Geisteswissenschaften und Lebensphilosophie

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Form und Leben zwischen Positivismus und Idealismus

Gliederung:

  1. Antipositivismus als Folie eines neuen Wissensbegriffs um 1900
  2. Wissensschau einer lebensphilosophischen Poetik
  3. Autonomie und Leben
  4. Diskursgeschichte literarischer Autonomie

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Kai Nonnenmacher weiterlesen

1. Antipositivismus als Folie eines neuen Wissensbegriffs um 1900

Die traurigste Wirklichkeit ist immer noch tausendmal erquicklicher als die öde Afterphilosophie des Positivismus, die in der köstlichsten Gabe geistiger Freiheit nur Gesetz und Regel, nur Konvention und Knechtschaft findet.1

Karl_Vossler_1926
Karl Vossler, 1926

Neben Karl Vossler2 rechnete zu den Antipositivisten Anfang des 20. Jahrhunderts etwa Leo Spitzer3, Friedrich Gundolf und überhaupt der George-Kreis, Karl Viëtor, Paul Kluckhohn oder Oswald Spengler usf.

Um 2000 finden wir zwar einerseits neue Verknüpfungen von Wissenschaftsgeschichte und Literaturwissenschaft4, andererseits lässt sich Positivismus wieder als Krise des erkennenden Subjekts erzählen: Michel Houellebecq stellte in Les Particules élémentaires (1998) die großen Naturwissenschaftler der Vergangenheit wie Max Planck – die Intellektuelle waren und einen Salon führten – dem modernen Biologen gegenüber, der in Turnschuhen vor der Gen-Lesemaschine sitzt und nicht weiß, was er da eigentlich im kulturellen Zusammenhang tut, eine entfremdete Wissenschaftspraxis mithin.5

Mit einer aktuellen Hermeneutik der Präsenz und einer kulturwissenschaftlichen Rehabilitation des Mythos-Begriffs ist aber durchaus eine Annäherung an die Tendenzen um 1900 erkennbar. Habermas nannte den Positivismus einmal das Ende der Erkenntnistheorie6 – Lebensphilosophie und Geistesgeschichte sind beide Reaktionen auf eine solche Einschätzung, wie Mommsen bereits am wilhelminischen Deutschland zeigt:

Die neueren Entwicklungen in Kunst und Literatur seit den 1880er Jahren wiesen in die Richtung einer zunehmenden Distanzierung von dem bürgerlichen Kulturbewußtsein des 19. Jahrhunderts, in dem Kultur und Wissenschaft dicht beieinander gelagert waren. in den radikalen Nebensträngen des kulturellen Diskurses […] bestand offene Gegnerschaft zur Wissenschaft und zum Prinzip der Rationalität des wissenschaftlichen Diskurses.7

Während in Frankreich Emile Zolas Experimentalroman zumindest theoretisch den Anspruch erhob, statt Imagination nun Observation zum poetologischen Prinzip zu erheben8 und statt eines realistischen Photographismus die inneren historischen, soziologischen und biologischen Gesetze einer ganzen Epoche kritisch im narrativen Labor zu überprüfen, kippt der Naturalismus auf komplexe Weise in eine „Renaissance des Idealismus“ am Ende des 19. Jahrhunderts, so ein Monographietitel zu dieser Tendenz in Frankreich von Schiano-Bennis9.

Es kippen die Goncourt-Brüder vom lebensprallen Sozialroman in ihre „écriture artiste“ und morbide Verfallsbilder, der späte – nach Henri Mitterand „vierte“10Zola kippt ins sozialschwärmerische Prophetentum mit vitalistischen Romantiteln wie Fécondité (1899), die Idee eines „naturalisme spirituel“11 als Abkehr des Naturalisten Joris-Karl Huysmans von solchen Anschlüssen der Literatur markieren seine Konversion zu einem katholischen Fin de Siècle-Schreiben. Überall kippt die Gier nach wirklicher Wirklichkeit, nach ihrem „rohen Fleisch“12, in symbolistischen Ekel, elitären Rückzug, renouveau catholique, nervöse Verfeinerung. Henri Bergsons lebensphilosophische Konzeption des „élan vital“ versteht sich nun als einer logischen Erkenntnisform des Denkens entgegengesetzt:

Mais de là devrait résulter aussi que notre pensée, sous sa forme purement logique, est incapable de se représenter la vraie nature de la vie, la signification profonde du mouvement évolutif. Créée par la vie, dans des circonstances déterminées, pour agir sur des choses déterminées, comment embrasserait-elle la vie, dont elle n’est qu’une émanation ou un aspect?13

Jürgen Große zeigte in seiner Monographie über die Lebensphilosophie, dass eine Umorientierung auf das immanente, eigenmächtige Leben als Ganzheit bedeute, sich von Konzepten der Kontinuität wie „Geschichte, Fortschritt, Ich-Stabilisierung, Strukturzusammenhänge des Geistes“14 abzuwenden, deshalb war teilweise auch das Denken des Kontinuierlichen in Diltheys Argumentation nicht für Poetiken der Diskontinuität integrierbar. Das Erleben ist nicht mehr selbstverständlicher Ausgangspunkt der Überlegungen, sondern da es stets gefährdet ist, muss es in der Krisenstimmung um 1900 überhaupt erst herbeigeführt werden – Figuren des Bruchs sind die Folge, Rilkes Anthropologie in seiner achten Duineser Elegie liest sich als Diskontinuität von Objekt und Subjekt zugleich:

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.15

Eine solche Entwicklung hat auch Konsequenzen für den Erkenntnisanspruch von Literatur. André Gide hat zu Beginn seines Romans Les Caves du Vatican (1914) eine Parodie auf den naturalistischen Versuchsleiter eingebaut, der mit den Figuren wie mit Ratten in einem experimentellen Setting umgeht: „Il travaillait sur la chair vive.“16 Der Roman selbst führt Kontingenzen, moralische Ambiguitäten, tragische Strukturen vor, immer wieder zerfallen Scheindeterminiertheiten, und im acte gratuit feiert der Mensch seine Freiheit. Gegenbewegungen zum literarischen Naturalismus sind also thematischer wie struktureller Art, thematisch als psychopathographische „Literatur der Existenz“17, strukturell etwa als Durchbrechen von narrativer Linearität im Lebensvollzug, des élan vital, so im surrealistischen Roman von Breton und Aragon.

Überhaupt kann man die Geschichte der Literatur seit dieser Zeit auch erzählen als Rückzug einer Erzählautorität. Insofern führt eine direkte Linie von Gustave Flauberts Poetik der Auslassung hin zu Alain Robbe-Grillet (wie letzterer auch immer in Abgrenzung zu Balzacs Poetik der Fülle behauptet hat): Gerade die naturalistische Degradierung von Figuren zur allegorischen Einkleidung ihres Programms wird in der autonomen Literatur aufgehoben: Rimbauds „poésie objective“, Stéphane Mallarmés „poème absolu“, Guillaume Apollinaires „orphisme“, die „parole in libertà“ der italienischen Futuristen um Marinetti, sie alle geben klassische Kategorien der Ästhetik wie Textkohärenz, organische Form auf, und damit auch die auktoriale Verfügung über das Wissen: Der Erzähler des Nouveau Roman wird genauso vor einem Rätsel stehen wie seine Leser, es gibt bei Robbe-Grillet miteinander ringende Erzählinstanzen, blinde Fenster und Sackgassen, Doppelagenten und einen Echoraum intertextueller Ähnlichkeiten. Zugleich inszeniert Literatur einen Überschuss des Wissens, wenn wir Flauberts epistemologisches Spätprojekt Bouvard et Pécuchet (1881 posthum erschienen) so lesen, in Skizzen zu seinem unvollendeten Buch notiert Flaubert: „Barbarie par l’excès de l’individualisme et le délire de la science.“ Die späteren phantastischen, fiktionalen Wissens-Enzyklopädien können wir aus solchen Stellen ableiten:

Tous les corps animés reçoivent et communiquent l’influence des astres. Propriété analogue à la vertu de l’aimant. En dirigeant cette force on peut guérir les malades, voilà le principe. La science, depuis Mesmer, s’est développée, mais il importe toujours de verser le fluide et de faire des passes qui, premièrement, doivent endormir.18

Die prekäre Wissenspoetik des 20. Jahrhunderts findet eine Frühform in der dynamistischen Selbstorganisation des Lebens, in der vitalistischen Eigendynamik angesichts eines zivilisatorisch entfremdeten Lebens, die um 1900 Erlebnis und Ausdruck von Leben der Literatur zuweist, statt um 1800 Kunst und Natur in Opposition zu setzen. Das Leben ist Rätsel und Geheimnis, aber als dessen lebendiger Teil versucht der Mensch, der Entfremdung zu entgehen.

Nicht nur für die Literatur selbst, auch für die mit ihr befasste Disziplin gilt dies: Die Konzeption einer idealistischen Neuphilologie begründet die moderne Literaturwissenschaft mit einem lebensphilosophischen Vorbehalt gegenüber einer szientistischen Methode und findet ihren idealen Gegenstandsbereich in einer absoluten, symbolistischen, abstrakten „poésie pure“. Von der sprachwissenschaftlichen Fachgeschichte wird mitunter die Ausdifferenzierung der Philologie in eine Linguistik und Literaturwissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine fehlende wissenschaftliche Methodologie der zurückgelassenen philologischen Schwester erklärt.19 Dies verkennt, wie lange sich die Literaturwissenschaften einer solchen bewusst verweigerten. Die Grundlagen der Geisteswissenschaften nach Dilthey beruhen ja auf einem holistischen und nicht naturwissenschaftlich-isolierenden Interesse: „Der Analysis der menschlichen Gesellschaft ist der Mensch selber als lebendige Einheit gegeben und die Zergliederung dieser Lebenseinheit bildet daher ihr fundamentales Problem.“20

… Den vollständigen Artikel von Kai Nonnenmacher weiterlesen in Romanische Studien 1 (2015)

Der Artikel geht zurück auf einen Vortrag bei der von der Thyssen-Stiftung geförderten Tagung „Kunst, Erkenntnis, Wissenschaft (techne und episteme, ars und scientia)“ von Marion Hiller, Hochschule Vechta, 2011.


