Rom rückwärts

Beiträge, Italienisch

Fabien Vitali, „romA: Neue Perspektiven auf die europäische Ur-Sache“, Rezension erscheint in Romanische Studien 7 (2017)

Rezension von: Judith Kasper und Cornelia Wild, Hrsg., Rom rückwärts: europäische Übertragungsschicksale (Paderborn: Fink, 2015), 252 S., 10 s/w Abb.


Vorabdruck der Rezension:

romA: Neue Perspektiven auf die europäische Ur-Sache

Fabien Vitali (Hamburg/Rom, 2017)

Der dritte Teil von Fellinis Roma (1972) wird eröffnet mit der Frage „E la Roma di oggi? Che effetto fa a chi arriva per la prima volta?“ – das Rom von heute, welche Wirkung hat es auf jemanden, der dort zum ersten Mal ankommt? Die Antwort auf diese Frage soll, so Fellinis Idee, ermittelt werden in einer Annäherung über die berüchtigte A90, der „unausweichliche“ Autobahnring, „der die Stadt wie ein Ring des Planeten Saturn umfasst“. Eine Autofahrt, oder genauer, die Perspektive eines Rom-unerfahrenen Autoinsassen gereicht hier zum explizit inszenierten Mittel, die Ur-Erfahrung Roms nachzuleben.

Die circa zehnminütige Sequenz verarbeitet Fellinis persönliches Zusammentreffen mit Rom in Form eines (fiktiv) empirischen Erlebnis: Sie reproduziert die Wahrnehmung eines Beobachters, der angesichts des beobachteten Gegenstandes zusehends überwältigt wird, den Überblick und damit seinen Subjekt-Status verliert. Tatsächlich entspricht der Fahrt in Richtung Stadt bei fortschreitender Dämmerung ein Crescendo unerwarteter und zusehends grotesker, ja unheimlicher Erscheinungen: Zwischen bürgerlichen Fahrzeugen, LKWs mit kaum gesicherter Ladung, karnevalesk geschmückte Fan-Bussen (Napoli), drängen sich klapprige Kleintransporter, von ciociari geschobene Handwagen, durchgebrannte weiße Pferde; zwielichtige Gestalten stehen am Straßenrand, hinter verregneten Fensterscheiben zeichnen sich, verzerrt und gespenstisch, die Silhouetten der Fahrzeuginsassen ab; ein umgestürzter Viehtransport behindert den Verkehr, Feuer markiert die bedrohlich anmutende Unfallstelle …

Der vierspurige Autobahnring, für den Reisenden „unvermeidbar“, also einzig möglicher Zugang zu Rom, ist ein Ort trunkener Vielfalt. Und gerade als solcher verweist er auf den Zielort selbst, auf ein „Rom-Saturn“ – eine jegliche Ordnung aufhebende Dimension; ein Schauplatz permanenter Saturnalia. Die Reise zur urbs trägt eine initiatische Bedeutung: Sie wird zur Katabasis, zum Einstieg in einen Raum, der eben sprichwörtlich überwältigend, das heißt, rational nicht mehr eindeutig zu verwalten, da einer grundlegend anderen Logik verpflichtet ist. Im Zentrum dieses anders logischen Raums, zu dem der Reisende im Sog des Verkehrs unweigerlich hingezogen wird, steht: das Kolosseum, der institutionalisiert-metaphorische Mittelpunkt jeder Rom-Erfahrung. Wie Fellini nahelegt, handelt es sich aber um eine in vieler Hinsicht ambivalente Metapher: Ist das Kolosseum einerseits die konventionellste aller Figuren Roms, so ist es andererseits – wie bildlich suggeriert wird, indem die monumentale Ruine, von innen dunkel leuchtend, von hupenden Autos regelrecht umzingelt erscheint – ein dunkler, unerreichbarer und dennoch Alle- und Alles anziehender Kern. Das Symbol einer glorreichen, aber nur mehr musealen Vergangenheit (oder faschistischer Utopie) offenbart sich hier als Ort einer gleichsam bedrohlichen und unwiderstehlichen Kraft, um die sich alle wie in einer nie zu Ruhe kommenden Bewegung im Kreise dreht. Rom, und sein dunkles Herz, das Kolosseum, birgt eine geheimnisvolle Ur-Sache, die vom (klein-)bürgerlichen Alltag eingekreist und doch völlig entrückt ist, gleichsam in diesen hineinwirkt und ihn mechanisch bestimmt.

Im hier zu besprechenden Band spielt Fellini keine Rolle. Aber sein Versuch, Rom filmisch zu bewältigen – nämlich in Bildern, die es als einen Ort einer begrifflich nicht reduzierbaren Konvergenz von (kultureller) Identität und Alterität inszenieren – liefert ein geradezu exemplarisches Korrelat zu den einleitenden Beobachtungen der Herausgeberinnen, Judith Kasper und Cornelia Wild, zur Bedeutung der „Referenz Rom“[1]. Deshalb: Sollte sich der Leser in den folgenden Erörterungen verlieren, so wie sich der Rezensent – allerdings zu seinem Vorteil – im Band von Kasper und Wild verloren hat, dann ist er gebeten, ihnen die oben kurz umrissene Sequenz aus Fellinis Film als Einführung und Kommentar vorzuziehen[2].

