Übertragung im deutsch-französischen Verhältnis (Karl Heinz Götze über Thomas Keller)
Karl Heinz Götze, „Wer und was überträgt im deutsch-französischen Verhältnis? Elemente einer Theorie des Dritten und Fallstudien vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, Rezension von Thomas Keller, Verkörperungen des Dritten im deutsch-französischen Verhältnis, Vorabdruck der Rezension für Romanische Studien.
Vorabdruck
Wer und was überträgt im deutsch-französischen Verhältnis?
Elemente einer Theorie des Dritten und Fallstudien vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Karl Heinz Götze (Université Aix-Marseille)
Thomas Keller, Verkörperungen des Dritten im deutsch-französischen Verhältnis: die Stelle der Übertragung (Paderborn: Wilhelm Fink, 2018), 848 S.
Thomas Keller interessiert sich für „Verkörperungen des Dritten im Deutsch-französischen Verhältnis“. Das meint einen „Versuch, nicht – oder möglichst wenig – über ‚deutsch‘ und ‚französisch‘ zu sprechen, und statt dessen wahrzunehmen, was zwischen Deutschen und Franzosen rüberträgt (sic!), was beide verbindet und trennt, was nicht übersetzt, sondern übersetzt“ (11).
Was gemeint ist, konkretisiert die lange Einleitung am Beispiel des Liborius-Kultes: Ein Teil der Reliquien des heiligen Liborius, der im 4. und 5. Jahrhundert in Le Mans im römischen Gallien wirkte, werden im 9. Jahrhundert auf Bitten des Legitimation suchenden Bischofs von Paderborn in einer monatelangen Prozession in die sächsische Bischofsstadt überführt. Ein Pfau zeigt der Prozession den Weg und auch sonst passieren allerlei Wunder, die sich über Jahrhunderte fortsetzen, nachdem Liborius Patron der Domkirche zu Paderborn geworden ist. Während der Französischen Revolution gehen in Le Mans die verbliebenen Gebeine des Heiligen verloren, sodass man um Rückübertragung eines Teils der Paderborner Reliquie bittet, eine Bitte, der 1850 auch willfahren wird, dieses Mal ohne Pfau. Heute erinnern das Paderborner Libori-Fest, das Liborius-Mahl und vor allem die Libori-Medaille, die im Abstand von etwa 5 Jahren einer Persönlichkeit verliehen wird, die sich auf christlicher Grundlage um die europäische Einheit und den europäischen Frieden verdient gemacht hat, an die lange Geschichte der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Le Mans und Paderborn. „Jene Freundschaft“, so Keller, „hätte ohne Medien wie Reliquien gar nicht ins Leben treten können“ (14).
Es geht also um „Medien“, um „Verschiebungen“ hin und her, um „De- und Rekontextualisierung“ (16), um „Tertialität“ (17), wenn von „Übertragung“ die Rede ist.
Der Ansatz schreibt sich ein in die deutsch-französische Transfer-Forschung, die seit langem gebrochen hat mit dem simplen Modell etwas essentiell „Französisches“ oder etwas essentiell „Deutsches“ werde ein- für allemal ins Nachbarland gebracht. Michel Espagne und Michael Werner verdanken wir in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass es beim Transfer vor allem auf den Aufnahmekontext ankommt, Werner und Zimmermann haben das Konzept noch weiter vom binären, nationalstaatlichen Rahmen zu befreien versucht zugunsten einer „histoire croisée“:
Den Perspektivwechsel der Transfer- und Verflechtungsforschung geht die vorliegende Studie mit; sie denkt aber nicht in Kategorien von Export und Import von Wissen und versucht auch nicht, den Blick auf die Pole zu richten, zwischen denen sich Übertragungen abspielen, sondern auf das, was überträgt, das heißt auf Dritte und ein Drittes. (16)
Auch der Fokus auf den Prozess der Übertragung ist nicht neu. Gerade im letzten Jahrzehnt sind zahlreiche Studien zu den Mittlern im deutsch-französischen Geschehen erschienen, also zu Gesandten, Diplomaten, Händlern, Buchdruckern, Übersetzern, zu deutschen Romanisten und französischen Germanisten, zu Zeitungskorrespondenten, zu Exilanten und Besatzern. Keller selbst hat vielfältig zu diesen Forschungen beigetragen, beigetragen auch zur Erhellung der häufig zweifelhaften Rolle dieser bisweilen verklärten Mittlerfiguren. Im vorliegenden Band geht es aber nicht nur um personale Vermittlung, sondern auch um zirkulierende Dinge, um sächliche Objekte wie eben die Knochen des Liborius oder das Grabmal des Marquis d’Argens in Aix-en-Provence. Nicht nur Wissensvermittlung wird untersucht, sondern die „stofflich-leibliche Körperlichkeit der Übertragung“ (33).
