Das real Unheimliche bei Martín Bentancor

Beiträge, Spanisch

Matei Chihaia, „Entlegene Nähe: das real Unheimliche bei Martín Bentancor“, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien

Vorabdruck des Artikels


Entlegene Nähe: das real Unheimliche bei Martín Bentancor

Matei Chihaia, Bergische Universität Wuppertal

Martín Bentancor, La lluvia sobre el muladar (estuario editora, 2017).

Martín Bentancors Erzählung El Inglés (estuario editora, 2015) greift große Themen der rioplatensischen Literatur auf: die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkunft, den Konflikt von Zivilisation und Barbarei, den verzweifelten Widerstand gegen eine unerschlossene, feindselige Natur. Der Engländer, auf den der Titel verweist, ist Ingenieur, seine Geliebte eine Künstlerin, sein Chauffeur, ein praktisch stummer Chinese, beherrscht eine besonders effiziente Kampfsportart. Diese Figuren werden in eine Umgebung versetzt, die von einigen wenigen Großgrundbesitzern und ihren Handlangern beherrscht wird. Korruption und Gewalt prägt die entlegene Provinz des Bando Oriental. Der Titel erinnert an Benito Lynchs El inglés de los güesos (1922), die Geschichte eines englischen Paläontologen, der in eine ähnliche Konfrontation mit ländlichen Sitten gebracht wird. Das Besondere an Bentancors Novelle ist jedoch ihre Form des Erzählens, die Faszination der mündlichen Überlieferungen und die daraus entsprießenden, unheimlichen Blüten. Diese Geschichte von Zivilisation und Barbarei, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, wird eingebettet in eine Rahmengeschichte, die in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts spielt und verschiedene Dorfbewohner porträtiert: allen voran den alten Erzähler, sodann sein Publikum, den neurotischen Dorflehrer mit seinem Handy, den verstorbenen Bauern auf seiner Bahre, dessen verschlafene Tochter, den fetten Schwiegersohn … Es handelt sich um einen breit ausgearbeiteten Rahmen, der sich immer wieder zwischen die anekdotische Erzählung über den langsamen Untergang des Engländers drängt. Und ähnlich wie in John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman (1969) ergeben sich Parallelen zwischen den Figuren auf beiden Ebenen des Erzählens, ihren unglücklichen Leidenschaften und ihren vielfältigen Formen von Einsamkeit.

Der narrative Rahmen ist in einem Raum der Nähe, ja, der unheimlichen Beengung angesiedelt. Erzählt wird während einer Totenwache in einem zu kleinen Zimmer. Die spannende Geschichte, mit der die Familie und Bekannten des Verstorbenen mehr oder weniger wach gehalten werden, spielt in dem entlegenen Landstrich, den sie alle bewohnen, in einem peripheren Uruguay. Diese doppelte Verortung ist charakteristisch für die Fiktionen Bentancors, die seit 2009 in unregelmäßiger Folge erscheinen und schon mit mehreren nationalen Preisen ausgezeichnet wurden. Auch der neue Band La lluvia sobre el muladar (estuario editora, 2017[1]) folgt der gleichen, ergiebigen Ader. Die unterschiedlichen Erzählungen reichen von der Geschichte der Kolonisation bis in die Gegenwart – und nicht selten rekonstruieren sie die Vergangenheit aus der Perspektive von Figuren der Jetztzeit. Einer der längeren Texte, „La muerte de Solís“, handelt nicht unmittelbar von der Geschichte des spanischen Eroberers, sondern von Dreharbeiten für einen Film, die diese inszenieren sollen: die groteske Begegnung von Städtern und Gauchos, Stars und Randfiguren endet mit einem Unfall. Ein überdimensionales Kreuz, das eine Vision des Konquistadors materialisieren soll, fällt um und erschlägt beinahe den Hauptdarsteller … ein Zeichen?

