Simone Veil, 1927–2017

Französisch, Notizen

Simone Veil

Shoah-Überlebende, KĂ€mpferin fĂŒr die Rechte der Frauen, EuropĂ€erin

Nachruf von Joseph Jurt, zur Publikation in Romanische Studien (2017)

Nach dem Tod von Simone Veil am 30. Juni gedachten in Frankreich Politiker aller Couleur ihrer als einer der grĂ¶ĂŸten Figuren des Landes: „Puisse son exemple inspirer nos compatriotes, qui y trouveront le meilleur de la France“ (Emmanuel Macron), „La France perd une personnalitĂ© comme l’histoire en offre peu“ (Edouard Philippe), „Simone Veil a incarnĂ© la dignitĂ©, le courage et la droiture“ (François Hollande), „Mme Veil appartient au meilleur de notre histoire. Et son nom vivra dans notre gratitude pour toujours“ (Jean-Luc MĂ©lenchon). Namhafte Persönlichkeiten schlugen dem StaatsprĂ€sidenten ihre ÜberfĂŒhrung ins Pantheon vor. Die Ehre dieser nationalen GedenkstĂ€tte kam bisher 72 verdienstvollen MĂ€nnern zu, aber nur vier Frauen: Sophie Berthelot als Gattin des berĂŒhmten Chemikers Marcellin Berthelot, und erst 1995 Marie Curie und dann 2015 die beiden WiderstandskĂ€mpferinnen Germaine Tillion und GeneviĂšve de Gaulle-Anthonioz.

Simone Veil ist zweifellos eine der populĂ€rsten, aber auch der charismatischsten Persönlichkeiten der politischen Szene Frankreichs. Sie verdankte diese Resonanz, die weit ĂŒber ihr Land hinausgeht, ihrer unbeirrbaren Treue zu bestimmten Prinzipien, aber auch ihrem unabhĂ€ngigen Urteil, das sie keiner Partei-RĂ€son unterstellt. Nachdem sie achtzig geworden war und kein öffentliches Amt mehr bekleidete, blickt sie zurĂŒck auf ihr Leben und legte 2007 unter dem schlichten Titel Une vie ihren RĂŒckblick vor, der in Frankreich als ein Ereignis wahrgenommen wurde[1]. Wenn Simone Veil als Rednerin in der Öffentlichkeit prĂ€sent war, so hatte sie vorher ihren Lebensweg kaum beschrieben. Sie tat dies hier in einer sehr persönlichen, unkomplizierten, erfahrungsgetrĂ€nkten Art und Weise, die ihr einen breiten Leserkreis gesichert hat.

Simone Veil beginnt ihren RĂŒckblick mit der Schilderung einer glĂŒcklichen Kindheit als jĂŒngstes Kind einer bĂŒrgerlichen jĂŒdischen Familie, die ihre Zugehörigkeit zur jĂŒdischen Gemeinschaft nur kulturell, nicht aber religiös definierte. Der Vater hatte sich als Architekt in Nizza niedergelassen, war relativ streng und erlaubte seiner Frau nicht, weiter berufstĂ€tig zu sein. Von der Mutter zeichnet sie in ihrem RĂŒckblick ein sehr empfindsames PortrĂ€t, das von einer großen Verbundenheit mir ihr zeugt. Die Mutter kĂŒmmerte sich um deutsche FlĂŒchtlinge, wĂ€hrend der Vater, der im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener in Deutschland war, deutschlandfeindlich eingestellt war. Über die Repressionen im nationalsozialistischen Deutschland erfuhr die Familie schon bald ĂŒber den befreundeten jungen Raymond Aron. Mit den Rassengesetzen von Vichy – „ein Skandal im Land der Menschenrechte“ – konnte der Vater seinen Beruf nicht mehr ausĂŒben. Die italienische Verwaltung in Nizza war aber den Juden gegenĂŒber viel toleranter als Vichy-Frankreich. So fanden in Nizza ĂŒber 30.000 FlĂŒchtlinge Unterschlupf. Ab dem Sommer 1943 ĂŒbernahm die Gestapo die Macht in Nizza und organisierte nun eine systematische Jagd auf die Juden. Die einzelnen Mitglieder der Familie Jacob – so der Name der Familie von Simone Veil – konnten gefĂ€lschte IdentitĂ€tskarten erwerben und bei befreundeten Familien untertauchen. Trotzdem wurden alle Familienmitglieder, außer der Ă€ltesten Schwester, die sich dem Widerstand angeschlossen hatte, 1944 von der Gestapo aufgegriffen und in das Sammellager von Drancy ĂŒberfĂŒhrt. Der Vater und der Bruder wurden nach Litauen deportiert, wo sich ihre Spuren fĂŒr immer verloren.