Gegenstand sind also nicht nur Texte, schon längst nicht nur Texte aus der jeweiligen sogenannten „Höhenkamm-Literatur“, sondern vielerlei Zeugnisse aus dem Bereich der Kunst- , Human- und Geisteswissenschaften ohne Rücksicht auf ihre ästhetische Qualität. Geordnet sind die Einzelstudien nicht systematisch, also etwa nach den jeweiligen Übertragungsfunktionen, sondern chronologisch. Sie sind unterschiedlicher Länge, aber alle umfangreich: Nach der Einleitung von 44 Seiten und neben 62 Seiten (sehr nützlicher) Bibliographie (nebst Register) 19 Studien auf 740 Seiten. Ein in vieler Hinsicht gewichtiges Unternehmen also.
Der erste Themenblock gilt den asymmetrischen Beziehungen vor der Revolution von 1789, asymmetrisch, weil während der Zeit der Aufklärung Frankreich in den Dingen des Geistes deutlich dominiert. Die früheren Übertragungen durch die Aufnahme der Hugenotten in deutschen Landen im 17. und 18. Jahrhundert sind also nicht Gegenstand. Die französische kulturelle Dominanz flacht „Nach der Revolution“ mit der wachsenden Geltung des deutschen Idealismus, der deutschen Universitäten, der deutschen Romantik und ihren prominenten Mittlern ab. Von dort dann ein beherzter Sprung über das ganze 19. Jahrhundert hinweg zur nächsten Jahrhundertwende. Das 20. Jahrhundert, strukturiert nach „Jahrhundertwende“, „Zwischenkriegszeit“, „Nachkriegszeit“ und „Nach der Aussöhnung“ bildet dann den zweiten Schwerpunkt des Buchs.
Die erste Studie verfolgt das Schicksal des Grabmals des Marquis d’Agens in Aix-en-Provence. D’Agens, ein früher Aufklärer, gehörte zu den Franzosen am Hof Friedrich II. Nach 25 Jahren in Berlin kehrte er am Lebensende zurück in die Provence. Friedrich II. stiftete ihm ein Grabmal, dekoriert mit Objekten aufklärerischer Ikonographie. Die Aixer Klerisei lässt es um eine Inschrift ergänzen, mit der wahrheitswidrig die schließliche Bekehrung des Aufklärers behauptet wird, die deutschen Südfrankreich-Reisenden berichten vom Grabmal, die Revolutionäre von 1789 missverstehen die Inschriften – heute sind alle Zeichen des aufklärerischen preußischen Kulturprotestantismus wie der klerikalen Inbesitznahme entfernt, die Spuren des Transkulturellen verschwunden.
Die folgende Studie untersucht die Beiträge deutscher Autoren zur Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. Die Zuschreibung ‚deutsch‘ ist für die betreffenden Autoren nur sehr eingeschränkt zutreffend. Aus Berlin wirken Formey und Sulzer mit, aus Paris die Einwanderer Baron d’Holbach und Friedrich Melchior Grimm. Formey ist französischsprachig und kann kaum Deutsch, d’Holbach und Grimm sind zweisprachig, leben in Paris und publizieren auf Französisch, in der unbestritten dominierenden Sprache der Zeit. Keller verfolgt die verschiedenen „Fremdheitsspuren“, die durch die genannten Autoren in die Encyclopédie gelangen, insbesondere im Bereich der Darstellung der Religion.
Melchior Grimm, der Herausgeber einer einflussreichen Korrespondenz, mit der er, glänzend vernetzt, den europäischen Hochadel über die Pariser Neuigkeiten informierte und Jean-Georges Wille, der berühmteste Kupferstecher der Zeit, sind in der Zeit vor der französischen Revolution wohl die bekanntesten Pariser deutscher Herkunft. Keller verfolgt, wie sie dazu wurden. Dazu gehört, dass sie Plätze besetzen, die Franzosen nicht anstrebten, vor allem aber gehören dazu einflussreiche „Türöffner“, Türöffner wie Diderot für Grimm einer war. Keller verfolgt die transmedialen Wege der Etablierung Willes und Grimms von Greuzes Wille-Portrait über die Correspondance littéraire bis zu Diderots schriftlichem Grimm-Portrait. Am Schluss der Beiträge zur vorrevolutionären Epoche steht ein Text über die ersten Spuren der deutschen Sprache in Arnauds Zeitschriften und über die Gessner-Übersetzung von Michael Huber, dem damals wohl wichtigsten Übersetzer aus dem Deutschen.
