Buchmesse 2017: Zeitgenössische Literatur aus Frankreich, hrsg. von Cornelia Ruhe und Jérôme Ferrari

Beiträge, Französisch

Wolfgang Asholt, „Die zeitgenössische Literatur unseres wohl immer noch wichtigsten Nachbarn: zur Frankreich-Anthologie von Jérôme Ferrari und Cornelia Ruhe in den Horen“, zur Publikation in den Romanischen Studien, Vorabpublikation.

Jérôme Ferrari und Cornelia Ruhe, Hrsg., „Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten: zeitgenössische Literatur aus Frankreich“, Die Horen 62, Nr. 267 (2017), 280 S.


Vorab-Publikation der Rezension

Die zeitgenössische Literatur unseres wohl immer noch wichtigsten Nachbarn

Zur Frankreich-Anthologie von Jérôme Ferrari und Cornelia Ruhe in den Horen

Wolfgang Asholt (Humboldt-Universität zu Berlin)

„Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten“, der Titel des Bandes ist dem Beitrag Pierre Bergounioux’ entnommen, charakterisiert aber nicht nur die oft beschworene Zuwendung der französischen Literatur zur Realität unserer Welt, sondern auch das Anliegen der Anthologie. Eine solche Anthologie anlässlich der Wahl Frankreichs als „Gastland“ der Frankfurter Buchmesse im Jahre 2017 (zuletzt war dies 1989 der Fall) vorzulegen, kommt einem wirklichen Desiderat nach, und dafür ist den beiden Herausgebern, Jérôme Ferrari, der als bekannter Romancier nobel darauf verzichtet hat, mit einem eigenen Beitrag vertreten zu sein, und der Romanistin Cornelia Ruhe ebenso zu danken wie den Horen. Die beiden Herausgeber schreiben in ihrer Einleitung, dass es sich bei der französischen Gegenwartsliteratur „um ein grundsätzlich bekanntes Territorium“ (3) handle, doch die Grundsätzlichkeit von Kenntnissen verbirgt nicht selten eine Unkenntnis zahlreicher und wichtiger Details. Insofern kann bezweifelt werden, ob den Literaturkritikern des deutschen Feuilletons auch nur die Hälfte der klug ausgewählten Autorinnen und Autoren – und sei es nur dem Namen nach – bekannt sind, oder ob die französische Literatur nicht immer noch mit dem deutschen Vorurteil zu kämpfen hat, das ein Kritiker des Jahres damals erfreulich klar formuliert hat: „und dann diese Franzosen, mein Gott, bei denen ist doch auch nichts mehr los mit der Literatur, aber die haben’s noch nicht gemerkt“ (Wilfried Wiegand, F.A.Z., 16.10.1989). Nun kann man nach Michel Houellebecq, Yasmina Reza oder Virginie Despentes (die in der Anthologie nicht vertreten sind) zwar nicht mehr behaupten, mit der französischen Literatur sei nichts mehr los, aber was sich damals schon deutlich abzeichnete, nämlich ein Wandel der Konzeption der Gegenwartsliteratur, ist im deutschen Sprachraum wohl bis heute nicht in seiner Bedeutung wahrgenommen worden. Deshalb ist eine Anthologie der Gegenwartsliteratur umso wichtiger, denn auch das 2001 erschienene Autorenlexikon Französische Literatur der Gegenwart von Petra Metz und Dirk Naguschewski1 bietet nicht diese Einblicke und ist zudem notwendigerweise veraltet. Es ist zu hoffen, dass dies Heft der Horen die Verbreitung erfährt, die diese Vorurteile verändern kann.

In einer kurzen Einleitung, die mit dem Titel des Bandes, „Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten“, überschrieben ist, erläutern die Herausgeber ihre Auswahlkriterien. Sie haben zum einen solche Autoren berücksichtigt, die in Deutschland durch Übersetzungen bekannter und gut vertreten sind, wobei auf die Preisträger Mathias Énard (Leipziger Buchpreis 2016) und Boualem Sansal (Friedenspreis 2011, nicht 2001) namentlich verwiesen wird. Zum anderen berücksichtigen sie „in Deutschland kaum bekannte Lyrikerinnen und Lyriker“ (3) wie Jean-Patrice Courtois, Emmanuel Laugier oder Anne Portugal. Einen weiteren „Schwerpunkt“ bilden Autoren einer „Generation“, „die sich im französischen Literaturbetrieb zunehmend zu etablieren beginnt“ (zwischen 1963 und 1977 geboren), ohne dass sie in Deutschland wirklich bekannt wären, wie Marie Darrieussecq, Maylis de Kerangal oder Laurent Mauvignier. Darüber hinaus werden die in Deutschland bisher wenig rezipierten älteren Autoren wie Pierre Bergounioux, Annie Ernaux oder Pierre Michon (zwischen 1940 und 1946 geb.) berücksichtigt. Und schließlich wird mit zwei algerischen Autoren (Kamel Daoud, Boualem Sansal), Léonora Milano aus Kamerun, einer französischsprachigen Schweizerin (Noëlle Revaz) und zwei Belgiern (Lydia Flem und Jean-Philippe Toussaint) auch die sogenannte Frankophonie nicht vergessen, wobei allerdings eingeräumt wird, dem Reichtum und der Diversität dieser Literatur nicht wirklich Rechnung tragen zu können. Das in Le Monde veröffentlichte Manifest Pour une littérature-monde en français2, hatte schon vor zehn Jahren verlangt, die Grenzen zwischen französischer und frankophoner Literatur zu überwinden.

