Didi-Huberman, Das Auge der Geschichte IV (C. Wild)

Beiträge, Französisch

Cornelia Wild, „Paradox der Repräsentation: zu Didi-Hubermans ‚Das Auge der Geschichte‘, Band IV“, erscheint in Romanische Studien

 

Paradox der Repräsentation

Zu Didi-Hubermans ‚Das Auge der Geschichte‘, Band IV

Cornelia Wild (München)

Georges Didi-Huberman, Peuples exposés, peuples figurants, L’Œil de l’histoire 4 (Paris: Les Éditions de Minuit, 2012).

Georges Didi-Huberman, Die Namenlosen zwischen Licht und Schatten, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Das Auge der Geschichte IV (Paderborn: Fink 2017), 295 S.

Mit Peuples exposés, peuples figurants: die Namenlosen zwischen Licht und Schatten, liegt der vierte Band der Reihe „L’Œil de l’histoire“ von Georges Didi-Huberman im Fink Verlag in deutscher Übersetzung vor.

Für diese Reihe hat Didi-Huberman von Band 1, Quand les images prennent position (2009) über Band 4, Peuples exposés, peuples figurants bis zuletzt Band 6, Peuples en larmes, peuples en armes (2016) fast jedes Jahr einen neuen Band vorgelegt. Zwischen diesen Bänden besteht allenfalls eine lose Verbindung, was nicht heißt, dass die Reihung nicht berechtigt wäre, im Gegenteil. Das Auge der Geschichte schreibt an einer Geschichte des Imaginären und des Bildergedächtnisses, als überlagerte und wiederholte Lektüre in Kunst und Literatur. Mit der Reihe entsteht ein Atlas der Geschichte, ein Tableau, das Bild- und Textlektüren in essayistischer Weise miteinander in Verbindung bringt. Die Thesen von Didi-Huberman sind schnell formuliert, aber sie treffen uns: Sie wecken ein theoretisches Begehren, sie stoßen ein Denken an, denn sie berühren die empfindlichen Punkte der Geschichte.

Der Reihentitel „Das Auge der Geschichte“ ist dabei keine Metapher für ‚Zeitzeugen‘. Didi-Huberman interessiert sich für die vergessenen Blicke und Worte, die in den Diskursen eingelassen und von diesen ausgeschlossen worden sind. Seine Analysen zielen damit auf das Unbewusste des Denkens und der Diskurse und das, was uns daran berührt. Die Serie ist eine Lektüre von reflexiven Bildern: Bildern der Geschichte, die gelesen werden können wie die Fotografien in La chambre claire von Roland Barthes. Durch die Punktierung von Details, das sich Affizieren-Lassen vom Randständigen im Bild, vom Verrutschten und Deformierten, dem zufällig Mit-Dargestellten, erzeugt Didi-Huberman die Sichtbarkeit des Marginalen.

Die Argumentation folgt der Montage des Materials, seinen Typologien und Pathosformeln. Auch in sich sind die Bände nicht homogen in dem Sinne, dass sie eine kausale oder historische Linie verfolgen würden. Peuples exposés, peuples figurants setzt mit der zentralen These ein, dass das einfache Volk in dem Maße, in dem es in Politik und Kunst repräsentiert, der Repräsentation zugleich auch entzogen wird: „les peuples sont toujours exposés à disparaître“ (11, Herv. i. O.). Die Repräsentation des einfachen Volkes – oder wie es, um dem komplexen Begriff und seiner Hypotheken gerecht zu werden, in der Übersetzung heißt „Völker wie Menschen aus dem einfachen Volk“ (les peuples) – ist also eine Täuschung. In dem Moment, in dem die einfachen Menschen ausgestellt werden (exposer), sind sie Teil einer Machinerie, die sie zum Verschwinden bringt. Dass sie Sichtbarkeit bekommen haben, hat nicht unbedingt dazu geführt, dass sie auch repräsentiert wurden. Die generelle Behauptung, dass das einfache Volk im Zeitalter der Medien ausgestellt würde, wird demnach von Didi-Huberman nicht nur in ihr Gegenteil verkehrt, sondern in das Paradox gewendet, dass die einfachen Menschen ausgestellt werden, um sie zum Verschwinden zu bringen. Ihre Stimmen haben kein Gewicht in der Ordnung der Diskurse. Die Ordnung der Sichtbarkeit ist Teil eines Entzugs der Sichtbarkeit. Bilder produzieren also immer auch Leerstellen und es sind gerade diese von den Bildern produzierten Leerstellen, denen Didi-Huberman in „L’Œil de l’histoire“ buchstäblich ins Auge sieht.