Das Unheimliche bildet den Schlüssel zu diesen Erzählungen – nicht unbedingt das von Freud oder von Todorov,[2] sondern ein alltägliches, real Unheimliches, das man dem sogenannten „real maravilloso“ als ein „real ominoso“ an die Seite stellen könnte.[3] „Montevideo“ berichtet aus der Perspektive eines einfachen Soldaten die Überführung eines Schwerverbrechers aus der Provinz in die Hauptstadt: wie in einer mittelalterlichen Romanze kippt die Geschichte durch eine Unachtsamkeit des Rekruten aus der vorgesehenen Bahn, der Kriminelle ermordet den Offizier und entkommt in den Wald. Alle Gewissheiten des Soldaten weichen einem Zweifel: Hat sein letzter Gewehrschuss den Flüchtenden getroffen? Die Erzählung endet mit einem Bild häuslicher Ruhe, die Erinnerung an seine Frau, die Brot backt; aber das Vertraute und Ersehnte ist dem einfachen Mann unheimlich geworden. Auch „Procesión“ schildert eine Überführung, diesmal eines Toten, die mit einem Unglück endet: im dichten Regen hält einer der Reiter, die den Sarg begleiten, einen alten Kaufmann, der seinem entlaufenen Pferd hinterherläuft, für ein Gespenst und reitet ihn nieder. Der tödliche Unfall ereignet sich an einer Brücke, an der es der Legende nach spukt. Steht die plötzliche Erscheinung, der tragische Fehlgriff, mit diesem Übernatürlichen in Zusammenhang? Noch deutlicher ist dieses Unheimliche in „Dominación“. Hier führt eine Streitigkeit über Grundbesitz zu einer Verwünschung, die erstaunlich wirksam ist. Ein böser Geist verfolgt die neu eingezogene Familie, bis ein Schamane ihn mühsam und unter Einsatz des eigenen Lebens austreibt. An der Realität dieser Zauber zweifelt niemand der Beteiligten, zumal einige Familienmitglieder selbst besessen sind. Die Geschichte verbreitet sich wie ein Lauffeuer; übrig bleibt von dem Haus jedoch nur eine Ruine:

El rancho, ya sin techo y con las paredes de adobe resquebrajadas, aún permanece de pie. Sigue allí, solitario y resentido con el paso del tiempo, ese animal traicionero que se alimenta de misterios y que va dejando a su paso un sendero de silencio. (89)

Die Erzählungen verschränken Figuren der großen Geschichte Uruguays, Juan Díaz de Solís, Juan Lavalle, José Gervasio Artigas, Eduardo Galeano, mit mysteriösen Gestalten einer mündlichen, fragmentarischen Überlieferung, die zwischen Typ und Individuum stehen. Volkstümliche Gestalten, die nicht im Vordergrund der „Historia Nacional“ (70) erscheinen, und doch mit ihrer unheimlichen Anwesenheit und ihrem stillen Tun den Ausgang der Handlung bestimmen. Da ist immer wieder der „gaucho“, der geschickte Reiter und Hirte, und der „curandero“, der indigene, zauberkundige Heiler, da sind die Zugereisten, die in der Provinz nicht heimisch werden können, und die man entweder für Hexen hält oder für Besatzer, die mit Gewalt und Zauber ausgetrieben werden, die einfachen Rekruten und die großen Verbrecher. Alle haben einen Namen, aber meistens ist die wahre Identität durch Spitznamen und unklare, widersprüchliche Überlieferungen verdeckt, ihre Biographie ungewiss und innerhalb der einen oder anderen Erzählung auch Gegenstand von Streitgesprächen. Fast alle Geschichten enden offen. Der Leser bleibt immer im Ungewissen über das weitere Schicksal der Hauptfiguren. Wie für die Tradition der Romanze und anderer mündlicher Gattungen üblich, durchkreuzt eine kontingente Realität die vorgegebenen Drehbücher des Wahrscheinlichen und der kausalen Verkettung. Hier kann ein einzelner Reiter mit seiner Lanze ein Flugzeug vom Himmel holen, ein verwester Fetzen Kuhfleisch einen entzündeten Abszess heilen, ein Mann sich auf vier verschiedene Weisen nacheinander umbringen. Das ist das Gesetz des real Unheimlichen: Was nur im Geringsten möglich ist, geschieht auch. Alles dies erinnert an die große Novelle El Inglés und bestätigt, dass Bentancor als Autor seinen eigenen, unnachahmlichen Weg gefunden hat. Sein Werk verdient es, an die Seite derer gestellt zu werden, die eine lateinamerikanische Fantastik der europäischen Tradition entgegenstellen – an die Seite von Jorge Luis Borges, Juan Rulfo, Gabriel García Márquez und Alejo Carpentier.