Ein weiteres, in Deutschland „naheliegendes“ und aktuelles Kriterium bildet die Topographie der französischen Gegenwartsliteratur, denn neben Paris ist Berlin in den letzten zehn Jahren zur dauerhaften oder vorübergehenden Residenz von Schriftstellern wie Marie NDiaye, Camille de Toledo oder Cécile Wajsbrot geworden. Außerdem wird mit den „Incultes“ (Mathias Énard, Maylis de Kerangal, Mathieu Larnaudie u. a.) auch eine Gruppe berücksichtigt, die in Deutschland noch weitgehend unbekannt ist. Schon mit diesen Kriterien, die einerseits und sinnvollerweise nicht als Ausschluss-Rechtfertigungen gehandhabt werden, die aber andererseits von den Herausgebern ausgelegt werden (müssen), zeigt sich, wie schwer die Auswahl einer notwendigerweise begrenzten Anthologie zu begründen ist. Die derzeit wichtigste Anthologie de la littérature contemporaine française von Dominique Viart3, die zu einer Referenz geworden ist, berücksichtigt mehr als hundert Autorinnen und Autoren, wobei es bemerkenswert erscheint, dass elf (Jérôme Mauche, Valérie Rozeau, Martin Rueff, Nathalie Azoulai, Noëlle Revaz, Emmanuel Laugier, Mathieu Larnaudie, Jean-Patrice Courtois, Olivier Rohe, Philippe de Genardière, Alexis Jenni; ich berücksichtige nicht die „Dichter“ und die frankophonen Autoren) der über vierzig in der Horen-Anthologie vertretenen Romanciers bei Viart, der seine Auswahl ebenfalls zu rechtfertigen versucht, nicht auftauchen.

Schließlich werden unter Bezug auf den Titel des „gegenwärtigen Zustandes der Welt“ bestimmte Themen privilegiert: „Vergänglichkeit und Tod“, „Krieg, Gewalt und ihre Auswirkungen“, Geschlechterverhältnisse“, „Flucht und Rassismus“, „psychische Zustände“ und „historische Ereignisse“ (5). Was auffällt, dass die für die französische Literatur so wichtige Auseinandersetzung mit der Shoah als solche keine Rolle spielt, dementsprechend sind auch Autoren wie Laurent Binet, Yannik Haenel oder Ivan Jablonka in der Anthologie nicht vertreten. Eine andere Entwicklung, die „Kriminalisierung“, die seit Didier Daeninckx den französischen Roman prägt, d. h. das Eindringen von Verfahren des Kriminalromans in die allgemeine Romanliteratur, taucht ebenfalls kaum zufällig auf. Auch die so wichtige Wiederentdeckung des „sozialen“ Zustandes der Welt, etwas die Banlieue-Literatur angeht, spielt keine wichtige Rolle, und nicht anders verhält es sich mit den Medienspielen und Medieneinflüssen im Gegenwartsroman, angefangen mit Jean Echenoz der ebenfalls in der Anthologie nicht vertreten ist, bis zu Jean-Philippe Toussaint und Tanguy Viel. Ebenfalls nicht aufgenommen in die Anthologie wurden so wichtige und stilistisch wie thematisch einflussreiche Autoren wie Pascal Quignard oder Valère Novarina.

Natürlich ist es immer leicht, einer Anthologie unberücksichtigte Autoren vorzuhalten. Aber die schönen, den Autoren und ihren Auszügen entnommenen sieben Zwischentitel von „Liebe zur Wahrheit oder fruchtbare Faktenversessenheit“ (Jean-Philippe Toussaint, 14) bis zu „Schreiben heißt, eine Landschaft erstellen“ (Maylis de Kerangal, 226), die die Anthologie gliedern, gestatten gerade wegen ihrer Poetizität nicht wirklich, die Zuordnung der Autoren und Auszüge nachzuvollziehen. Dazu wären knappe einleitende Hinweise zu jedem Autor/Text, wie etwa bei Viart, hilfreich gewesen. Und man hätte gern gewusst, aus welchen Gründen auf die ebenso unterschiedlichen wie die Gegenwartsliteratur prägenden Autoren wie Houellebecq oder Reza, Echenoz oder Quignard, Novarina oder Despentes verzichtet worden ist.

