Diversität und Konvergenz

Beiträge, Spanisch

„Diversität und Konvergenz an der Wurzel: Perspektiven der Romanistik in Zeiten der Globalisierung“, Festrede von Bernhard Teuber zum Tag der Romania Diversités toujours am 2. Juli 2015 im Rahmen der 350-Jahr-Feier der Christian Albrechts-Universität zu Kiel, im kommenden Heft der Romanischen Studien

Auszug aus dem Redemanuskript:

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Vor einigen Monaten berichteten verschiedene Medien über ein umstrittenes Vorhaben des nordrhein-westfälischen Schulministeriums: Den Studenten der Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch für das Lehramt an Sekundarschulen bzw. Gymnasien soll der Nachweis des Großen Latinums erlassen werden. Das erinnerte mich an eine seinerzeit ebenfalls kontroverse Reform, in deren Genuss kurz nach meinem Dienstantritt 1995 in Kiel die Studenten der Christian-Albrechts-Universität kamen: Damals wurde der bis dahin flächendeckend geforderte Nachweis von Lateinkenntnissen für die geisteswissenschaftlichen Fächer abgeschafft und nurmehr dort verlangt, wo er auf Grund der Besonderheit des Faches notwendig sei. Dies führte dazu, dass an der Philosophischen Fakultät Latein nurmehr für wenige Fächer obligatorisch war: für viele Altertumswissenschaften natürlich, darunter vor allem die Klassische Philologie, und – wie konnte es damals anders sein? – für die Romanistik, da wir uns als eine philologische Disziplin verstanden, deren Gegenstand – die romanischen Sprachen, Literaturen und Kulturen – eben aus der lateinischen und römischen Vorstufen hervorgegangen und ohne Rückgriff auf diese nicht zu verstehen sei. Der nordrhein-westfälische Reformplan hingegen nimmt auf die Spezifizität der einzelnen Fächer keine Rücksicht mehr, sondern er ist wirklich flächendeckend, soll auch die Romanistik betreffen.

Erwartbarerweise hat das Vorhaben des nordrhein-westfälischen Ministeriums, das bislang noch nicht verbindlich geworden ist, auch zu Widerspruch geführt, vor allem auf den Leserbriefseiten der Zeitungen. Wie in diesen Fällen üblich wurde auf den Bildungswert des Lateinischen, auf dessen Bedeutung für historische Disziplinen, auf die Herkunft der romanischen Sprachen, auf die Etymologie so vieler deutscher und englischer Wörter sowie auf den Vorbildcharakter der Antike für die neueren Literaturen hingewiesen. Aber es gab natürlich ebenso Gegenstimmen, welche das Reformvorhaben begrüßten, unter ihnen der Leserbrief eines Gießener Emeritus der romanischen Literaturwissenschaft, der zwar nicht prinzipiell gegen das Lateinische war, aber seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass es heute bedeutend Wichtigeres gebe.

Die sinnlose Energie, die Generationen von Studierenden des Fachs Französisch in diese Paradedisziplin der Altphilologen [scil. ins Lateinische] investiert haben, wäre besser angelegt etwa in der Erarbeitung von Grundkenntnissen der französischen Kolonialgeschichte oder auch des Islam oder Ähnlichem – jedenfalls dann, wenn zukünftige Französischlehrer ihren Schülern Informationen über die Strukturen und Konflikte der heutigen multikulturellen Gesellschaft Frankreichs vermitteln wollen. Die sind allemal wichtiger als beispielsweise die Kenntnis der Lautverschiebungen vom Lateinischen zum Altfranzösischen, mit der ich stattdessen in meinem Studium traktiert worden bin.1

Lieber also eine Einführung in die Islamwissenschaft (fragt sich ob mit oder ohne Grundkenntnisse des Arabischen) statt eines weithin nutzlosen Latinums! Eine vielleicht radikale, aber keineswegs absurde Meinung in Zeiten der Globalisierung, wo die Sprachen und Kulturen der Welt in ihrer unleugbaren Diversität miteinander in Kontakt treten und der von Alexander Kluge schon vor Jahren gefürchtete „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ oder gar eine „breite Gegenwart“ (so der feuilletonistische Terminus des Vordenkers Hans Ulrich Gumbrecht) den Rückblick auf vergangene Epochen weniger relevant erscheinen lässt.

* * *

Etwa drei Wochen nach dem genannten Leserbrief erschien Michel Houellebecqs jüngster und viel beachteter Roman Soumission, und am selben Tag, dem 7. Januar 2015, fand auch das schreckliche Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo statt, nur zwei Tage später dann die blutige Geiselname in einem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Hätte es also noch eines Beweises bedurft, an den Vorgängen in Paris war zu erkennen, wie sehr unsere modernen Gesellschaften und Lebenswelten in eine globalisierte Welt verstrickt sind, für welche der Terminus „multikulturell“ vielleicht ein Euphemismus ist, so dass wir zutreffender mit Samuel Huntington von einem ‚Zusammenprall der Kulturen‘ oder einem clash of diversities – noch eleganter gesagt: von einem choc des diversités – sprechen müssten. Für ein angemessenes Verständnis solcher Vorgänge ist der Rückgriff auf die Antike kaum hinreichend, Vertrautheit mit entfernteren Kulturen und Traditionen wäre unbedingt wünschenswert.

Insofern darf man also fragen, ob die Disziplin der Romanistik den heutigen Zeitumständen nicht hoffnungslos hinterher hinkt. Geht sie nicht von einer anachronistischen Einheitlichkeit, von einer Identität ihres Gegenstandsbereichs aus, für den die Abkunft vom Lateinischen geradezu exemplarisch ist? Das vielgescholtene Latinum wäre somit das Komplement oder Korollar, vielleicht sogar das Symptom einer leicht verstaubten Disziplin, die sich als Wissenschaft einer durch die geschichtlichen Epochen durchgehaltenen Identität der Romania versteht, gar als das Phantasma eines identitären Diskurses über Romanitas, dessen Trägerschichten möglicherweise dem in Frankreich sogenannten bloc identitaire angehören würden, wie er mittlerweile in vielen europäischen Gesellschaften anzutreffen ist. Dem gegenüber sollte es dann wohl eher gelten, die Romanistik als eine zeitgemäße, moderne Disziplin zu etablieren, die sich als eine Wissenschaft von den unhintergehbaren Diversitäten der Romania versteht und damit auch erklären kann, was Vielsprachigkeit, Multikulturalität und Interkulturalität sind und wie sie funktionieren.

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Fortsetzung im kommenden Heft der Romanischen Studien


  1. Hartmut Stenzel, „Eine Energieverschwendung“, Süddeutsche Zeitung, 15. Dezember 2014.

Ill.: Die kapitolinische Wölfin mit den Knaben Romulus und Remus, Museo Nuovó im Palazzo dei Conservatori, Rom

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