Drei Eigenheiten unterscheiden diese Form des Unheimlichen von den Konzepten von Freud und Todorov. Als erstes das dichte Lokalkolorit, natürlich: Alle Erzählungen sind in Uruguay angesiedelt, mit einer besonderen Vorliebe für die Tercera Sección, die Region um Canelones, wo Martín Bentancor lebt und – als Redakteur einer lokalen Zeitung – arbeitet.[4] Diesen räumlichen Aspekt betont der Autor selbst in seinem kurzen Vorwort: Einige seiner Erzählungen

fueron escritos mientras me adentraba en los terrenos ominosos de la Tercera Sección, cuyo rastro ha ido dejando atrás algunas novelas. (5)

Neben dem ausdrücklichen Bezug auf die unheimliche Realität („ominoso“) dieser Provinz unterstreicht Betancor die Nähe zu der Gründungsepik Südamerikas – durch das Zitat des Martín Fierro ebenso wie durch das Schlüsselwort „fundacional“ (5). Nicht nur das Vorwort belegt die Verankerung dieses Unheimlichen in der rioplatensischen Tradition. Nicht zufällig besitzt die Hauptfigur von „La muerte de Solís“ eine kostbare Ausgabe von Acevedo Díaz’ Ismael (91). Ähnlich wie Borges in seinen Alternativ-Erzählungen zum Epos des 19. Jahrhunderts („El fin“, „Biografía de Tadeo Isidoro Cruz (1829–1874)“[5]), nimmt der Autor von La lluvia sobre el muladar systematisch den Standpunkt der peripheren Figuren ein. Anders als bei Borges, den eine zentripetale Bewegung doch immer wieder in die Hauptstädte und nach Europa führt, leben diese Figuren nun aber auch in einer Randzone, im Zwischenraum der Reise, in entlegenen Landstrichen, in einem No Man’s Land ohne Krieg. Diese Peripherie widersteht allem romantischen Exotismus. Sie widersteht auch der ästhetischen oder kulturtheoretischen Positivierung; die „modernidad periférica“[6] gedeiht eben nur im fruchtbaren Austausch mit der Großstadt. Die ländliche Peripherie hingegen, wo „der Regen auf Misthaufen“ fällt (so die Übersetzung von „La lluvia sobre el muladar“), ist alles andere als ein Labor der Erneuerung oder eine ökologische Nische von Diversität. Es ist eine Landschaft von Ruinen und unabgeschlossenen Bauten, emblematisch steht dafür der sumpfige Rand eines Flusses, an dem ein psychotischer Pfarrer entgeistert in die Luft starrt …