„Nach der Revolution“ ist vieles anders, auch im deutsch-französischen Kulturtransfer. Zunächst deshalb, weil sich die Kontaktzonen stark erweitern. Von deutscher Seite kommen viele Intellektuelle in den Zeiten der Revolution nach Paris, um einen direkten Eindruck von den revolutionären Ereignissen zu gewinnen. Umgekehrt flüchten jetzt französische Anhänger des Ancien Régime nach Deutschland. Mit der napoleonischen Machtausdehnung gelangen dann auch zahlreiche Franzosen als Verwaltungsbeamte oder Soldaten nach Deutschland, Tausende von Deutschen werden in französisch bestimmte Strukturen eingegliedert. Mehr Kontakt also, aber nun zumindest in Dingen des Geistes auf Augenhöhe. Auf dem Höhepunkt der deutschen Klassik und Romantik, der idealistischen deutschen Philosophie verliert die Überzeugung von der Überlegenheit der französischen Sprache und Literatur an Geltung.
Nicht zufällig steht am Anfang der Blick auf Madame de Staël: „Sie rückt […] von einem monokulturellen Konsens ab, verbindet verschiedene Kulturen und hält Abstand zu beiden Seiten, zu den deutschen Romantikern und zu Kant, zu den französischen Vertretern der Klassik und den sensualistischen Philosophen“ (223). Gegenstand der Analyse ist nicht in erster Linie De l’Allemagne, sondern Corinne, speziell das Verfahren, begriffliche Konzepte wie das des „Erhabenen“ im Sinne Kants in Bauwerken und Szenen sinnlich-anschaulich zu verkörpern. Auch Stendhal hat zwischen 1806 und 1808 zwei Jahre in Deutschland verbracht. „Mit Madame de Staël teilt Stendhal die Überzeugung, die Liebe der Deutschen sei zu sehr von philosophischen Luftschlössern und von schwärmerischer Einbildungskraft beherrscht“ (227). Er macht sich über die lebenslange Ehe lustig, die Esprit und Leidenschaft ausschließt.
Überaus aufschlussreich ist das Schicksal von Charles de Villers, der ziemlich vergeblich versucht, den Franzosen den Kantschen Transzendentalidealismus nahezubringen, den er im Übrigen stark entstellt. In Liebesdingen stellt er – anders als Madame de Staël, Stendhal oder auch Constant – die „deutsche“ Gefühlsliebe der französischen Liebe der sinnlichen Empfindung nicht nur entgegen, sondern wertet die „französische“ Liebe dezidiert ab. Sein Lebensgang „stellt ein musterhaftes Beispiel für eine Dreierkonstellation dar, in der ein Bote zum Gast, der Gast zum Einwanderer, der Einwanderer zum Angehörigen werden will, die ausgetauschte Zugehörigkeit indes sich als unsicher, instabil erweist“ (260). Von Frankreich aus gesehen, ist er ein Überläufer, der sein Herkunftsland schlecht macht, den Deutschen bleibt er ein Franzose, der die deutsche Gedankenwelt letztlich nicht versteht und am Ende einen hohen Preis für seinen Übergang zahlt.
Benjamin Constant hat wie Villers und Stendhal langjährige französisch-deutsche Liebesverhältnisse gelebt und sich auch länger im Königreich Westphalen aufgehalten. In Fragen der Liebeskonzeption, die seine Romane durchzieht, hält er eine Mittelposition zwischen dem feudalistischen Allianzmodell, in dem die einmal in der gleichen sozialen Schicht zum Zwecke der biologischen und gesellschaftlichen Reproduktion eingegangene Ehe unauflöslich ist, aber keine sexuelle Exklusivität verlangt und dem deutsch-romantischen Liebesmodell, in dem Liebe, Ehe, Gefühl, Körper, Sexualität in eins fallen. An ersterer hält Madame de Staël fest, zweiteres macht Villers zum Wahrzeichen der Überlegenheit der deutschen Liebespraxis als beinahe göttliche Herzensangelegenheit über die allein auf sinnliche Lust gerichteten Liebe der Franzosen. Für Constant ist die Gleichsetzung von Liebe und Ehe auf Dauer ebenso wenig tragfähig wie das Allianz-Modell des Libertin.
