Marrakesch und Rabat als Labyrinth

Beiträge, Französisch

Artikel von Beatrice Schuchardt, „Im Labyrinth von Stadt und Text: Abdelkébir Khatibis Triptyque de Rabat und La mémoire tatouée“, im kommenden Heft der Romanischen Studien

Zusammenfassung:
Ausgehend von Abdelkébir Khatibis Essay „A Colonial Labyrinth“ untersucht die vorliegende Studie anhand der Romane La mémoire tatouée (1971) und Triptyque de Rabat (1994) desselben Autors die Stadt als labyrinthische räumliche Konfiguration, in der Stadt und Text, Leser und Romanfigur, Ich und Anderer ununterscheidbar werden. Auf der Basis postkolonialer Theorien spürt die Analyse der Ambivalenz der Stadt als verunsichernden und zugleich nostalgie-behafteten Raum der Postkolonialität nach, deren transmediale Ästhetisierung durch den literarischen Text zu einer Aushebelung der dichotomischen Ordnungsmuster kolonialer Prägung führt. Dabei wird der Schwerpunkt der Analyse auf die Aspekte der Konstruktion urbaner Labyrinthe durch die Dichte eines gleichfalls labyrinthisch anmutenden Textgewebes, auf die Wahrnehmung der Stadt durch die Romanfiguren und die ‚sensuelle‘ Komponente des Labyrinths sowie auf eine Verquickung von kolonialer Vergangenheit und politischer Gegenwart gelegt, die sich ihrerseits im literarischen Topos der ‚Heimsuchung‘ manifestiert.

Aus dem Artikel:

Wie Hans-Jürgen Lüsebrink und Sylvère Mbondari in ihrer Einleitung zu Villes coloniales/Métropoles postcoloniales ausführen, sind nicht-europäische literarische und kinematographische Repräsentationen der Stadt durch einen Willen zum „contre-discours“ geprägt: Sei es, indem sie mit den Mitteln der Fiktion die Widersprüche (post)kolonialer Städte, ihre Abgründe und Konflikte aufzeigen, sei es, indem sie den aus der Kolonialzeit hervorgegangenen Synkretismen und den hybriden Charakter dieser Metropolen hervorheben oder sie, die dritte Variante, den Fokus auf die Abgründe und Konflikte dieser urbanen Zentren legen. Zugleich zeichne sich die literarische und mediale Ästhetisierung von Städten im postkolonialen Kontext durch die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften aus: zwischen „‚co‘ (le cosensuel-convivial-conforme-compénétré, etc.)“, „‚dis‘ (disparate-disséminé-dissonant-disjoint, etc.)“ und „‚trans‘ (transculturel-transgression-transévaluation-transposition, etc.)“. Auch in den Romanen La mémoire tatouée (1971) und Triptyque de Rabat (1994) des marokkanischen Autors Abdelkébir Khatibi erweist sich die Stadt als ein kulturell und historisch vielfach geschichteter Raum, ist also ‚trans-‘ im Sinne von ‚trans-culturel‘. Dieser Raum gestaltet sich in der konkreten körperlichen Erfahrung der ihn durchquerenden Subjekte ebenso lustvoll und nostalgisch – ist also ‚co-sensuel‘ – wie er gleichzeitig abgründig und verunsichernd und somit ‚dissonant‘ bzw. ‚disjoint‘ erscheint. Khatibis Stadtentwürfe erscheinen somit als aus einem poetisch verdichteten Textgewebe entstehende ‚Labyrinthe der Zeichen‘. Die vorliegende Studie spürt der Struktur des Labyrinthes als räumliche Konfiguration, Metapher und konkrete sinnliche Erfahrung des Sehens und Tastens nach.

Khatibis literarische Texte zu erkunden bedeutet für den Leser, die lineare und teleologische Bewegung auf ein bestimmtes Ziel hin zu verabschieden, und sich stattdessen auf eine Bewegung der Simultaneität einzulassen, die verschiedene Ebenen eines palimpsestischen Textes gleichzeitig tangiert. Khatibis Konzeption des Labyrinths unterscheidet sich deutlich von architektonischen Labyrinthen nach europäischem Verständnis: Wenn diese mit der Dialektik von Sackgasse und Ausweg spielen, so ist die Desorientierung des Passanten dort lediglich eine Etappe auf einem Weg, der auf den Ausgang als unausweichliches Ziel gerichtet ist, und der letztlich Erlösung vom Zustand der Verwirrung verspricht. Bei Khatibi hingegen dominiert die Lust an der Bewegung selbst. Die durch die poetische Dichte seiner literarischen Texte entstehende Verwirrung wird nicht etwa aufgelöst, sodass es zu einer Aufhebung des Zustands der Desorientierung käme. Vielmehr liegt der Lustgewinn bei Khatibi in der Verwirrung selbst: Durch das permanente Touchieren eines ‚Reichs der Zeichen‘ im Barthes’schen Sinne, ein Reich, das nicht durchdrungen oder durch Sinnzuschreibung überwunden werden kann, feiern Khatibis Texte die Momenthaftigkeit des Ereignisses und attackieren somit das Symbol als ‚semantische Operation‘. Damit bewegen sie sich eng am Textverständnis Roland Barthes‘, wie dieser es etwa in Bezug auf das Haiku formuliert.

Khatibis labyrinthische Texte lassen in den Romanen La mémoire tatouée und Triptyque de Rabat ihrerseits Stadtlabyrinthe entstehen, die insofern als „Zeichen-Städte“ zu bezeichnen sind, als dass sie nicht etwa auf Marrakech oder Rabat als reale Städte bezogen wären oder diese mimetisch abzubilden suchten. Sie sind vielmehr vertextete und poetische Versionen dieser postkolonialen Metropolen.

Mehr im kommenden Heft der Romanischen Studien

Ill.: Kasbah, Sousse, Tunisia

Offline lesen: