in Europa zwischen Text und Ort/Interkulturalität in Kriegszeiten (1914–1954) = L’Europe entre Texte et Lieu/Interculturalités en temps de guerre (1914–1954), hrsg. von Valérie Deshoulières, Hans-Jürgen Lüsebrink und Christoph Vatter, Frankreich-Forum 12 (Bielefeld: Transcript, 2013).

Ill.: European Council meeting, 22-23 June 2017

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