In den 35 unter dem Titel Rom rückwärts veröffentlichten Studien, geht es darum, Rom „gegen den Strich“ (13) zu lesen. Ausgehend von einer Auswahl von Texten aus dem Fundus der europäischen Geistesgeschichte (von Plutarch bis Derrida), soll Rom als eine im abendländischen Diskurs allgegenwärtige, ja „unentrinnbare“ (12) Idee neu beleuchtet werden. Neu, das bedeutet zunächst einmal, dass Rom nicht mehr nur auf der Objektebene, sondern als metaphorische Grundlage, als zentrale Figur des abendländischen Denkens verstanden wird – frei nach der Erkenntnis, wonach es schlicht keine Erkenntnis ohne Übertragung, bzw. Metapher gibt (Derrida: „il n’est rien qui ne se passe avec et par la métaphore“). Rom interessiert in diesem Buch nicht so sehr als Referent (also, das in der Wirklichkeit existierende Kolosseum). Vielmehr ist es ein mentaler Habitus, eine Denk-, bzw. „Lektürebewegung“ (15) (die Art und Weise, in der das wirkliche Kolosseum sprachlich oder bildlich vermittelt wird). Ja mehr noch: Rom ist eine im Akt des Referierens selbst unweigerlich mitinbegriffene Bedeutung.

„Denn Rom“, so heißt es im Vorwort, „ist nicht nur allgegenwärtig in der Praxis seiner Referentialisierung, sondern Rom ist Referenz par excellence“ (11). Dieser Umstand hat allerdings eine reale Vor-Geschichte, wie in einigen eher knappen Sätzen suggeriert wird. Als Ursprungsort symbolischer Herrschaftspraxis lag Roms Größe seit jeher nicht nur in militärischer Kraft, sondern auch in „Akte[n] der Übertragung mittels Übersetzung“ (12) und im Anspruch auf den Status einer „Référence souveraine“ (12) begründet. Rom war de facto die Verwalterin und das Zentrum einer symbolischen Ordnung, die es ständig zu referieren – übersetzen, hinaus- und zurückzutragen – galt. Das macht es zum Bezugspunkt eines absoluten Bedeutungshorizonts. Und als solcher blieb es auch jenseits seiner historischen Bedeutung wirksam. War Rom also eine Art geschichtliches Zentrum des Logos, so ist es noch heute dessen Figur: der metaphorische Ort von Sinnpräsenz. Woraus sich ergibt, dass Rom der Philologie in all ihren praktischen Aspekten – „Übersetzen, Auslegen, Hören, Lesen, Interpretieren“ (13) – unweigerlich innewohnt. „Jede Referenz“ sei letztlich „eine Referenz auf Rom“ (13).

Hiervon bleibt die Studie selbst freilich nicht unbehelligt. In Rom rückwärts liegt tatsächlich eine Art konzeptuelle mise en abyme, im Sinne einer Rom durch die alleinige Geste des Referierens auf andere (Rom-referierende) Texte referierende Studie vor. Das klingt verwirrend. Und es wird dadurch nicht klarer, dass man als Leser (oder Rezensent) unweigerlich zur Verlängerung dieser potentiell abgründigen „römischen“ Bewegung wird. Hält man sich an dessen theoretische Prämissen, dann kann die Auseinandersetzung mit Rom rückwärts zum schwindelerregenden, aber durchaus erkenntnisreichen Wandeln durch ein Spiegellabyrinth geraten. Umso mehr als sich die Grundlage der unterschiedlichen hier vorausgesetzten Lektüren, nämlich Rom, dennoch als keine einheitliche erweist. Obschon immanent römisch, bezieht sich doch nicht jeder Rückbezug auf ein-und-dieselbe römische Autorität. Alle Wege führen nach Rom – so viel wissen wir. Im Buch von Kasper und Wild erfahren wir nun, dass aber weder die Wege, noch der römische Zielort identisch sind.

Einige Beispiele der virtuell unzähligen – da zusammen mit dem Zielpunkt ständig sich verschiebenden – Un-/Möglichkeiten, Rom zu erreichen und zu vermitteln, werden hier in Form von Fallstudien gezeigt. Darin erweist sich Rom nicht nur als grundsätzlich „unbestimmbar“. Hiermit zirkulär verbunden ist seine „Unentrinnbarkeit“ (12), die bedingt, dass Rom ein so über die Jahrhunderte hinweg permanenter, aber gleichsam dynamisch sich entwickelnder Gegenstand ist – ein im kollektiven Bewusstsein verankertes Motiv, eine Art Ur-Phantasie der abendländischen Gesellschaft oder, wie Marco Tabacchini im Zusammenhang mit Simone Weil schreibt[3], ein „Deutungsmuster“ (31), das quasi obsessiv immer wieder aktualisiert, auf dessen Grundlage die Welt immer wieder neu befragt wird. In den von den Autor/innen dieses Bandes untersuchten Beispielen, in denen eine (manchmal auch nur sehr flüchtige) sprachlich-logische Beziehung zur Idee „Rom“ vorliegt, lassen sich nun abstrakte Invarianten erkennen – rekurrierende „Textfiguren und -dynamiken“ (15) die ein Rom, jenseits des offiziellen Roms hervortreten lassen.