Das Kapitel über den deutsch-französischen Kulturaustausch in der napoleonischen Zeit gehört zweifellos zu den besten Teilen von Kellers Buch. Das liegt nicht nur an den souveränen Detailkennissen des Autors, sondern auch am Umfang der Kontakte, die es damals gab, der Bedeutung der untersuchten Mittler und gewiss auch daran, dass hier von kulturkundigen Dritten fundamentale Fragen der Liebe als Gefühl und soziale Institution verhandelt werden, die bis heute immer wieder Thema sind, in Deutschland wie in Frankreich. Durchaus von Aktualität ist übrigens auch der Text über den staatlich gelenkten Kunstraub in der Napoleonischen Zeit, dessen Effekte durchaus widersprüchlich sind, da der Raub den Wert des Geraubten und dann häufig Restituierten erhöht.
Das 19. Jahrhundert seit dem Wiener Kongress souverän ignorierend, setzt die Darstellung erst um das Jahr 1900 wieder ein. Das erstaunt, erweitern sich doch die deutsch-französischen Kontaktzonen vor der Revolution von 1848 durch das politische und wirtschaftliche Exil auf ungeahnte Weise – vom Wandel der Grundzüge der Deutschland-Perzeption in Frankreich nach dem Krieg von 1870/71 zu schweigen.
Der Blick fällt zunächst anhand von Texten Grauthoffs und Meier-Graefes auf den gescheiterten Versuch, moderne, schlichte deutsche Möbel nach Frankreich zu bringen.
In den Pariser Salons dominieren nach wie vor die Nachbauten von Möbeln im Stile von Louis XIV. oder Louis XV., ein Phänomen übrigens, das bis heute fortwirkt.
Im Anschluss daran wird anhand des Treffens zwischen Gide und Greve freigelegt, wie der Vorgang des acte gratuit als Akt der Steigerung von Lebensintensität transkulturelle Dimensionen annimmt. Die Analyse der „wahren Geschichte“ von Jules und Jim, also dem Dreiecksverhältnis zwischen Franz Hessel, Henri-Pierre Roché und Helen Grund zeigt die Mediatisierung der Frau als Preis dieser deutsch-französischen Freundschaft.
Der „Indifferentismus der Avantgarden“ (Kap. IV) gehört dann schon zur Zwischenkriegszeit. Die Positionierung zwischen dem Bellizismus und dem Pazifismus wird bei den Avantgarden in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich zu einem Konzept des Dritten. Das „leibliche Locarno“ untersucht eine Reihe deutsch-französischer Verständigungstexte der ersten Nachkriegszeit, unter denen Giraudoux’ Siegfried et le Limousin der bekannteste ist, und richtet den Blick auf die vertauschten Leiber und die stellvertretende Opferung der Kinder. Der folgende Text sucht nach Berührungspunkten zwischen der deutschen philosophischen Anthropologie – eine starke unterirdische Referenz für Keller – und der Soziologie des Sakralen. Er findet Berührungspunkte in der Theoriegeschichte (Nietzsche), in den Begegnungen zwischen Hans Mayer, Bataille, Leiris, Caillois während des Exils, es bleibt aber trotz vergleichbaren theoretischen Suchbewegungen bei der Distanz der deutschen Exilanten zum anstößigen Sakralen und der Erfindung neuer Mythen.
„Nach den Kriegen“ thematisiert Tourniers Erlkönig und analysiert Texte von Hubert Fichte, Brigitte Burmeister, Birgit Vanderbeke und Anne Weber über die Provence. An die Gegenwart reichen Studien über die „Unübersetzbaren“ (u. a. unter Bezug auf Barbara Cassin) sowie die „Pataphysischen Späße“ u. a. der OULIPO-Gruppe heran.
Aufs Ganze gesehen, kann kaum Zweifel daran sein, dass Kellers Buch von stupender Belesenheit und rarem Kenntnisreichtum auf dem Gebiet deutsch-französischer Übertragungen zeugt. Es ist die selten gewordene Summa eines Forscherlebens, dessen Etappen sich natürlich auch in der Wahl der Gegenstände des Buchs zeigen. Schon Kellers Habilitation über die deutsch-französischen Dritten Wege der Zwischenkriegszeit richtete den Blick auf Drittes. Dem langjährigen akademischen Wirken in Aix-en-Provence verdanken sich mehrere Texte. Das ändert nichts daran, dass die Themen weit gespannt sind, weit gespannt sowohl in historisch-chronologischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Verarbeitung von Ansätzen aus vielerlei Kulturwissenschaften.