Der Band wird beschlossen durch einen Essay des Literaturwissenschaftlers Dominique Rabaté (Paris VII), des neben Dominique Viart wohl wichtigsten und besten Kenners der französischen Gegenwartsliteratur. Wenn er den zeitgenössischen französischen Roman als „Modulation“ eines „säkularen Paradigmas“ bezeichnet, nämlich des realistischen Romans im Sinne der Theorie des Romans von Georg Lukács, so betont er damit gleich zu Anfang die „Wende“, die der französische Roman seit den 1980er Jahren vollzogen hat. Zurecht geht er dabei einleitend auf Houellebecq ein und verweist zugleich auf „eine andere Erzählweise parallel in einer paradoxen Bewegung“, wie er sie mit Jean Echenoz und Pascal Quignard gegeben sieht, in der das „Motiv des Verschwindens“ (264) zur Signatur der Gegenwartsliteratur wird. Und er versäumt es nicht, auf Virginie Despentes (der erste Band ihrer Bestseller-Trilogie Vernon Subutex ist soeben in deutscher Sprache bei Kiepenheuer & Witsch erschienen) als gegenwartsgemäße Comédie humaine eines Zusammenlebenswissens hinzuweisen, also das soziale und gesellschaftsdiagnostische Engagement des heutigen Romans hervorzuheben „Wenn diese Gefahr [die de Nabelschau und des Narzissmus] je wirklich bestanden haben sollte, so scheint sie nun ferner zu rücken“ (266), d. h. die Epoche, in der in Frankeich „nichts mehr los mit der Literatur“ war, ist definitiv vorüber. Dafür führt Rabaté als Belege u. a. Tanguy Viel (Article 353 du code pénal), Patrick Deville (Peste & choléra) oder Alain Damasio (La horde du contrevent) an: bei denen die sozialen Hoffnung und das Scheitern, die koloniale Expansion und ihre Zerstörungen oder eine „Neuinterpretation der Science Fiction“ Reaktionen auf „die Krise einer Welt“ (268) und das Erbe des 20. Jahrhunderts darstellen.

Eine Anthologie kann und sollte keine Geschichte der französischen Gegenwartsliteratur sein. Sie sollte, und aus dem Anlass von Frankreich als Gastland der diesjährigen Buchmesse noch umso mehr, bei den Lesern Interesse an dieser noch weitgehend unbekannten Literatur wecken und andeuten, welches „plaisir du texte“ mit dem Lesen der entsprechenden Texte verbunden sein kann. Man kann der Auswahl das große Kompliment machen, fast ausnahmslos Texte aufgenommen zu haben, deren Lektüre Vergnügen bereitet, da sie uns mit einer je eigenen „Sprache“ konfrontieren, „die sich immer neu erfindet und neu belebt“ (Rabaté, 270). Eine besondere Attraktion besteht zudem darin, dass ein Viertel der Texte bislang unveröffentlicht sind. Es wäre zu wünschen, dass die Anthologie den einen oder den anderen Verlag dazu bewegen kann, einige der zu Unrecht unbekannten Autorinnen und Autoren zu übersetzen. Die beiden Herausgeber helfen mit dieser Anthologie, „eine aktuelle, reflektierte Literatur jenseits alter Klischees der selbstbezogenen Verspieltheit [s. 1989, W. A.] zu entdecken“ (5). Es ist bedauerlich, dass in einer Zeit, da sich die beiden Länder und Kulturen so gut zu kennen und zu verstehen glauben wie selten zuvor in der Geschichte, das Interesse an der Literatur des jeweils Anderen in den letzten Jahrzehnten sichtbar nachgelassen hat. Weder verkauft sich die französische Literatur gut in Deutschland noch die deutsche gut in Frankreich. So wichtig die Öffnung hin zu dem ist, was Ottmar Ette die Literaturen der Welt4 nennt, sollte darüber die Literatur des wohl immer noch wichtigsten Nachbarn nicht zu einer unter anderen werden. Dazu leistet die Anthologie einen wichtigen Beitrag, und dafür gebührt den Horen, den Herausgebern Cornelia Ruhe und Jérôme Ferrari, sowie den Institutionen, die dieses Projekt gefördert haben (Centre national du Livre; Goethe Institut, Institut Français Deutschland) großer Dank.


  1. Petra Metz und Dirk Naguschewski, Hrsg., Französische Literatur der Gegenwart: ein Autorenlexikon (München: Beck, 2001).
  2. „Pour une ‚littérature-monde‘ en français“, Le Monde des Livres, 15. März 2007, http://www.lemonde.fr/livres/article/2007/03/15/des-ecrivains-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-le-monde_883572_3260.html.
  3. Dominique Viart, Hrsg., Anthologie de la littérature contemporaine française (Paris: Colin, 2013), 292 S.
  4. Ottmar Ette, WeltFraktale: Wege durch die Literaturen der Welt (Stuttgart: Metzler, 2017).

 

Offline lesen: