„Bella e perduta“ von Pietro Marcello
Dominik Kamalzadeh, „Der Wert des Wertlosen: zu Pietro Marcellos Film Bella e perduta“, Vorabdruck aus Romanische Studien (Herbst 2016)
Ein Barockpalast und ein junger Büffel haben dem ersten Anschein nach wenig gemeinsam – ein wenig großzügiger betrachtet, dann aber umso mehr. Bei Ersterem handelt es sich um die Reggia di Carditello, einen barocken Prachtbau in Caserta, für den sich lange Zeit weder eine ländliche noch städtische Einrichtung zuständig fühlte. So lag es an einem Hirten namens Tommaso Cestrone, den Bau zu beaufsichtigen und vor dem Verfall zu bewahren. Den jungen Büffel, der im Garten des Anwesens grast, hat Tommaso auch gerettet. Männliche Tiere werden im Rahmen der industriellen Mozzarella-Produktion, die in dieser Region zuhause ist, wie Hähne bei der Hühnerzucht aussortiert und getötet. Das Tier und der Palast verbindet also eine durchaus vergleichbare Form von Denkweise, die alles über Bord wirft, was keinem unmittelbaren Zweck dient.
Doch Pietro Marcellos Film Bella e perduta zieht keine voreiligen Schlüsse. Es handelt es sich um einen jener selten gewordenen Filme, die darauf vertrauen, dass sich Geschichten von umfassenderer Bedeutung auch in einem kleinen, genau abgestecktem Terrain aufdecken lassen. Er braucht für den Anfang nur einen Mann mit altruistischer Ader und großem Herz, um eine Kulturgeschichte der Verfehlungen zu entwerfen. Bei aller Kritik allerdings nicht im Tonfall der Empörung, sondern als rhapsodische Ballade auf den Niedergang bewährter Traditionen: poetisch und politisch, dokumentarisch und zugleich auf Mythen und Volkskultur zugreifend.
„Das erste Paradoxon liegt schon darin, dass Tommaso das Schloss und die Fresken von Jakob Philipp Hackert, die sich darin befinden, zu schätzen weiß“, sagt Marcello, der selbst aus der Provinz Caserta kommt. „Der Hirte weiß, dass er eigentlich zu ungebildet ist, um über den Palast sprechen zu können. Zugleich versteht er jedoch, dass es ungeheuerlich ist, dass er der Einzige ist, der den Wert dieses Objekts erkennt. Wie kann es sein, dass sich niemand auf diese Kultur besinnt?“
Was Tommaso und mithin auch Marcello beklagen, ist eine Geschichtsvergessenheit, die sich auf vielen Ebenen, etwa auch beim Raubbau des Landes abzeichnet. Kampanien war einmal eines der reichhaltigsten Gebiete Italiens, so Marcelllo, „mit drei Ernten im Jahr, das gelang höchstens im alten Ägypten“. Die Büffel seien eigentlich die ersten Einwohner in bourbonischen Zeiten gewesen, „sie waren ungemein wichtig für die Hirten, um das Land zu bearbeiten.“ Deshalb findet man sie auch auf den Fresken im Schloss schon abgebildet. „Mittlerweile gelten sie als unnütz – das Verhältnis Mensch und Tier ist ein anderes geworden und es erzählt von den Veränderungen einer Gesellschaft. Früher hat man auch nicht bei jeder Gelegenheit Fleisch gegessen, da ist das eher bei den Feiertagen einmal passiert.“
In Bella e perduta kann man einerseits sehen, was aus diesem Erbe geworden ist. Man sieht Menschen, die gegen die Verschmutzung, die Müllberge, die Ignoranz der Politik demonstrieren. Heute liegt der Palast in der sogenannten Terra dei fuochi, dem Feuerland im Umfeld Neapels, das durch die von der Mafia kontrollierte Entsorgung von Giftmüll und Müllverbrennungsanlagen zu einem Menetekel für Umweltverschmutzung wurde. Der Film belässt es jedoch nicht bei der Verzeichnung solcher Missstände, sondern wechselt die Perspektive, um nicht zu sagen: seine Haltung zur Welt. Ähnlich wie der Portugiese Miguel Gomes in As Mil e Uma Noites (1001 Nacht) – oder italienische Filmschaffende wie Roberto Minervini und Alice Rohrwacher, die vergleichbar eigensinnig auf kulturelle Randzonen blicken – wagt Marcello den Sprung in die Fiktion, um die Wirklichkeit um eine Form von Subjektivität zu ergänzen: Statt nur den Verfall zu verzeichnen, versucht