  1. Karl Vossler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (Heidelberg: C. Winter, 1904), 98. Vgl. zu dieser Stelle: Ulrich Thilo, Rezeption und Wirkung des ‚Cours de linguistique générale‘ (Tübingen: Narr Verlag, 1989), 149.
  2. Vgl. zum Einfluss der Vossler-Schule Clemens Knobloch, „Volkhafte Sprachforschung“: Studien zum Umbau der Sprachwissenschaft in Deutschland zwischen 1918 und 1945 (Berlin: De Gruyter, 2005), 56–59.
  3. Gumbrecht differenziert, Spitzer habe „den rhetorischen Gestus des Positivismus“ benutzt, sich aber Vossler zunehmend mit seinem Stilbegriff angenähert, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Leo Spitzers Stil (Tübingen: Narr, 2001), 33.
  4. Bspw. fragen Klinkert und Neuhofer hierbei auch nach einem spezifischen ‚Wissen‘ der Literatur, vgl. Thomas Klinkert und Monika Neuhofer, Hrsg., Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800: Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien (Berlin: De Gruyter, 2008).
  5. „Djerzinski n’était nullement parvenu à recréer autour de lui un tel phénomène [de Max Planck, Verf.]. L’ambiance au sein de l’unité de recherches qu’il dirigeait était, ni plus ni moins, une ambiance de bureau. Loin d’être les Rimbaud du microscope qu’un public sentimental aime à se représenter, les chercheurs en biologie moléculaire sont le plus souvent d’honnêtes techniciens, sans génie, qui lisent Le Nouvel Observateur et rêvent de partir en vacances au Groenland. La recherche en biologie moléculaire ne nécessite aucune créativité, aucune invention; c’est en réalité une activité à peu près complètement routinière, qui ne demande que de raisonnables aptitudes intellectuelles de second rang.“ Michel Houellebecq, Les Particules élémentaires: roman (Paris: Flammarion, 1998), Kap. 2.
  6. Vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968), Kap. „Positivismus, Pragmatismus, Historismus“, 88–233.
  7. Wolfgang J. Mommsen, „Kultur und Wissenschaft im kulturellen System des Wilhelmismus: Die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft und ihrer Verzauberung durch Kunst und Literatur“, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900: II. Idealismus und Positivismus, hrsg. von Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch und Friedrich Wilhelm Graf (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1997), 24–40.
  8. Vgl. Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten (München: Fink Verlag, 1999).
  9. Sandrine Schiano-Bennis, La renaissance de l’idéalisme à la fin du XIXe siècle (Paris: Champion 1999.)
  10. Henri Mitterand, „Le quatrième Zola“, Œuvres et critiques 2 (1991): 85-91. Vgl. neuerdings: Fabian Scharf, Émile Zola: De l’utopisme à l’utopie (1898 – 1903), Paris, Champion 2011.
  11. François Livi, J.-K. Huysmans: À rebours et l’esprit décadent (Paris: Nizet, 1991) 140 u. 209.
  12. Kai Nonnenmacher, „La palette éblouissante de la chair: Edmond et Jules de Goncourt“, in: Variations, Nr. 8: „Fleisch/carne/chair“ (2002): 53–76.
  13. Henri Bergson, L’évolution créatrice (Paris: Alcan, 41908), „Introduction“, ii.
  14. Jürgen Große, Lebensphilosophie (Stuttgart: Reclam, 2010).
  15. Rainer Maria Rilke, Gedichte 1910 bis 1926, hrsg. von Manfred Engel und August Stahl, Werke: Kommentierte Ausgabe (Frankfurt am Main, Insel, 1996), Bd. 2, 226.
  16. André Gide, Les caves du Vatican: sotie (Paris: Gallimard, 1922), 13.
  17. Thomas Anz, Literatur der Existenz: Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus (Stuttgart: Metzler, 1977).
  18. Gustave Flaubert, Bouvard et Pécuchet, Œeuvres complètes 7 (A. Quantin, 1885), Kap. 8, 260. Vgl. dazu Dietrich Scholler, Umzug nach Encyclopaedia: Zur narrativen Inszenierung des Wissens in Flauberts „Bouvard et Pécuchet“ (Berlin: Weidler, 2002).
  19. Vgl. Johanna Wolf, Kontinuität und Wandel der Philologien: Textarchäologische Studien zur Entstehung der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert (Tübingen: Narr, 2012).
  20. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften: Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Gesammelte Schriften 1 (Stuttgart: Teubner, 1922), 375.

 

Abb.: Jef Safi Entropy ≥ Memory . Creativity ²Karl Vossler, 1926

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