Das arthurische Prosakorpus im Lichte der augustinischen Zwei-Staaten-Lehre

Beiträge, Französisch

Friedrich Wolfzettel, „Das arthurische Prosakorpus im Lichte der augustinischen Zwei-Staaten-Lehre“, zur Publikation in Romanische Studien 7 (2017)


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Das arthurische Prosakorpus im Lichte der augustinischen Zwei-Staaten-Lehre

Friedrich Wolfzettel (Frankfurt am Main)

Servane Rayne-Michel, La Table Ronde et les deux cités: pour une lecture augustinienne des cycles arthuriens en prose du XIIIe siècle, Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 117 (Paris: Champion, 2016), 733 S.

Die umfangreiche, oft betont detaillierte Studie soll und kann hier nicht im Einzelnen referiert werden. Sie schlägt eine moderne Lektüre des arthurischen Prosakorpus im Lichte der augustinischen Zwei-Staaten-Lehre vor – wohlgemerkt nicht im Sinne historischer Rezeption, sondern einer „lecture herméneutique contemporaine“ (12) „en termes […] d’analogie et de participation“ (13). Auf den Spuren von Jean Frappier, Francesco Zambon, Michel Zink, Jean-René Valette u. a. umkreisen die neun Großkapitel (in drei Teilen) die „poétique du sacré“[1], die sich aus der neuen heilsgeschichtlichen Perspektive, der Mystik der Table Ronde (639 ff.) und der ambivalenten Beziehung von „cité terrestre“ und „cité de Dieu“ (631 ff.) in der sich auserwählt wähnenden Adelsgesellschaft der Gralsromane ergibt. Tatsächlich geht es in dem Prosa-Korpus ja darum, den Makel der bloßen fabula der matière de Bretagne abzustreifen und dem Artusroman „une semblance d’histoire du salut“ (360) mit der Suite Vulgate als „une sorte d’ancien testament de l’histoire arthurienne“ (291) und dem Christus ähnlichen Propheten Merlin als Garant von „auctorité“ (34) – zu verleihen: „définir le statut du roman comme nouvelle histoire sainte“ (286). Ein Prozess, der – mit Blick auf Buch XVII und XVIII von De Civitate Dei – bekanntlich programmatisch von Robert de Boron eingeleitet wurde. Die Rolle Merlins und das Verhältnis von Prophétie und Providence (vgl. Teil II, Kap. VI) bilden denn auch sozusagen die eine Säule der Argumentation, während das Problem von Willensfreiheit und Vorsehung zu den Formen der „contingence nécessaire“ (280), dem Begriffsbereich von Abenteuer, Zufall, Schicksal und Fortuna, hinüberlenkt, die die Vf. vor allem in La Mort le roi Artu gebündelt sieht, um scheinbar gegen Augustinus’ Kritik des fatum-Begriffs gerichtet, letztlich aber im Sinne seines aus der Erbsündenlehre gespeisten, negativen Providentialismus eine neue Form des Tragischen im Mittelalter zu postulieren. Es ist offensichtlich, dass die Konzentration auf diese beiden Aspekte – die Mort Artu bildet Anfang und Ende der Argumentation – das auf den ersten Blick beunruhigend breite thematische und inhaltliche Spektrum geschickt strafft und bündelt.