Eine zweite Besonderheit fordert ebenfalls den Vergleich mit Borges heraus: Noch schärfer als der argentinische Autor sieht Bentancor die Situation des Schriftstellers, der vor dem Hintergrund einer Literaturgeschichte und einer Geschichte der Literaturdeutung schreibt. Die Erzählungen sind also nicht nur metaliterarisch und selbstreferentiell verfasst, sondern inszenieren mit schwarzem Humor die Theorie und die Theoretiker, die Werke, die Autoren und ihre Leser. Eduardo Galeano – oder jemand, der sich für ihn ausgibt – ist der Protagonist der Erzählung „Hola, soy Eduardo Galeano“. In einer anderen Erzählung, „Instalaciones“, erscheint der italienische Philosoph Gianni Vattimo, der in einer gewissen Zeit eine Autorität der Postmoderne war. Beide werden dem schon genannten Raum der Peripherie ausgesetzt, der eine begegnet dort einem merkwürdigen Trupp hungerkranker Guerilleros, der andere einer grotesken schwarzen Christusfigur, die wie eine Vogelscheuche vor ihm aufspringt. Wie der Theoretiker, der die Deutungshoheit über die Realität verloren hat, ist auch der Literat zu Wirklichkeitsentwürfen – wie sie die realistische Fiktion des 19. Jahrhunderts und die experimentellen Romane des 20. Jahrhunderts vorlegten – nicht mehr fähig; er wird vielmehr selbst von der Kontingenz des Geschehens eingeholt.

Der Verfasser entwirft also ein trauriges Selbstporträt als Randfigur und knapp Überlebender: In „Pequeño bardo“ erwartet eine Gruppe von ehemaligen Schulfreunden den einen von ihnen, der es in der Hauptstadt zu literarischem Ruhm gebracht hat, an einem verfallenen Provinz-Bahnhof für eine Art Klassentreffen. Der relativ bekannte Schriftsteller kommt auch endlich an. Leider ist er während der Fahrt verstorben. Und „Damián C., el poeta visual“ (151), Held der Erzählung „Instalaciones“, erhängt sich im Rahmen einer Performance und stirbt einen öffentlichen, ästhetisierten Tod – nur, um einige Zeit später als Barmann wieder aufzutauchen und sich an keine seiner literarischen Aktivitäten erinnern zu wollen. Melancholische Doppelgänger des Autors sind die Ich-Erzähler, die luzide ihre Grenzen einsehen und irgendwie vom Leben – einschließlich vom literarischen Leben – abgehängt sind. So wie der Redakteur einer Provinzzeitung, der das Interesse am Schreiben mit dem Gebrauch seines Arms verliert, der auf einmal gelähmt ist:

Como si la muerte lo hubiera sorprendido antes que al resto del cuerpo, perdió toda movilidad, y , a partir de aquel día, me convertí en el tullido del barrio; […] Después de aquel día no volvía a escribir. (30)

Ebenso der anonyme Drehbuchschreiber, der einem Starregisseur und Autorenfilmer zuarbeitet – auf einer alten „Olivetti“-Schreibmaschine, die seine Produktionsfähigkeit stark einschränkt (91). Zwischen dem doppelten Druck der Theorie und des Todes bleibt kein Ort für künstlerische Freiheit, für eine naive Feier der Kreativität oder der Kommunion mit dem Leser. Die alten Ideale einer solidarischen Gemeinschaft von Produzenten und Konsumenten, sei es Julio Cortázars Einladung an den „lector cómplice“, sei es Mario Benedettis Forderung eines engagierten Klassenbewusstseins[7], scheinen in ungreifbare Ferne gerückt.

