Literarische Mittelalterbilder im Frankreich des 18. Jahrhunderts (A.I. Wörsdörfer)

Beiträge, Französisch

Ivana Lohrey, „Luces mundi – Tenebrae mundi: zur Untersuchung literarischer Mittelalterbilder im Frankreich des 18. Jahrhunderts von Anna Isabell Wörsdörfer“, erscheint in Romanische Studien.


Vorabdruck der Rezension

Luces mundi – Tenebrae mundi

Zur Untersuchung literarischer Mittelalterbilder im Frankreich des 18. Jahrhunderts von Anna Isabell Wörsdörfer

Ivana Lohrey (Augsburg und Metz/Nancy)

Anna Isabell Wörsdörfer, Von heroischen Bürgern, tapferen Rittern und liebenden Hirten: literarische Mittelalterbilder im Frankreich des 18. Jahrhunderts, Studia Romanica 205 (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2016), 342 S.

Das 18. Jahrhundert als Dreh- und Angelpunkt für die Geschichte und Literatur Frankreichs war und ist immer wieder Gegenstand umfassender Forschungsarbeiten und dies aus gutem Grund: wirft es doch als Sinnbild einer krisenbehafteten Epoche, die dennoch geleitet ist vom Aufklärungsstreben mehrere Generationen und der grundlegenden Idee der Perfektibilität des Menschen, immer wieder neue Fragen auf. In der Forschung wird bereits seit einigen Jahren versucht aufzuzeigen, dass die Aufklärungsbewegung von zahlreichen Strömungen gekennzeichnet ist, deren Vielfalt sich innerhalb mannigfaltiger Themenkomplexe und Genres nachzeichnen lässt. Die Untersuchung literarischer Mittelalterbilder bietet dabei einen wichtigen und aufschlussreichen Ansatz, welcher der literarischen Pluralität dieser Zeit Rechnung trägt. Die Monographie von Anna Isabell Wörsdörfer hat es sich zur Aufgabe gemacht, die häufig konzedierte Dichotomie eines ‚finsteren Mittelalters‘, transportiert durch die philosophes, und eines ‚goldenen Zeitalters‘, postuliert in der späteren Romantik, zu hinterfragen und gleichzeitig neu zu bewerten. Davon ausgehend werden drei ganz grundsätzliche Mittelalterbilder abgeleitet: Ein kriegerisches, ein höfisches als auch ein ländliches – auf die auch der Titel rekurriert: „Von heroischen Bürgern, tapferen Rittern und liebenden Hirten“.

Die vorliegende Arbeit geht von eben diesen Grundbeobachtungen aus, welche das Fundament ihrer Hauptthese bilden: „Im 18. Jahrhundert und vor allem in dessen zweiter Hälfte sind hinsichtlich der literarischen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Mittelalter in Frankreich koexistierende und (häufig) miteinander konkurrierende Erinnerungskulturen auszumachen“ (11, 12). Mit diesen einleitenden Worten wird zugleich die methodisch innovative Herangehensweise eröffnet: Basierend auf den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann und in Anlehnung an den interdisziplinären Forscherkreis am Gießener SFB 434 ‚Erinnerungskulturen‘, wird die literarische Mittelalterrezeption hier „als Akt des Erinnerns verstanden, bei dem Gedächtnisinhalte innerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft aktualisiert werden“ (19). Durch den Rückgriff auf diese methodischen Ansätze, bietet die Arbeit eine theoretische Fundierung, die als Gegenstand der ersten, umfassenden Kapitel dient. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Entwicklung eines Zeit- und Geschichtsbewusstseins im 18. Jahrhundert, welches letztendlich die Vorstellung vorherrschender, teilweise heute noch existierender Mittelalterbilder begründet. Der dritte und letzte Teil schließlich bietet repräsentative Modellanalysen: In einem soziokulturellen Querschnitt werden hier Werke sowohl aus den traditionell bezeichneten Reihen der philosophes betrachtet – u.a. Voltaires La pucelle d’Orléans (hier: 1773) – aber auch Vertreter einer bürgerlichen Schicht, wie Jean Castilhon oder Marie-Jeanne Riccoboni. Dies spiegelt sich auch in ihrer Wahl der Gattungen und literarischen Themenkomplexe wieder. So finden sich beispielsweise neben dem genre troubadour ebenso der roman gothique als der roman chevaleresque.

Als erster großer Analysepunkt dient der umfangreiche Roman von Stéphanie Félicité Du Crest de Saint-Aubin (Madame de Genlis) Les chevaliers du cygne ou La cour de Charlemagne (1795) – primär, da dieser ein „Konglomerat aus versatzstückartigen Mittelalterbildern“ (71) bietet und damit die angesprochenen Darstellungen – kriegerischer Habitus, ritterliche Heldentat und Liebesthematik – in einem einzigen Werk vereint. In der Folge werden die drei Themenkomplexe jedoch vornehmlich getrennt behandelt: Louis-Sébastien Merciers Childéric Premier, Roi de France (1774), Pierre-Laurent Buirette de Belloys Le siège de Calais (1765), Louis D’Ussieux’ Jean sans Peur (1774) und Voltaires La Pucelle d’Orléans (hier: 1773), um nur einige der hier behandelten Werke zu nennen, stehen für ein kriegerisches und düsteres Mittelalterbild und setzen thematisch bei der Matière de France, Karls des Großen und des Hundertjährigen Krieges an. Während hier sowohl außenpolitische als auch innenpolitische Konflikte behandelt werden, dient das Interesse an der Vergangenheit bei Mercier beispielsweise „über die implizite Parallelführung zum politischen Appell an die Gegenwart“ (115). In der Tat steht der Text oftmals im Zeichen aufklärerischer Kritik an Staat und Kirche, doch auch Fragen nach (Lokal-)Patriotismus und Royalismus werden aufgeworfen oder, wie im Falle der Pucelle, der Gegenstand des Mythos in der Parodie.