Natürlich kann ein solches Buch heute kaum mehr aus einem Wurf hervorgehen, sondern als Sammlung und theoretischer Verallgemeinerung von Studien, die in verschiedenen Zusammenhängen entstanden sind, aber eben durchaus allesamt – mehr oder minder – das „Dritte“ fokussieren. Das führt nicht nur zu Wiederholungen, denen sich ein Lektor hätte gründlich annehmen sollen, sondern auch zu Rissen zwischen der theoretisch ambitionierten Einleitung und den einzelnen Studien. So ist der Band ein Drittes zwischen einer systematischen Studie und einem Sammelband. Das ist nicht erstaunlich: Die meisten Bände zum deutsch-französischen Kulturtransfer bestehen aus mehr oder minder ambitionierten theoretischen Einleitungen, gefolgt von Einzelstudien verschiedenster Autoren.
Auffällig ist auch die Spannung zwischen souveränem Überblick über das Feld der Übertragungen insgesamt und der völligen Ausblendung von wichtigen Phänomenen, die in der betreffenden Periode zum Feld gehören, aber nicht eigentlicher Forschungsgegenstand sind. Das gilt zum Beispiel für die Zeit um 1800. Weder die Reisen der deutschen Revolutionsbeobachter noch etwa die Positionen der deutschen Napoleonanhänger wie Goethe und Heine und die Diskursmuster der so zahlreichen deutschen Napoleonhasser finden auch nur Erwähnung. Der Ehrgeiz ist ganz offenbar nicht, ein Gesamtpanorama zu liefern, sondern vor allem, selbst neu Erforschtes zu präsentieren. Diese Forschungen gelten häufig „biographischen[n] Profile[n] von Paradiesvögeln“ und „sonderbare[n] Objekte[n]“. (12) So trifft der Blick für das Große und Ganze auf das Interesse am Bunten und Abseitigen.
Unübersehbar ist hier auch ein Phänomen, das man von Literaturgeschichten kennt. Je weiter die thematisierten Epochen zurück liegen, desto klarer und zwingender ist die Darstellung. Zur Gegenwart hin wird es dann allemal unübersichtlich. Auch bei Keller sind die Kapitel über Grimm, Diderot, Madame de Staël, Stendhal, Constant zwingender als die über einige neuere Provence-Bücher oder das französische Schicksal einiger Lampen aus „Erichs Lampenladen“, dem Palast der Republik. Das liegt nicht am Autor, sondern an der Unübersichtlichkeit des Allernächsten und daran, dass die Phänomene komplexer werden. Dass die deutsch-französische Konfrontation heute einer „ausgesöhnten“ Indifferenz Platz macht, erleichtert die Forschung nicht.
Jedenfalls bleibt ein Hiatus zwischen dem theoretischen Konzept und den einzelnen Studien. Dieser Hiatus kommt ungewollt den Studien zu Nutze, denn es ist nicht möglich, wie es die Einleitung ankündigte, „nicht – oder möglichst wenig – über ‚deutsch‘ und ‚französisch‘ zu sprechen, und statt dessen wahrzunehmen, was zwischen Deutschen und Franzosen rüberträgt, was beide verbindet und trennt […]“ (11). Tatsächlich wird von Keller denn doch auch immer wieder über das jeweilige „Deutsche“ und „Französische“ einer bestimmten Zeit und Schicht gesprochen – wie auch nicht? Das Dritte ist ein Drittes nur in Bezug auf zwei andere, sonst wäre es ein Erstes. So fruchtbar die Fokussierung auf die Übertragungsprozesse ist, so problematisch die Hypostasierung des Dritten zu einem Element sui generis. Nein, das Dritte „verweigert sich“ eben nicht „dem Vergleich, dem Abgleich von ego und alter“ (22). Ausgeblendet bleibt zudem auch weitgehend, dass das Dritte temporär ist, irgendwann zurück muss zum unterdes verwandelten Ersten, das ausschickte, oder vorwärts zum Zweiten, von dem es assimiliert wird, manchmal nicht, ohne es zu verändern. Kellers Sympathie gilt weder den Verfechtern des Monokulturellen auf beiden Seiten, noch den scheiternden Überläufern wie Villers. Sein Herz schlägt für die Überträger und das, was sie im Handgepäck mit sich führen. Diese Parteinahme wirkt im Buch sehr fruchtbar. Darüber hinaus schimmert aber von Anfang an die Neigung durch, das Dritte sozusagen zu sakralisieren. Liborius ist nicht nur Exempel, sondern Schutzheiliger des Dritten, der Pfau führt durch das Buch.