Distant und Close Reading

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Nanette Rißler-Pipka, „Zwischen Distant und Close: Moretti, Literaturwissenschaft und die Digital Humanities“, Rezension zur Publikation in Romanische Studien 7 (2017)

Vorabdruck der Rezension


Zwischen Distant und Close

Moretti, Literaturwissenschaft und die Digital Humanities

Nanette Rißler-Pipka

Franco Moretti, Distant Reading (Konstanz: Konstanz University Press, 2016), 220 S.

Kaum ein anderer Titel hat seit seinem Erscheinen 2013 im englischsprachigen Original eine derartige Welle im Bereich der geisteswissenschaftlichen Sekundärliteratur und noch genauer in der Literaturwissenschaft schlagen können wie Morettis Distant Reading. Der Titel hat sich zu einem eigenständigen Fachbegriff für eine Methode entwickelt, die Grundbegriffe des Faches in Frage stellt oder eher in provokanter Weise in Frage zu stellen scheint. Dies ist sicher auch der Hauptgrund für die Nicht-Übersetzung des englischsprachigen Titels in der deutschsprachigen Ausgabe, die jüngst von Christine Pries vorgelegt wurde. Der Übersetzerin ist es gelungen, die Verve, den polemischen Tonfall und die Leichtigkeit ins schwerfälligere Deutsche zu retten. Das Erscheinen der Übersetzung hat unmittelbar zu neuen deutlichen Rezensionen prominenter Literaturwissenschaftler wie Lamping (Mainz) geführt. Es schien die abendländische Kultur bedroht, von einem Italiener in Amerika, dem nichts heilig ist.

Mit etwas mehr zeitlicher Distanz, ganz im Sinne eines „distant reading“, soll hier der Versuch einer nüchternen Pro- und Kontradebatte gewagt werden: Welche Anregungen Morettis lassen sich nutzen und haben sich bereits in die Literaturwissenschaft integriert, und welche Argumentationen sind wissenschaftlich bedenklich? Denn Morettis grundlegendes Problem beruht auf einer fehlenden Distanz – nicht zum Gegenstand – sondern zur eigenen Methode. Unbestritten ist jedoch die Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Methodenpools, dessen ernst zu nehmenden Konsequenzen sich in einem Zweig der Digital Humanities, der digitalen Literaturwissenschaft, gerade erst abzeichnen. Moretti hat die Methoden der quantitativen Analyse für die Literatur nicht erfunden, aber sein Verdienst ist es, ihnen Aufmerksamkeit im gesamten Fach und darüber hinaus verschafft zu haben.

Letzteres gelingt Moretti durch seinen belesenen aber dennoch niederschwelligen Stil, dem er gleichzeitig provokativ methodisch die Grundlage entzieht. Der Inhalt des Bandes ist sicher auch dem deutschsprachigen Publikum, das sich für das Thema interessiert, längst bekannt, denn es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen, die ursprünglich zwischen den Jahren 1991 bis 2010 entstanden sind. Den Reiz des Neuen gewinnt die Aufsatzsammlung durch die kurzen kursivierten Einschübe, die Moretti selbstreflexiv, aber auch mit einer gewissen Koketterie, vor die jeweiligen Aufsätze stellt.

Gleich zu Beginn des Buches reflektiert Moretti seinen Schreibprozess. Er schreibt nicht mehr in seiner Muttersprache Italienisch, sondern auf Englisch, obwohl ihm klar ist: „Auf Italienisch fließen die Sätze besser […]. Auf Englisch würde alles anders werden.“ (10).

Insgesamt werden drei große Themenkomplexe zu verschiedenen Zeitpunkten neu betrachtet, die alle unter dem Stichwort der Kanonisierung zusammenfallen: Weltliteratur, (Roman) und deren Eurozentrismus, den er wahlweise mit Darwinismus (Evolutionstheorie) oder Weltsystemanalyse erklären möchte. Bereits die Übertragung des darwinschen Prinzips auf andere Sozialsysteme lag mit der Formel des „Survival of the Fittest“ meist schief. Auch für die Literatur stellt Moretti fest, dass die Evolutionstheorie nicht wirklich passt und ergänzt sie daher mit der Weltsystemanalyse, die auch ihre Schwächen offenbart.

Das ist allerdings gleichzeitig der Charme dieses Buches, dass es den wissenschaftlichen Schaffensprozess offenlegt und auch die Kritiken mit einbezieht. Morettis scharfsinnigster Kritiker Christopher Prendergast führt an, „die Funktionsabläufe in Natur und Kultur [seien] so unvergleichbar, dass die Evolutionstheorie, die entwickelt wurde, um der einen Rechnung zu tragen, unmöglich bei der anderen fruchten kann.“ (126). Moretti möchte dies widerlegen, kommt aber zu der Einsicht, dass die Ergebnisse in Kurven, Karten, Stammbäume dazu nicht ausreichen – ein beachtliches Eingeständnis, das die darauffolgende Betonung der Entwicklung einer neuen Methode umso wirkungsvoller erscheinen lässt. Hier liegt der eigentliche Verdienst Morettis: bei den etwas unsauberen Analysen und noch gewagteren Interpretationen, die er uns anbietet, bleibt doch die Methode, die Renaissance einer quantitativen Literaturwissenschaft mithilfe wachsender digitaler Ressourcen und entsprechender Algorithmen, die entscheidende Innovation. Leider stößt er diesen Umschwung zwar an, setzt ihn dann aber nur halbherzig in den eigenen Analysen um.

