Triakontameron: Formate des Erzählens in Zeiten von Corona

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DAS TRIAKONTAMERON

Damit wir nun nicht aus Trägheit oder Sorglosigkeit einem Unglück erliegen, dem wir, wenn wir wollten, auf irgendeine Weise entgehen könnten, dächte ich, wiewohl ich nicht weiß, ob ihr die gleiche Meinung habt, es wäre am besten, wir verließen, so wie wir sind, diese Stadt, wie es viele vor uns getan haben und noch tun. (Giovanni Boccaccio: Decamerone, Einleitung zum 1. Tag)

Schon eine solche Ausgangssituation wäre heute in dieser Form gar nicht realisierbar: In Giovanni Boccaccios Decamerone begibt sich Mitte des 14. Jahrhunderts eine Gruppe von sieben jungen Damen und drei jungen Herren aufs Land, um sich, während in der italienischen Stadt Florenz die Pest wütet, die Zeit durch das Erzählen von Geschichten zu vertreiben. Unter den aktuell geltenden Ausgangsbeschränkungen (geschrieben in Bayern am 21.3.2020) müsste die körperliche Nähe zu einer solchen Gruppe als unvertretbares Ansteckungsrisiko gelten, d.h. ein Decamerone 2020 wird es zumindest nicht als physisches Miteinander einer mündlichen Erzählgemeinschaft geben. Aber was spricht dagegen, Formate des Erzählens sowie des Austauschs zu schaffen, die diese Risiken umgehen und dabei doch etwas Anderes anbieten als den unablässigen Blick auf die neuesten Corona-Statistiken im Netz oder Prognosen zu weiteren Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die möglicherweise ein paar Stunden später schon wieder überholt sind?

Zwischen der katastrophischen Vorstellung einer völlig ungeordneten Eskalation und dem nicht weniger unrealistischen Zustand einer baldigen Rückkehr zur Normalität – als sei nichts Wesentliches geschehen – liegt im Moment vielleicht das Schwierigste, aber auch Interessanteste: sich wie vor über 700 Jahren die temporäre Erzählgemeinschaft des Decamerone neue, vorübergehende Gewohnheiten zurechtzulegen, um das, was in den kommenden Tagen (Wochen? Monaten?) des erzwungenen social distancing auf uns zukommt, in Form von Alltagspraktiken strukturierbar zu machen.

Ohne in überholte Versprechungen weltumspannender digitaler Gemeinschaft aus den Anfangszeiten des Internet zurückzufallen, ist die gezielte Nutzung sozialer Medien für die Bildung einer solchen Erzähl- und Reflexionsgemeinschaft ein unkomplizierter Weg, um solche neuen Gewohnheiten zu entwickeln – an die Stelle der zehn Personen und der zehn Tage soll zunächst für die Dauer von 30 Tagen (daher auch der Name „Triakontameron“ – Dreißigtagewerk) eine offene Gruppe Schreibender treten, aus der heraus jeden Tag ein kurzer Text veröffentlicht wird. Ob es tatsächlich bei dreißig Tagen bleiben wird, ist aktuell nicht vorherzusagen – im Prinzip soll so lange weiterdiskutiert werden, wie der Shutdown von Kultureinrichtungen, Buchhandlungen, Cafés und Universitäten andauert bzw. bis andere Gewohnheiten wichtiger werden können (oder müssen).

Worum es dabei gehen könnte: ums Erzählen, wie bei Boccaccio, aber auch ums Beobachten des Alltags, ums Durchhalten und möglicherweise sogar ums ‚nackte‘ Überleben. Bereits seit Beginn der Corona-Zeit  hat sich parallel zum Virus selbst von Italien aus eine erste kulturtheoretische Debatte zu den biopolitischen Implikationen der aktuellen Situation ausgebreitet: Geführt wurde und wird sie v.a. von älteren Männern aus der Corona-Riskogruppe wie Giorgio Agamben[2], Jean-Luy Nancy[3], Roberto Esposito[4] und Slavoj Žižek[5]. Die Diskussionen auf unserer Plattform könnten an diese kulturtheoretische Debatte anschließen, sie könnten aber auch – und darin mag vielleicht die besondere Herausforderung in literarischer Sicht liegen – anfangen, den schreibenden Umgang mit noch zu strukturierenden Zeitverläufen unserer kommenden Tage genauer zu beobachten bzw. sich auf ihre eigene Weise selbst daran zu beteiligen. Vorbilder eines solchen Erzählens bzw. Schreibens gegen die bzw. mit der vergehenden Zeit finden sich nicht nur in der Landgesellschaft des Decamerone, sondern etwa auch in Scheherazades Erzählungen oder bei den beiden sprechenden Hunden Cipión und Berganza in Miguel de Cervantes‘ „Coloquio de los perros“.

Für einen aktuellen Blick der Beiträger*innen unserer temporären Denk/Schreibgemeinschaft auf die Entwicklung neuer Gewohnheiten könnte sich beispielsweise ein Blick auf die schnell expandierende literarische Gattung der „Corona-Tagebücher“ im Internet lohnen.[6] Oder man könnte an weitgehend in Vergessenheit geratene kleine Formen des Literarischen erinnern, die produktiv mit dem Hausarrest umgehen, wie zum Beispiel die „Zimmerreise“.[7] Das Triakontameron soll keine zwanghaft ‚coronafreie Zone‘ sein, Corona muss aber in den Beiträgen nicht unbedingt direkt Thema sein. Und nicht zuletzt geht es auch darum, aus der sozialen Distanz heraus nicht den Blick für all das zu verlieren, was alles – vor der eigenen Haustür oder an den europäischen ‚Außengrenzen‘ – mehr oder weniger unbeeindruckt vom Virus weiterläuft wie bisher.

Bis auf Weiteres soll auf dieser Plattform jeden Tag (mindestens) ein kurzer Text veröffentlicht werden, der durch die Redakteur*innen aus den eingehenden Beiträgen ausgewählt wird. Dabei wollen wir am Prinzip der kurzen, aber geschlossenen Textform festhalten, d.h. wie im Decamerone sollen zumindest einstweilen nur Einzeltexte ohne Kommentare publiziert werden; es ist aber jederzeit möglich, eine Replik auf einen bereits publizierten Text einzureichen. Alles Weitere wird sich zeigen und entwickeln.

Wir beginnen unser Dreißigtagewerk am Freitag, den 27. März.

21. März 2020
Martina Bengert, Jörg Dünne und Max Walther

Kontakt: info@triakontameron.de


[1] http://www.zeno.org/Literatur/M/Boccaccio,+Giovanni/Novellensammlung/Das+Dekameron/Erster+Tag

[2] https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-l-invenzione-di-un-epidemia

[3] https://antinomie.it/index.php/2020/02/27/eccezione-virale/

[4] https://antinomie.it/index.php/2020/02/28/curati-a-oltranza/

[5] https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-der-mensch-wird-nie-mehr-derselbe-gewesen-sein-ld.1546253. Immerhin hat sich inzwischen (21.3.2020) in Reaktion auf Žižek auch die Züricher Slawistin Sylvia Sasse zu Wort gemeldet (https://geschichtedergegenwart.ch/tolstoj-und-die-ansteckung/).

[6] Vgl. https://www.zeit.de/kultur/2020-03/coronavirus-berlin-spaziergaenge-david-wagner

[7] https://www.deutschlandfunk.de/die-welt-auf-zehn-quadratmetern.700.de.html?dram:article_id=84628

 

Ill.: John William Waterhouse: A Tale from the Decameron (1916)

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