Bei der Darstellung des höfischen Mittelalters bedienen sich Autoren des 18. Jahrhunderts mehrfach dem Stoff der Matière de Bretagne, in welchem ein kuener recke im Zentrum heroischer Heldentaten steht. Auch in diesen ‚modernen‘ Variationen des Arthus-Stoffes findet sich der Grundkonflikt von Waffenschwur und Liebesdienst im Leben des Protagonisten wieder. François-Thomas-Marie Baculard d’Arnauds Fayel (1770) wird hier als Vertreter des Herzmäre-Stoffes vorgestellt, während sein Werk Sargines (1772) und Florians Bliombéris (1784) deutlichere Züge des ritterlichen Helden tragen, die sich im Kampf erproben müssen – so denn auch einer der Untertitel (Kapitel 5): „L’éducation sentimentale auf ‚mittelalterlich‘“ (220).

Andere Werke dienen exemplarisch als Beleg, dass im Siècle des Lumières Mittelalterbilder in glorifizierter Gestalt existieren, die unter anderem in regionalen und nationalen Erinnerungskulturen variieren und deren Entwicklungslinie nicht immer unilateral verläuft. Jean-Pierre Claris de Florians Pastoralroman Estelle (1787) bietet demnach nicht nur den Beweis für einen positiven Blick in die Vergangenheit, eines verherrlichten Mittelalters, er manifestiert darüber hinaus Aspekte einer südfranzösischen Erinnerungskultur. Die Aufwertung des Mittelalters, repräsentiert beispielsweise durch den Sängerstreit oder die Waldeinsamkeit in den hier untersuchten Werken, mündet in einem ländlichen Glückversprechen, Nützlichkeitsstreben und lokaler Selbstbehauptung. Befördert werden diese dabei maßgeblich durch „Erinnerungsaktualisierungen“ (296).

Es ist dem Rahmen einer Monographie geschuldet, dass einzelne Werke nicht ausführlicher behandelt werden konnten. Vertiefende Elemente wurden und werden jedoch in der Forschung diskutiert und regen damit weiterhin das wissenschaftliche Interesse literarischer Mittelalterbilder im Zeitalter der Aufklärung an. Bereits in früheren Publikationen hat sich Anna Isabell Wörsdörfer daher dem Themenkomplex Erinnerung und Mittelalter gewidmet[1].

In der Aufklärung werden Mittelalterbilder teils wiederentdeckt, transformiert und aktualisiert. Wer sich der Erforschung dieses Themenkomplexes widmet, stellt sich der Herausforderung umfassender Studien, nicht nur hinsichtlich der Literaturgeschichte: Soziopolitische Strukturen und historische Hintergründe, die sich über mehrere Jahrhunderte und Länder erstrecken, aktuelle methodische Untersuchungsmethoden als auch die Auswahl repräsentativer Texte gilt es zu meistern. Anna Isabell Wörsdörfer hat mit ihrer Arbeit gezeigt, dass dies eine lohnende Arbeit ist, die beweisen konnte, was sicherlich manchem Rezensionsleser augenblicklich bei den Worten Luces mundi – Tenebrae mundi in den Sinn kam: Helligkeit und Dunkelheit stellen eine unzertrennliche Einheit dar, deren Vielfältigkeit jedoch kaum Grenzen kennt.

Wie verhält es sich nun in der Folge mit der Entwicklung literarischer Mittelalterbilder? Zurecht stellt die Autorin in einem Ausblick die Frage nach den Konsequenzen der Französischen Revolution als epochalen Einschnitt zum hier erörterten Thema. Während sich die Vergegenwärtigung negativer Mittelalterbilder im Sturm auf die Bastille und des sich in der Folge gesteigerten ‚Volkszorns‘ (299) manifestiert, zeigen sich ebenfalls deutliche Veränderungen im literarischen Bereich. Die Konzipierung von Werken mit positiv ausgerichteten Mittelalterbildern erlebt in dieser Zeit eine tiefe Zäsur, erholt sich jedoch bereits zur Jahrhundertwende rasch. So eröffnet dieser Ausblick neue Perspektiven zu einem kulturhistorischen und literarischen Thema. Die vorliegende Arbeit regt darüber hinaus dazu an, die Lektüre weniger bekannter Autor/innen des 18. Jahrhunderts wiederzubeleben und damit einen neuen Bereich an Forschungsfeldern fruchtbar zu machen.

  1. U.a. Anna Isabell Wörsdörfer, „Fortschrittskult vs. Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘: Zeitbewusstsein und Geschichtsmodelle im 18. Jahrhundert bei Voltaire und de Fontanes“, Germanisch-Romanische Monatsschrift 64 (2014): 429–45; dies., „Vom ‚bon sauvage‘ zum französischen Ritter par excellence: die ‚Matière de Bretagne‘ als Streitobjekt konkurrierender Erinnerungskulturen in Jean-Pierre Claris de Florians Mittelalternovelle Bliombéris (1784)“, Promptus: Würzburger Beiträge zur Romanistik 1 (2015): 229–51

 

Ill.: Pucelle d’Orléans, Genf, 1762, 1. Auflage, autorisiert durch Voltaire.

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