Die Metapher des „Distant Reading“ ist dabei zugleich Segen und Fluch. Sie provoziert einen künstlichen Gegensatz und eine Gegnerschaft auf Seiten des traditionellen „Close Reading“, die Aufmerksamkeit garantiert, es aber auch leicht macht, durch Provokationen wie „Wir wissen, wie man Texte liest, jetzt sollten wir lernen, wie man nicht liest“ (50), die Methode grundsätzlich abzulehnen. Warum er den Digital Humanities insgesamt eher einen Bärendienst erwiesen hat, möchte ich an einigen kritischen Details und konkreten Beispielen zeigen:

Weltliteratur

Es gibt vielleicht vier Arten über Weltliteratur zu sprechen. Entweder auf Grundlage einer Theorie oder auf der Grundlage aller in der Welt als Literatur publizierten Texte (schon in der Definition schwierig und zum jetzigen Zeitpunkt trotz Digitalisierung auch schlicht nicht verfügbar) oder auf der Grundlage von Verkaufszahlen des Buchmarktes (auch hier dürfte die Datenlage schwierig für die gesamte Welt sein) oder auf Grundlage des Kanons. Die Klammern deuten es schon an: Ersteres und Letzteres gibt es, die mittleren Möglichkeiten werden von Moretti angedeutet oder gewünscht, sind aber nicht durchführbar. Dabei ist Morettis Argument, dass wir nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Weltliteratur lesen können, für jede/n verständlich: „,Mehr‘ Lesen ist immer eine gute Sache, aber nicht die Lösung“ (47). Die Hoffnung ist, durch Distant Reading die Weltliteratur als „System in seiner Gesamtheit verstehen“ (50) zu können. Dazu müsste man die Weltliteratur als abgeschlossenes und quantifizierbares System betrachten. Dahinter steckt ein Anspruch an Vollständigkeit, der sich auch mit digitalen Mitteln niemals erfüllen lässt. Ein Beispiel einer solchen quantitativen Analyse bringt Moretti im Kapitel „Style Inc.: Überlegungen zu 7000 Titeln (Britische Romane, 1740-1850)“. Schon an der Kapitelüberschrift sehen wir die Einschränkungen: auch hier müssen das Korpus, die historische Zeitspanne und die Region der Welt beschränkt und ausgewählt werden. Der Vollständigkeitsanspruch ist hier wie dort nicht erfüllbar und auch für die Untersuchung ganz unnötig. Trotzdem beharrt Moretti auch in diesem Kapitel auf der Vollständigkeit (vgl. 175) und macht seine interessante Analyse damit angreifbar. Denn die 7000 Titel werden auch für den abgegrenzten Zeitraum kaum das Verdikt der Vollständigkeit für Britische Romane erfüllen. Hinzu kommt, dass Moretti in seinen Visualisierungen nochmals auf das Wesentliche fokussiert und damit anderes weglässt, wie er selbst kritisiert (175).

Was wir an dem Beispiel sehen, ist jedoch, dass Moretti im konkreten Fall eben keine Aussagen über Weltliteratur, aber über Prozesse im Literatursystem und in der Literaturgeschichte für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Region machen kann, die vorher nicht in der gleichen Weise möglich waren. Das Ergebnis selbst, dass im Laufe des Jahrhunderts von 1740–1850 die Titel kürzer wurden und sich je nach Untergattung in bestimmten Merkmalen unterscheiden, ist vielleicht nicht überraschend, aber der Weg, die Methode offenbart einen neuen Aspekt der Literaturwissenschaft. Moretti hat mit einer äußerst simplen Frage nach der Titellänge von Romanen angefangen und ist dann durch die Ergebnisse seiner Experimente zu Verfeinerungen gekommen. Ohne Zweifel sind diese Verfeinerungen bereits ein interpretatorischer Akt, da sie auf dem Interesse des Analytikers begründet sind und die Selektion der Untergattungen nach „Antijakobinisch“ und „Neue Frau“ oder „Schauerroman“ persönlich motiviert ist, aber das Experiment selbst ist reproduzierbar und es ist eine ganz andere Vorgehensweise als von einer komplexen Hypothese auszugehen, die dann vergleichend analytisch an einem oder mehreren Texten belegt wird. Hier liegt das eigentlich Neue und Revolutionäre des Distant Reading: „was eine quantitative Stilanalyse leisten könnte: sich jene sprachlichen Einheiten vornehmen, die so häufig vorkommen, dass wir sie kaum bemerken, und zeigen, wie stark sie an der Konstruktion von Bedeutung beteiligt sind.“ (187). Das bedeutet eine enorme Erweiterung der Literaturwissenschaft, aber keine Aussage über die Weltliteratur an sich oder das, was Moretti Weltliteratursystem nennt.

Vor diesem Hintergrund sind Aussagen aus dem Eingangskapitel wie „Mit dem Mittelmeer verliert die europäische Literatur auch das Abenteuerliche.“ oder „Dabei handelt es sich um die französische Literatur, die einzige Überlebende der ‚Romania‘“ (30) ganz unnötig und weder theoretisch noch quantitativ belegt. Sie laden zur Kritik – vor allem von romanistischer Seite – geradezu ein.

Netzwerke

Schon das Titelbild der deutschen sowie der englischsprachigen Original-Ausgabe ziert ein Personennetzwerk des Shakespeare-Dramas Hamlet. Netzwerkanalysen sind innerhalb der Digital Humanities ein sehr großes Themenfeld, weil sie in den unterschiedlichsten Disziplinen angewendet werden können und dabei auf der gleichen methodischen und theoretischen Grundlage beruhen. Außerdem haben sie im Zusammenhang von Terrornetzwerken etc. eine aktuelle politische Brisanz erlangt, die gemeinsam mit ihrer scheinbar leichten Durchschaubarkeit durch eingängige Visualisierungen wie geschaffen für den Titel von „Distant Reading“ erscheinen. Auch in den Keynotes der jüngsten DHd-Konferenzen (Leipzig 20161 und Bern 20172) wurde zuletzt das Thema Netzwerke und sogar die gleiche Graphik des Moretti-Titels behandelt. Letzteres ist besonders pikant, weil es sich bei dieser Titelgraphik und auch allen anderen im Buch enthaltenen Netzwerkgraphiken, um händisch erstellte, also schlicht gezeichnete Netzwerke handelt, was Moretti auch nicht verschweigt: „Auf bereits existierende Software zurückzugreifen, half auch nichts, weil deren Ergebnisse häufig komplett unlesbar sind. Deshalb sind die Netzwerke in dieser Untersuchung alle von Hand gemacht.“ (195) Inhaltlich kommen Netzwerke und auch die Titelgraphik erst im letzten und damit jüngsten Kapitel des Buches vor. Dennoch bildet es nicht mehr den aktuellen Stand der Forschung ab, die gerade im Bereich digitaler Dramenanalyse schon weiter voran geschritten ist (vgl. die Gruppe DLINA3).

Der große Vorteil von Netzwerkdarstellungen ist, dass sie die Bedeutung von bestimmten Figuren, wie die Protagonisten des Dramas, auf einen Blick darstellen und damit Schlüsselrollen wie diejenige des Horatio im Hamlet sichtbar machen können. Was sie jedoch nicht können, ist, die Frage Morettis zu beantworten: „Wie lässt sich Handlung quantifizieren?“ Denn, wenn auch die Handlung des Dramas sich zumeist im Dialog widerspiegelt, so ist sie doch nicht allein darin zu fassen, wer wie oft mit wem spricht: „Für Theaterstücke funktioniert das gut, weil Worte hier Taten sind, und Taten fast immer aus Worten bestehen“ (208). Nicht ohne Grund geht Moretti selbst über die reine Quantität des Dialogs auf die Inhaltsebene, wenn er fragt, ob Horatio nur „Befehle und Nachrichten“ übermittle (208). Denn im Grunde müsse man nicht nur „Handlung“ (hiermit meint Moretti Dialognetzwerk), sondern auch „Stil“ (Kategorie des Gesagten, z.B. Befehl, Monolog, Wortspiele) mit einbeziehen. Man könnte sich vorstellen, beides durch Annotationen der Dialogarten zusammen zu bringen, aber auf der Mikroebene eines einzigen Stückes, wie Hamlet, das Moretti analysiert, ist mit einer Kombination aus Close Reading und händischer Netzwerkanalyse bereits das gleiche Ergebnis zu erzielen – in einer geschickten Mischung aus „distant“ (Netzwerkansicht) und „close“ (Inhaltskategorie des Gesagten). Würde Moretti seine Ergebnisse in dieser Kompromisslösung aus close und distant darstellen, ginge dies auf Kosten der Provokation, wäre aber vielleicht tatsächlich eine Möglichkeit, die Literaturwissenschaft nachhaltig zu erweitern.


  1. 3. Tagung des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e.V.“, Leipzig 2016, http://www.dhd2016.de.
  2. 4. Tagung des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e.V.“, Bern 2017, http://www.dhd2017.ch.
  3. Digital Humanities and Literary Studies, https://dlina.github.io.

 

Ill.: The Poetics of Non Consumptive Reading

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