er nach einem utopischen Moment zu greifen. Das Kino hat die Macht, eine Schönheit hervor zu streichen, an die es sich zu erinnern, die es zu retten gilt. Nicht aus Nostalgie, sondern im Sinne einer Politik des Bewahrens. Es war die Kontingenz des Lebens selbst, die dem Film gewissermaßen diese Form aufdrängte. Tommaso erlitt noch während des Drehs zu Weihnachten einen tödlichen Herzinfarkt. „Wir hatten keinen Hirten mehr, bloß den Büffel und die Reggia“, sagt Marcello. „Und wir haben es als moralische Notwendigkeit empfunden, die Geschichte weiterzuführen. Solche Unvorhersehbarkeiten passieren mir immer wieder.“
Der Büffel Sarchiapone rückt zum Ersatzprotagonisten des Films auf, was an Robert Bressons Meisterwerk Au hasard Balthazar (1966) erinnert, sieht man ihm doch auch dabei, wie er von Menschen eingekesselt, zur Schlachtbank getrieben wird. Doch später können wir auch die Gedanken des Tieres hören (in der Stimme von Elio Germano) und es sind die einer kostbaren Seele, Sarchiapone wundert sich über seine Besitzer und träumt davon, auf dem Mond zu leben, und er wünscht den Menschen Flügeln, um davonzufliegen. „Diese, meine Geschichte, ist alles, was ich habe“, sagt er. Marcello verankert die Parabel um das Leiden des Büffels nun stärker in einem Paralleluniversum, das stark mit der Volkskultur Neapels in Verbindung steht. Mit Pulcinella stellt er dem Tier den maskierten Narren der Commedia dell’Arte zur Seite, der Tommasos letztem Wunsch entspricht und den Büffel auf eine Reise zu seinem neuen Besitzer, dem Hirten Gesuino begleitet. Er lebt in der historischen Region Viterbo in einer Höhle, deren Wandmalereien wiederum auf zurückliegende Zeiten verweisen. Es ist eine Reise zwischen Lebenden und Toten (dessen Vermittler Pulcinella ist, denn von ihm sagt man, er könne die Verstorbenen hören), zwischen dem Ideellen und dem Wirklichen.
Die mythenhafte Erzählung ist somit nicht als Flucht vor den harten Bedingungen der Realität zu verstehen. Sarchiapones Schicksal bleibt auch in der Logik der Fabel ein prekäres. Sein Schicksal steht, anders als jenes der Menschen, von Anfang an fest. Dennoch verändert die erzählerische Inversion die Ausrichtung des ganzen Films. Wünsche, Leidenschaften und Eigenschaften werden einem Subjekt zuerkannt, das keinen Platz in der menschlichen Ordnung der Dinge zugewiesen war. Der Blick für den Wert des nur scheinbar Wertlosen wird geschärft, und dies erstattet der Welt eine Würde, eine Form von Moral zurück. „Die Fabeln erzählen die Wahrheit“, heißt es folgerichtig im Film einmal. „Sie erzählen von ziviler Verantwortung“, präzisiert Marcello: „Das war Maurizio Braucci, dem Drehbuchautor, sehr wichtig. Es bedeutet, dass wir für unsere Umwelt Verantwortung übernehmen müssen. Das ist mein Gesichtspunkt – das, woran ich fest glaube.“
Mit seiner emphatischen Durchdringung der Lebenswelt weist Bella e perduta über die Krankheit Kampaniens hinaus. Es mag sich um einen Mikrokosmos handeln, doch man findet darin auch die Spuren vergangener Herrschaftsmodelle, die bis zur Zeit Viktor Emanuels zurückreichen, dem ersten, der das Land in die Hände der Camorra getrieben habe. Die Frage des Südens, sagt der Filmemacher, sei in Italien seit jeher unbeantwortet geblieben. In seinem Ursprung ist der Italiener Bauer, doch „diese sind gewaltsam ihrem Land entrissen und in die Nachkriegsindustrie eingeschleust worden. Das hat eine Gesellschaft produziert, die über ihre Möglichkeiten gelebt hat.“
Für den Barockpalast ist inzwischen der Staat aktiv geworden. Was man damit vorhat, wisse man freilich nicht so genau. Bella e perduta könnte in seinem Beharren auf den Geschichten eines Schlosses, eines Büffels und seines Hirten als Ausgangspunkt eines erneuerten Traditionsverständnisses dienen. Aus den Ruinen möge die Veränderung hervorgehen.
Ill.: Stadtkino Filmverleih, Filmbilder