Roberto Bolaño und der Kanon
Das erste Heft der Romanischen Studien bringt eine Sektion zum chilenischen Dichter vom Gastherausgeber Jordi Balada Campo: Dieser Themenschwerpunkt ist der meta-literarischen und intertextuellen Dimension der Erzähltexte Bolaños (*1953, †2003) gewidmet. Die Beiträger haben sich den Texten des chilenischen Autors genähert, indem sie die Funktion des literarischen Kanons, der narrativen Darstellung der intertextuellen Bezüge und der Rolle von Dichtern wie Parra, Paz, Neruda und Rimbaud diskutieren, auch der Relevanz von Autoren und bestimmten als zweitrangig eingestuften literarischen Strömungen.
Nicht nur in seinen Artikeln, Reden und Vorträgen hat Bolaño kritisch Stellung gegenüber bestimmten Autoren und literarischen Strömungen bezogen, auch seine Figuren und Handlungsstränge etablieren Beziehungen zwischen Werk, Tradition und literarischem Kanon. Im ersten Teil von Los detectives salvajes schreibt García Madero in sein Tagebuch:
Coincidimos plenamente en que hay que cambiar la poesía mexicana. Nuestra situación (según me pareció entender) es insostenible, ente el imperio de Octavio Paz y el imperio de Pablo Neruda. Es decir: entre la espada y la pared.
Roberto Bolaño, Los detectives salvajes (Barcelona: Anagrama, 2007), 30.
Die Literatur, die Dichtung – und damit auch die Aufgaben des Dichters – befinden sich in einem Widerstreit zwischen zwei Instanzen, die um Herrschaft über den literarischen Diskurs kämpfen. Die Literatur ist aus dieser Perspektive keine friedliche oder nichtssagende Tätigkeit, sondern beständiger Kampf um die Kontrolle des literarischen Diskurses. Dieser ist seinerseits affiziert – wie die folgenden Artikel zeigen – von philosophischen, politischen und kritisch-protestierenden Elementen. Man kann sagen, dass Dichtung und Literatur für Bolaño selbst politische Diskurse bilden – sie sind ‚Politik‘: die Bergung von Autoren aus der Vergessenheit bzw. aus Unbekanntheit; die heftige Kritik an kanonisierten Autoren wie Octavio Paz; die Analyse von Gedichten Mallarmés, Rimbauds und Baudelaires; der Einspruch gegen den literarischen status quo Chiles, Lateinamerikas und Spaniens, sie sind alle Aspekte einer dezidierten Stellungnahme Bolaños gegenüber dem literarischen Diskurs und seiner Funktion.
Auszüge aus dem Vorwort von Jordi Balada Campo
Abbildungen: Esténcil de Roberto Bolaño en Barcelona en 2012. (Barrio de Sant Antoni)
Biblioteca Virgilio Barco, Bogotá, Colombia.