Der Geschichte „Hola, soy Eduardo Galeano“ ist der Titel des Buchs entnommen, Grund genug, hier genauer hinzusehen. Der Erzähler, der sich als Eduardo Galeano vorstellt und eine versprengte Gruppe von Guerilleros im Urwald besucht, leidet unter einer eigentümlichen Art von Erschöpfung. Leider berichtet kurz nach seiner Ankunft im Camp der Revolutionäre das batteriebetriebene Radio – zwischen Liedern von Mercedes Sosa und einer Rede von Fidel Castro – dass der alte Verfasser von Las venas abiertas de América Latina (1971) sich gerade auf einer Buchmesse in Mexiko befindet. Der Protagonist kann die brenzlige Situation, in der er für einen Hochstapler gehalten und vom betrunkenen Kommandanten mit vorgehaltener Pistole bedroht wird, nur mit einem besonderen Geständnis entschärfen: „El Galeano que está en México es un actor contratado por mi agente. Nadie debe saber que yo vine a visitarlos.“ (58) Das bewirkt beim Guerillero zumindest ein großes Gelächter. Dass der Autor auf diese Weise gespalten sein soll – zwischen einer legitimen Tätigkeit als Buchmessen-Ehrengast und einer subversiven, geheimen Aktivität – entspricht nicht nur der entfremdeten Realität, die ein revolutionärer Schriftsteller beim Eingang in den globalen Buchmarkt erlebt, sondern einem real Unheimlichen, das den Leser an der Zuverlässigkeit dieses offenbar nervös ausgebrannten Erzählers zweifeln lässt. Wahrscheinlich ist er doch nicht der echte Galeano – aber wer will das schon wissen? Der kurze Text steht in der Tradition von „Borges y yo“ und der narrativen Ausgestaltungen des Schauspieler-Paradoxes durch Julio Cortázar („Instrucciones para John Howell“, „La noche de Mantequilla“); neu ist der bittere Sarkasmus, mit welcher Bentancor der gespaltenen Autorschaft und dem gefährlichen Rollenspiel begegnet. Nicht die Regeln der Fiktion oder der Kalte Krieg erzeugen hier diese Spaltung, sondern das abrupte Gefälle zwischen der Absicht des Autors und seinen angetrunkenen Rezipienten. Ihr Elend wird durch Bücher nicht verbessert, und sie können nicht einmal den Wortlaut der Titel richtig behalten …

Noch eine dritte und letzte Eigenheit unterschiedet dieses Unheimliche von dem Freud’schen Modell, das Todorov in seine Theorie der Fantastik eingebaut hat. Für den französischen Literaturwissenschaftler hat die Funktion des Erzählers – insbesondere des seltsamen Erzählers – bereits eine konstitutive Bedeutung für das erzählte Unheimliche: Die Halluzination, der Traum, die Täuschung bieten jeweils eine natürliche Erklärung für die vermeintlich übernatürlichen Geschehnisse.[8] Diese erzählerische Rahmung nun wird bei Bentancor besonders ausführlich gestaltet – jedoch mit einer Vorliebe für alltägliche, unspektakuläre Situationen des Erzählens. Die Texte haben eben nicht besonders ausgefallene, kunstvoll arrangierte oder gar unnatürlich-seltsame Erzählfunktionen[9] – im Gegenteil: Der Autor erinnert an die ganz elementaren Formen mündlicher Überlieferung, die, wie es Walter Benjamin beschreibt, hinter den künstlerischen Formen des Erzählens stehen. [10] In diesen Zusammenhängen scheint nicht der zuverlässige Erzähler der Regelfall, sondern die narrative Unzuverlässigkeit: Legenden des Alltags, unvollständige oder widersprüchliche Überlieferungen, apokryphe Anekdoten über die Figuren der nationalen oder lokalen Geschichte gehen in der entlegenen Provinz von Mund zu Mund.

Dieser dritte Aspekt ist also mit den beiden anderen verbunden. Die Peripherie hat eben nur eine lückenhafte Geschichte, wie an einer Stelle von „El despenador“ ausführlich erläutert wird; zugleich findet man in der Erläuterung auch jene Form von ironischer Metafiktion, die eine Vertrautheit mit der Theorie kinematographischen Erzählens verrät:

Como la propia historia del Virreinato de Río de la Plata, dijo, de la Banda Oriental y de Buenos Aires en las primeras décadas del siglo diecineúeve esta cubierta por intensos mantos de niebla, nubarrones opacos que encubren torrentes de violencia, confusos flujos patrióticos, tiranías y rencillas, matanzas y proclamas, próceres y villanos, no es de extrañar que aquel pequeño mulato que mira el cadáver de su padre, ojeroso y desnutrido, sucio y con una legión de piojos caminándole por las motas, se nos pierda de vista. Debemos usar acá ese recurso cinematográfico que, a la hora de contar toda una vida, y para evitar largos y poco interesantes años en la biografía del protagonista, funde su rostro joven con su rostro adulto interpetado por otro actor. (117–8)

Auch hier ergreift der Erzähler die Partei einer alternativen Überlieferung, die sich eben nicht in den offiziellen Geschichtsbüchern findet, sondern von einzelnen Zeitzeugen oder neugierigen Dilettanten vorgetragen wird: gegen die „historia con mayúsculas“, die ein lineares und monumentales Bild der Vergangenheit zeichnet (126). Die lokalen Traditionen hingegen lassen sich an bestimmten idiomatischen Ausdrücken oder Ortsnamen festmachen, denen besonders in den letzten beiden Texten auf den Grund gegangen wird. Man erfährt dort den Ursprung der Redensart „peristente como Barragán“ (176) („Persistencia“), und weshalb ein Flecken den sprechenden Namen „Las Brujas“ trägt („Las brujas de Las Brujas“). Eine der Figuren wünscht diesen unglaublichen Geschichten die Aufnahme in die internationale Presse, von der sie durch die Abgelegenheit der Tercera Sección abgeschnitten sind:

Si no estuvieramos tan apartados del centro del universo, en esta periferia desolada que nos legaron los inmigrantes, los cartógrafos y los funcionarios de turno, el caso de Barragán debería estar en todas las secciones de sucesos extraordinarios de los grandes diarios internacionales, dijo el doctor Echezzare liquidando el coñac. (183)

Dies entspricht selbstverständlich nicht ganz dem Wunsch des Autors. Dessen neue Sammlung drückt, wie schon El Inglés, die Faszination an der mündlichen Erzählung aus: Kein Zeitungsartikel kann so spannend, brüchig und unabgeschlossen, ja, so unheimlich sein wie dieses Erzählen aus nächster Nähe …

 

  1. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
  2. Sigmund Freud: „Das Unheimliche“, in ders., Studienausgabe IV: Psychologische Schriften, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1970), 241–74. Tzvetan Todorov, Introduction à la littérature fantastique (Paris: Seuil, 1970).
  3. Liliana Weinberg verwendet diese Formel bereits, um die Fiktionen von Ezequiel Martínez Estrada zu charakterisieren – und ein Vergleich von Bentancor mit Martínez Estrada könnte tatsächlich erhellend sein. Liliana Weinberg, „Ezequiel Martínez Estrada: lo real ominoso y los límites del mal“, in El oficio se afirma, hrsg. von Sylvia Saítta (Buenos Aires: Emecé, 2004), 403–35.
  4. https://es.wikipedia.org/wiki/Martín_Bentancor, aufger. am 5.11.2017.
  5. Vgl. Pedro Luis Barcia, „Proyección de ‚Martín Fierro‘ en dos ficciones de Borges“, in José Hernández. Estudios reunidos en conmemoración del Centenario de „El gaucho Martín Fierro“ (La Plata, 1973), 209–32.
  6. Beatriz Sarlo, Una modernidad periférica (1920–1930) (Buenos Aires: Nueva Visión, 1988).
  7. Benedetti entfaltet seine Kritik an der Leserrolle, die Julio Cortázar im Roman Rayuela (1963) entwirft, in seinem Essay „El escritor latinoamericano y la revolución posible“ (1973) (Buenos Aires: Nueva imagen, 1987), 85–111.
  8. Todorov, Introduction à la littérature fantastique, 46–52.
  9. Jene Situationen, die in der Erzählforschung als „unnatural narrative“ bezeichnet werden, s. Jan Alber, „Unnatural Narrative“, in The living handbook of narratology, hrsg. von Peter Hühn et al. (Hamburg: Hamburg University, 2017), http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/unnatural-narrative, aufger. am 5.11.2017.
  10. Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“ (1936), in Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, hrsg. von Rolf Tiedemann u.a. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977), 438–65.

Ill.: La lluvia sobre el muladar, http://estuarioeditora.com/libros/la-lluvia-sobre-el-muladar/

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