Enards Kompass als Anti-Houellebecq

Französisch, Notizen

Enard erhielt für den Roman Boussole 244880645z015 den Prix Goncourt (Le MondeTagesspiegel), nun erschien die deutsche Übersetzung Kompass bei Hanser. Im Interview mit Lena Bopp in der Frankfurter Allgemeinen nannte der Autor selbst sein Buch einen „Anti-Houellebecq“. Roman Leick im Spiegel bezeichnet so auch den Roman als „eine poetische Hymne an die Wunder und Herrlichkeiten des Morgenlands“, die sich dem gegenwärtigen „Panikgeschrei“ widersetzt:

So altmodisch-romantisch sollte man hier jene orientalische Welt bezeichnen, die viel mehr als ein geografischer und kultureller Raum, eine intellektuelle und emotionale Erfindung des Westens ist. Sie ist das Andere des Abendlands, ein mit Imaginationen und Projektionen prall gefüllter Koffer, den der Westen mit sich schleppt.

Das Deutschlandradio versteht die Orientreflexionen des Protagonisten als „denkbar weites geistesgeschichtliches Panorama“:

Goethe, der sich für seinen „West-Östlichen Divan“ von dem persischen Dichter Hafis hatte anregen lassen, taucht darin ebenso auf wie Mozart, der von der am Wiener Hof grassierenden „Ägyptomanie“ zu seinem berühmten „Türkischen Marsch“ inspiriert wurde, außerdem Victor Hugo, Arthur Rimbaud und viele andere.“

Vanessa de Senarclens betont in der NZZ die Kunstbezüge, so wenn der Musikwissenschaftler die Einflüsse des Orientalischen bedenkt:

Als Musikwissenschafter weiss er, welche Einflüsse der Orient auf die westliche Musik ausgeübt hat, besonders auf Liszt, Hindemith und Bartók, und kennt auch die vielen orientalischen Motive, die die europäische Musik aufgegriffen hat, von Mozarts «Rondo alla turca» bis zu Franz Schuberts und Felix Mendelssohns Vertonungen von Goethes und Rückerts orientalischen Gedichten.

Tillmann Krause in der Welt deutet den Roman als obsessives Traumbild eines „Orientverstehers“, als Liebesgeschichte und Wissenschaftssatire. Im Interview mit dem Standard verweist Enard selbst auf das Onirische der Orientreise:

Da geht es um eingebildete Krankheiten und Geisteskrankheiten. Die Verbindung mit dem Orient ergibt sich aus dem Verlust des Selbst, der diese Krankheiten kennzeichnet. Der Gefahr, sich zu verlieren, ist man auch auf einer Reise ausgesetzt. Der Traum spielt dabei auch eine Rolle. Denn im Traum verändert sich die Wirklichkeit. Und manche Krankheiten bewirken in der Wahrnehmung genau diese Verschiebung der Wirklichkeit, wie sie sich im Traum vollzieht.

Joseph Hanimann warnt in der Süddeutschen Zeitung allerdings vor falschen Erwartungen:

Es sei nicht verschwiegen: Dieses Buch verlangt Durchhaltevermögen. Debatten- und Thesenliteratur – könnte man einwenden und hätte nicht ganz unrecht damit. Wer die Story beim Romanlesen gern live knistern hört, dürfte ungeduldig werden. Wer in einem Buch aber andere Bücher und Ereignisse mitlesen möchte, wird hier glücklich. Die aktuelle Beklemmung wegen Gewalt und Terror lockert sich durch erweiterte Horizonte.

Leseprobe des Hanser-Verlags

 

Ill.: Léon Belly, Pèlerins allant à la Mecque (Musée d’Orsay, Paris)

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