Das Vorgehen der Vf. wird sehr schön gerade in den Überlegungen zum Abenteuer- und Providenz-Begriff deutlich. Nach den – hier nicht weiter zu referierenden – einleitenden Kapiteln über Augustinus geht es nämlich um das Wiederaufleben des Fortuna-Begriffs (nach Boethius) im 12. Jh. und das ritterliche Abenteuer als Erbe der antiken Fortuna. Unter der Formel „le plaisir de Dieu“ (178 ff.) kann die errance danach als Teil des göttlichen Heilsplans und als „déléguée de la Providence“ (273) begriffen werden, besteht doch die Paradoxie des Abenteuers darin, dass der notwendige Zufall zugleich die Passivität und den aktiven Respons des Handelnden voraussetzt. Ausgehend von den Analysen Erich Köhlers sieht die Vf. im Abenteuer den Versuch, „pour dire l’aléatoire et le contingent“ (175) – freilich nicht im Kontext sozialer Rollenproblematik, sondern – augustinisch – „pour réaliser un projet divin“ (275). Das Ende der Abenteuer in der Queste öffnet daher paradoxerweise erneut „le champ à l’aventure profane, terrestre, imparfaite, des chevaliers pécheurs“ (286), welche die Voraussetzung des tragischen Untergangs in La Mort Artu ist und den Triumph des postulierten „discours clérical“ nicht in der Queste, sondern eben hier (661) verankert. Die ‚Erbsünde‘ des Artusreiches, sowohl in Bezug auf die Vorgeschichte um Uter Pendragon wie auf Artus selbst, erfordert die Legitimierung der geschichtlichen Ereignisse durch den – augustinisch begriffenen – „discours clérical“ (590) – man möchte hinzufügen im literalen wie im allegorischen Sinn, wie es mehrfach in De Civitate Dei heißt. Das von Valette mit Bezug auf Robert de Boron geprägte Stichwort der hybridation dient dazu, die Dialektik des Irdischen und des Mystischen (639) unter eschatologischen Vorzeichen zu sehen (647). Nach der Vf. besteht die Rolle des Propheten Merlin eben in der Aufgabe, das ungeordnete Abenteuer- und Ereignisschema mit der literalen Konzeption der Eschatologie in Übereinstimmung zu bringen. (539)

Das Stichwort Harmonisierung kennzeichnet freilich das Bemühen dieser ebenso anregenden wie zuweilen insistenten Arbeit, augustinische Positionen mit der adligen Standesgesellschaft der Table Ronde zu vermitteln. Natürlich gilt das berühmte „non posse non peccare“ der Erbsündenlehre auch hier, aber was soll es heißen, dass jedes Handeln schuldig macht und dass: „D’une certaine manière on pourrait dire que le tragique est inhérent au statut du héros.“ (455)? Ist die Vorstellung, dass Sünde die Negation ritterlicher Tugend ist, und dass ritterliches Handeln der Gnade bedarf, gattungsspezifisch? Nach der Vf. entfaltet der Roman „les fondements d’un tragique romanesque“ (368) im Sinne der Sündenfalllehre am Einzelschicksal, für das der Begriffsbereich der mescheance (381ff.) an die Stelle des fatum tritt. So wird der Balaain der Suite Vulgate einmal als „une sorte d’Adam romanesque voué à la chute“ (547) charakterisiert. Und welchen Bezug sollen die skizzierte „théologie aristocratique de la prédestination“ (528) und das adlige Auserwähltheitsdenken (vgl. 526) zur Prädestinationslehre Augustins haben, der in De Civitate Dei denkbar unelitär argumentiert?

Doch vielleicht ist eine vollkommen geschlossene Argumentation im Sinne der am Ende des Buches beschriebenen „approche empathique“ (665) weder wünschenswert noch notwendig. Was sich stellenweise wie eine Summe der bisherigen Forschung zum Thema liest, enthält trotz aller offenen Fragen auch eine Fülle von Anregungen und neuen Einsichten. Wenn die Artusromane, wie die Vf. abschließend schreibt, „par leur construction d’ensemble, peuvent être lus comme un long effort de dévoilement“ (667) und nur eine Gesamtlektüre dieses Design offenbart, dann ist dieser Versuch einer konsequent augustinischen Lesart zugleich das großartige Angebot einer nicht nur ganzheitlichen, sondern auch sukzessiv entfalteten Sinnperspektive auf die Finalität einer heilsgeschichtlichen Konstruktion, wie sie in dieser Konsequenz nie zuvor oder danach in der abendländischen Literatur umzusetzen versucht wurde. Man wäre versucht, von einer zweiten, diesmal fiktionalen Civitate Dei zu sprechen, in der – ähnlich wie bei Augustinus selbst – weniger die Stimmigkeit der Einzelaspekte entscheidet als das großartige, vielleicht auch obsessiv Narrativ einer – hier nicht angesprochenen – Krise der ritterlichen Kultur, die im Rückgriff auf die schicksalhafte und wohl auch problematische Rolle des spätantiken Denkens von Augustinus fiktionale Gestalt annimmt.

  1. Michel Zink, Poésie et conversion (Paris: PUF, 2003), 252

 

Ill.: King Arthur’s knights, gathered at the Round Table to celebrate the Pentecost, see a vision of the Holy Grail. The Grail appears as a veiled ciborium, made of gold and decorated with jewels, held by two angels. From folio 610v in BNF Fr 116, ordered by Jacques d’Armagnac.

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