Am 15. April 1944 kam die sechzehnjĂ€hrige Simone zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester im KZ Auschwitz an – „ein Datum, das ich nie vergessen werde zusammen mit dem Datum des 18. Januar 1945, dem Tag, an dem wir Auschwitz verließen.“ Man werde die Verantwortung der Vichy-Behörden, die bei der ‚Endlösung‘ Hand boten, nicht vergessen können. Simone Veil schließt aber in dieses Urteil nicht die gesamte Bevölkerung ein. Drei Viertel der französischen Juden konnten in Frankreich der Deportation entgehen, mehr als in jedem anderen besetzten Land. Darum widersetzte sie sich spĂ€ter als Ministerin der Ausstrahlung des Films Le chagrin et la pitiĂ©, weil er ein zu negatives Bild der Franzosen wĂ€hrend der Besatzungszeit entwerfe.

In Auschwitz erlebte sie gleich zu Beginn die unendliche DemĂŒtigung durch die TĂ€towierung, die jede IdentitĂ€t auslöschen sollte. Sie ĂŒberlebte nur, weil sie sich Ă€lter ausgab, als sie war, aber auch wegen einer Aufseherin, einer ehemaligen polnischen Prostituierten, die ihr, ihrer Mutter und ihrer Schwester eine weniger erschöpfende Arbeit in einem Nebenlager zuwies; als sie nach dem Todesmarsch nach Dachau und dann nach Bergen-Belsen kam, wies dieselbe Aufseherin sie dem KĂŒchendienst zu, was sie vor dem Hungertod rettete. Die Haltung dieser Aufseherin, die dann von den EnglĂ€ndern gehĂ€ngt wurde, bleibt der Autorin „ein Geheimnis“, lĂ€sst sie vor allzu absoluten Urteilen zurĂŒckhalten. In Bergen-Belsen aber starb auch die geliebte Mutter an Typhus. In Bezug auf die Judenvernichtung lehnt Simone Veil die These Hannah Arendts von der BanalitĂ€t des Bösen ab. Das bedeute, dass jeder zu solchen GrĂ€ueltaten fĂ€hig sei. Damit seien alle schuldig und gleichzeitig niemand. Damit verkenne man auch die großen Risiken, die ‚Gerechte‘ eingegangen seien, um Juden zu retten.

Die aus den Lagern ZurĂŒckgekehrten störten aber die französische Nachkriegsgesellschaft, die möglichst schnell die dĂŒsteren Vorkommnisse vergessen wollte[2]. Man feierte wohl die Leute aus dem Widerstand, die sich fĂŒr eine Idee entschieden hatten, nicht aber die rassisch Verfolgten, die ihr Schicksal als Opfer nicht selber gewĂ€hlt hatten. Die Vereinigung der Überlebenden von Auschwitz wurde indes völlig von den Kommunisten in einem politischen Sinne vereinnahmt. Das war die erste politische Erfahrung von Simone Veil, die sich entschieden einem stalinistischen Diktat widersetzte.

Von ihrem Lebenswillen zeugte dann die Heirat der 19jĂ€hrigen mit ihrem Kommilitonen Antoine Veil, der ebenfalls aus einer nicht-religiösen jĂŒdischen Familie stammte und wie sie Politische Wissenschaft studierte. Wenn sie sich in die Aufbruchstimmung eines neuen Frankreich einreihte, so fand sie doch, dass de Gaulle nach dem Krieg zu schnell unmittelbare Vergangenheit vergessen ließ und die Judenverfolgung kaum ansprach. Das junge Ehepaar lebte dann im Rahmen der französischen Besatzungsverwaltung in Deutschland, was fĂŒr die KZ-Überlebenden kein Problem darstellte. Sie trat frĂŒh fĂŒr die Idee einer europĂ€ischen Gemeinschaft ein und plĂ€dierte darum fĂŒr eine schnelle und totale Versöhnung mit Deutschland, im Gegensatz zu den Gaullisten und Kommunisten, die in ihrer Europaskepsis ĂŒbereinstimmten.

Nach dem Jurastudium gedachte sie als AnwĂ€ltin tĂ€tig zu werden, was ihrem Mann nicht so genehm war; so einigte man sich auf eine Richterlaufbahn. In diesem Kontext kĂŒmmerte sie sich als Mitarbeiterin des Justizministeriums intensiv um die VerhĂ€ltnisse in den GefĂ€ngnissen. Als Chirac unter Giscard Premier-Minister wurde, ĂŒbertrug er ihr – sie war die einzige Frau im Kabinett – das Gesundheitsministerium. Giscard betraute sie gleich mit der Reform des Abtreibungsgesetzes, das noch aus dem Jahre 1920 stammte. Der Name von Simone Veil bleibt mit diesem neuen Gesetz verbunden, das ihr zunĂ€chst auch Gegner, vor allem in ihrem eigenen Lager, einbrachte. Heute wird ihre Pionierrolle als KĂ€mpferin fĂŒr die Freiheit der Frauen uneingeschrĂ€nkt anerkannt. Als sie spĂ€ter gefragt wurde, ob sie Feministin sei, antwortete sie:

« Je ne suis pas militante dans l’ñme, mais je me sens fĂ©ministe, trĂšs solidaire des femmes quelles qu’elles soient
 Je me sens plus en sĂ©curitĂ© avec des femmes, peut-ĂȘtre est-ce dĂ» Ă  la dĂ©portation? Au camp, leur aide Ă©tait dĂ©sintĂ©ressĂ©e, gĂ©nĂ©reuse, pas celle des hommes. Et la rĂ©sistance du sexe dit faible y Ă©tait aussi plus grande.[3] »

Giscard, dem sehr an der deutsch-französischen Aussöhnung lag, schlug sie dann 1979 als PrĂ€sidentin des Europa-Parlaments vor: gerade als KZ-Überlebende sollte sie diese Versöhnung symbolisieren. Europa sollte dann wĂ€hrend mehr als zwanzig Jahren im Zentrum ihrer politischen TĂ€tigkeit stehen. Mit einer gewissen Desillusion stellte sie jedoch das geringe Europa-Engagement der französischen Politiker fest. Chirac habe 2005 das Referendum zur Europaverfassung nur deshalb angesagt, um die uneinige Opposition in Verlegenheit zu bringen. Die ‚schlaue‘ Idee erwies sich als ein ‚Rohrkrepierer‘.

Simone Veil fĂŒhlte sich politisch stets dem Zentrum nahe. Sie trat 1995 der UDF bei, weil diese Formation am europafreundlichsten war, verließ dann aber angesichts der internen RĂ€nkespiele bald wieder diese Partei. Das vernichtendste Urteil in ihren Memoiren war zweifellos das ĂŒber den Zentrumspolitiker François Bayrou: ein ‚Erleuchteter‘, der nur eines im Auge habe: das ElysĂ©e. 2012 trat sie dann aber als erste der neu gegrĂŒndeten Zentrumspartei UDI bei.

Von 1998 bis 2007 war Simone Veil Mitglied des französischen Verfassungsrates, was sie zu einer gewissen politischen Reserve zwang. Als Europa-Politikerin tĂ€tig kam sie mit den Großen der Welt in Kontakt. Aufschlussreich sind im Memoiren-Band ihre knappen aber klaren EinschĂ€tzungen der StaatsmĂ€nner und -frauen: Margret Thatcher: „eine trockene, ziemlich harte Frau, die aber bestens ihre Dossiers kannte“. Bill Clinton: „Warmherzig, sympathisch und von großer PrĂ€senz“. Hillary Clinton: „von brillanter Intelligenz kann sie sich mit vollendeter Leichtigkeit ausdrĂŒcken, indem sie die Argumente wirkungsvoll und einfach ausfaltet. Eine der politischen Frauen, die auf mich den grĂ¶ĂŸten Eindruck gemacht hat.“ Ganz positiv fiel auch ihr Urteil ĂŒber Sarkozy als Innenminister aus: „ein ebenso intelligenter wie lebhafter Mann, ein unermĂŒdlicher Schaffer“. Sie widersetzte sich dann aber entschieden seiner Idee eines Ministeriums der nationalen IdentitĂ€t.

Wie sehr aber die Erinnerung an Auschwitz bei ihr prĂ€sent war, lĂ€sst sich auch daraus ablesen, dass bei den vier wichtigsten Reden, die im Anhang ihrer Memoiren abgedruckt sind, eine in Auschwitz anlĂ€sslich der 60. Wiederkehr der Befreiung des Lagers gehalten wurde; die andere hielt sie als PrĂ€sidentin der ‚Fondation pour la mĂ©moire de la Shoah‘ am 29. Januar 2007 vor der UNO. An die Pflicht der Erinnerung gerade auch gegenĂŒber der jungen Generation gemahnte sie in ihrer Rede in Auschwitz anlĂ€sslich der 60. Wiederkehr der Befreiung des Lagers:

« Comme tous mes camarades, je considĂšre comme un devoir d’expliquer inlassablement aux jeunes gĂ©nĂ©rations, aux opinions publiques de nos pays et aux responsables politiques, comment sont morts six millions de femmes et hommes, dont un million et demi d’enfants, simplement parce qu’ils Ă©taient juifs […] c’est dans un pays d’Europe, depuis longtemps admirĂ© pour ses philosophes et ses musiciens, qu’il a Ă©tĂ© dĂ©cidĂ© de gazer et brĂ»ler des millions d’hommes, de femmes et d’enfants, dans des fours crĂ©matoires. [4] »

In ihrer Rede vor der UNO blieb Simone Veil aber nicht im Allgemeinen, sondern schilderte ganz konkret ihre persönliche Erfahrung:

« Il faut que vous sachiez que, pour les anciens dĂ©portĂ©s, il n’y pas de jour oĂč nous ne pensions Ă  la Shoah. Plus encore que les coups, les chiens qui nous harcelaient, l’épuisement, la faim, le froid et le sommeil, ce sont les humiliations destinĂ©es Ă  nous priver de toute dignitĂ© humaine qui, aujourd’hui encore, demeurent le pire dans nos mĂ©moires. [5] »

Simone Veil kam dann auch auf die Massaker in Kambodscha, in Ruanda und in Darfour zu sprechen, auf die Gefahr eines Iran mit Atomwaffen, auf die Vertreter eines radikalen Islam, die zur Zerstörung Israels aufriefen, das zur Heimstatt der Überlebenden der Shoah geworden sei:

« Ce nouveau nĂ©gationnisme m’inquiĂšte car il trouve un grand Ă©cho auprĂšs d’esprits ignorants et fanatisĂ©s, et notamment, Ă  cause des nouvelles technologies de communication, auprĂšs des jeunes. [6] »

Aber schließlich erinnerte sie auch an die ‚Gerechten‘, an die Tausenden von Frauen und MĂ€nner, die Juden vor der sicheren Deportation gerettet hatten:

« Si j’évoque les Justes, c’est parce que je suis convaincue qu’il y aura toujours des hommes et des femmes, de toutes origines et dans tous les pays, capables du meilleur. A l’exemple des Justes, je veux croire que la force morale et la conscience individuelle peuvent l’emporter. [7] »

  1. Simone Veil: Une vie. Paris, Stock 2007 ; deutsch: Und dennoch leben: die Autobiographie einer großen EuropĂ€erin (Berlin, Aufbau-Verlag 2009). Eingangs erinnert Simone Veil an Maupassant, dassen Roman-Titel sie ĂŒbernahm : « Maupasssant, que j’aime, ne m’en voudra pas d’avoir empruntĂ© le titre d’un de ses plus jolis romans pour dĂ©crire un parcours qui ne doit rien Ă  la fiction. » Veil, Une vie, 9. Ob sie dabei auch an das Fazit des Romans (« La vie, voyez-vous, ça n’est jamais si bon ni si mauvais qu’on croit. ») gedacht hat? Ihr Fazit, das sie anlĂ€sslich einer Reise als Ministerin nach Beirut geĂ€ußert hatte, war etwas positiver: « Vous savez, malgrĂ© un destin difficile, je suis, je reste toujours optimiste. La vie m’a appris qu’avec le temps, le progrĂšs l’emporte toujours. C’est long, c’est lent, mais en dĂ©finitive, je fais confiance.“ Zitiert in Eric Favereau, „Simone Veil, une femme debout“, LibĂ©ration, 30. Juni 2017. ↑
  2. „Quant aux Juifs qui n’avaient pas Ă©tĂ© dĂ©portĂ©s, c’est-Ă -dire, en ce qui concerne la France, les trois quarts d’entre eux, la plupart ne supportaient pas de nous entendre. D’autres prĂ©fĂ©raient ne pas savoir. Il est vrai que nous n’avions pas conscience de l’horreur de nos rĂ©cits. C’est donc entre nous, les anciens dĂ©portĂ©s, que nous parlions du camp.“ Veil, Une vie, 394. ↑
  3. Zitiert in Eric Favereau, „Simone Veil, une femme debout“, LibĂ©ration, 30. Juni 2017. ↑
  4. Veil, Une vie, 387–8. ↑
  5. Veil, Une vie, 390. ↑
  6. Veil, Une vie, 396. ↑
  7. Veil, Une vie, 398. ↑

 

Abb.: Simone Veil, European Parliament, (1979–1982)

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