Didi-Huberman stellt damit eine paradoxe Figur an den Ausgang, die gleichzeitig die gegenwärtigen Diskussionen zur Popularisierung in Frage stellt[1] und die komplexe Problematik der Repräsentation aufwirft.[2] Der Ausgangspunkt ist also bereits ein Umdenken: ein Umstülpen der Erwartung, die Irritation vorgefasster Annahmen, die Neujustierung einer Fragestellung durch eine minimale aber wirkungsvolle Verschiebung. Denken an den Rändern hat Jacques Derrida die Aufgabe der Philosophie genannt und damit ein den philosophischen Begriffen Inbegriffenes aber für sie nicht Benennbares Draußen beschrieben. Der Kunsthistoriker Peter Geimer beschreibt in Derrida ist nicht zu Hause dieses Verfahren, sich mit dem Außerhalb des Diskurses zu konfrontieren wie folgt: „Oft ist es ein einziger Satz, ein Titel oder ein einzelnes Wort, von dem aus das ‚Ganze‘ eines Textes wie von dessen äußeren Rändern her aufgerollt wird.“[3]

Anhand eines solchen Satzes rollt Didi-Huberman die Geschichte der Darstellung des Menschen aus dem einfachen Volk von Primo Lévi über Philippe Bazin bis Pier Paolo Pasolini auf. Der poetische Titel der deutschen Übersetzung Die Namenlosen zwischen Licht und Schatten, der gewählt wurde, da sich der Originaltitel kaum wörtlich ins Deutsche übersetzen lässt, trifft vor allem für das umfangreiche Kapitel zu Pasolini mit dem Titel Poèmes du peuple zu, das gleichzeitig eine Reflexion über die Geschichte des Kinos von den Lumières bis Pasolini und den Kern des Bandes darstellt. Mit La sortie des usines Lumière von 1895 beginnt nicht nur das Kino, sondern auch die Geschichte der Repräsentation des Volkes, insofern der frühe Film die aus der Fabrik strömende Menschenmenge abfilmt. Das Kino ist dasjenige Medium, das der Menge des Volkes Sichtbarkeit verschafft. Kinogeschichte ist also auch die écriture eines „nouvel atlas du monde en mouvement“ (143) und – nach dem Roman des 19. Jahrhunderts – der Ort der Produktion und Reproduktion des homme dans le monde, des kleinen Volkes, der Statisten (figurants). Für die anhand ausgewählter Filmbeispiele der Filmgeschichte von Eisenstein bis Rosselini entwickelte These nimmt Didi-Huberman Bezug auf Erich Auerbachs Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur und verschränkt dessen Begriff von figura und die These vom Alltäglichen mit den Statisten des Films (figurants). Die Statisten im Film, ihre Gesichter, Gesten, Worte und Handlungen sind nach Didi-Huberman für das Kino das, was die Menschen in der Geschichte sind. Das Kino ist der exemplarische Ort, an dem das Paradox der Repräsentation ablesbar wird: Einerseits zeigt es das Volk, die Masse, die infamen Menschen, andererseits haben die Individuen in dieser Masse keine Namen und keine Stimme.

Demgegenüber scheint im Kino von Pier Paolo Pasolini eine Gegengeschichte auf. Der integrale Körper des Volkes wird darin in seiner fragmentarischen Vielfalt sichtbar gemacht, das Auge auf die bedürftigen Körper der Ausgeschlossenen gelenkt. Die Statisten sind nicht mehr nur die breite Masse, eine strömende Menschenmenge, sondern werden als Individuen durch ihre Einzelheiten sichtbar gemacht. Denn Pasolinis Kameraauge sieht genauer hin: Es zeigt die Anachronismen der menschlichen Gesten, das jeweils Spezifische des Begehrens, die Misere des Menschen. Pasolini verleiht dem Volk eine Stimme, wenn er die Welt begriffen durch das Auge abfilmt. Auf diese Weise stellt das Pasolini-Kapitel implizit einen Bezug zum Titel der Reihe Das Auge der Geschichte her. Das Auge der Geschichte ist ein bestimmtes Kinobild: ein humiles Bild, Bild der Demut und Hingabe. In diesen Bildern wird das Reale in seiner absoluten Trivialität zur Großaufnahme vergrößert und damit sichtbar, was Didi-Huberman mit Blick auf Auerbach neoréalisme humilis nennt und die minoritäre Sprache des Volkes zum Sprechen bringt.

Diese Lektüre der Vergrößerung des Marginalen trifft und betrifft uns gleichzeitig. Die Namenlosen zwischen Licht und Schatten denkt und schreibt unsere eigene fragile Geschichte. Von der Invention de l’hystérie von 1982 bis zu Aperçues 2018 legt Didi-Huberman nicht nur eine unübertreffliche Liste von Büchern in den Éditions de Minuit vor, sondern er hat damit auch Theorie gemacht.

  1. Vgl. Jacques Rancière, „L’introuvable populisme“, in Qu’est-ce qu’un peuple? (Paris: La fabrique, 2013), 137–43.
  2. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, „Can the Subaltern Speak?“, in: Colonial Discourse and Post-colonial Theory: A Reader, hrsg. von Laura Chrisman und Patrick Williams (New York und Sydney: Columbia University Press, 1993), S. 66–111.
  3. Peter Geimer, Derrida ist nicht zu Hause: Begegnungen mit Abwesenden (Hamburg: Philo Fine Arts, 2013), 41.

Ill.: carte postale ancienne éditée par JF N°128
SAINT-DENIS : Place du Théatre – Sortie des ouvriers Delaunay-Belleville
Vue d’une motrice du Tramway Enghien – Trinité

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