Aus diesen Invarianten wurden von den Herausgeberinnen die Begriffe oder Begriffspaare zur Gliederung des Bandes in acht Abschnitte hergeleitet: Imperium/Civitas, Umwandlung/Aneignung, Rückläufe, Schrift/Inschrift, Deklinationen/Derivate, Adressierungen, Affizierungen, Latenz/Turbulenz. Anders als bei konventionellen Beispielen mit chronologischem oder thematischem Aufbau, sind die Ordnungskriterien in Rom rückwärts am psychoanalytischen Modell, bzw. an den entsprechenden Erkenntnissen über die Zeichen- und Bedeutungsgesetze des Unbewussten orientiert. Sie entsprechen also dem Versuch, die „latenten Strukturen“ der unterschiedlichen Rom-Bezüge entsprechend der jeweiligen Untersuchungen durch die Mitautor/innen begrifflich zu „reduzieren“ (der Begriff ist allerdings unpräzise). Die anthologisierten Texte erscheinen dadurch wie historische Variationen archetypischer Muster, die durch die Kommentare selbst wieder variiert und damit als Glieder in der virtuell unendlichen Kette der Rom-Referenzen neu belebt werden. Dieses Organisationsprinzip wird nun auf mikrostruktureller Ebene gedoppelt, nämlich durch die ebenfalls allgemein zusammenfassenden Einzelbegriffe, die – mit dem Hinweis auf die jeweils analysierten Autor/innen – die Überschrift zu den jeweiligen Aufsätzen bilden: So folgen zum Beispiel auf den Überbegriff zum sechsten Kapitel, Adressierungen, vier Aufsätze, bzw. vier Titel „Reversio (Lucan)“, „Scham (Paulus)“, „Felisinda (Gracián)“, „Karnevalisierung (Buñuel)“ (9).

Aus diesem abstrakt-assoziativen (aber nicht willkürlichen!) Organisationsprinzip ergibt sich eine Rahmenstruktur, an deren Beispiel die Originalität, aber auch die Herausforderung des Bandes verdeutlicht werden kann. Werfen wir einen Blick auf die Titelstruktur: Die im Vorwort angekündigte Öffnung „neuer Konstellationen und Perspektiven auf das römische Erbe“ (15) wird durch die im Index abgebildeten Begriffe und die vom Leser automatisch versuchte Herstellung einer Beziehung zum Überbegriff (Rom und rückwärts) bereits vorweggenommen. Wohl bemerkt, die nicht unmittelbar transparente Relation zwischen Über-, Untertitel und Fallbeispiel mag auf den unvoreingenommenen Leser suggestiv und vielversprechend wirken – einen nicht-spezialisierten, oder auch, wie Robert Stockhammer in seinem gewitzten Beitrag für den Band schreibt[4], „mittelprächtig gebildeten“ (158) Leser kann sie zunächst vor den Kopf stoßen und vielleicht schon auf den ersten Blick entmutigen. In der strukturbildenden Begriffskombination werden wir jedenfalls auf ein enigmatisches Ganzes verwiesen, auf das wir uns einlassen und zu dem wir wie in einer Art Initiationsprozess hingeführt werden müssen.

Tatsächlich fordert diese Initiation, oder – wie es im Beitrag von Hermann Doetsch zu Rossellinis Viaggio in Italia heißt – dieser Gang in die „Unterwelt der Referenz Rom“ (244)[5], einiges ab. So müssen wir uns zunächst auf eine insgesamt eher extravagante Werkauswahl einlassen – extravagant deshalb, weil der Rom-Bezug darin manchmal nur sehr indirekt, ja manchmal gar nicht, bzw. nur über die im Kommentar hergestellten, assoziativen Umwege gewährleistet ist. Natürlich kann man der Integration und Diskussion von Beispielen, die mit der Idee Roms nur auf einer Meta-Ebene konvergieren, einen programmatischen Stellenwert zugestehen. Denn gerade die nicht explizit Rom-bezogenen Texte bestätigen die im Vorwort postulierte, „im politischen Körper oder im Gesetz der Buchstaben“ (11) eingeschriebene Allgegenwart Roms. Vor diesem kaum widerlegbaren konzeptuellen Hintergrund muss es dem Leser a priori peinlich anmuten, seinem sogenannt gesunden Menschenverstand und damit Frage nach dem Sinn der Anthologisierung von Exzerpten, in denen, wie im bereits zitierten Text von Doetsch, „Rom keine Rolle spielt“ (243), statt zu geben. Noch weniger wird er sich erlauben, zu bedauern, wie viele „Romae“ – von jenem des eingangs zitierten Fellini, zum Rom von Pasolini, zurück zum Rom Oswald Spenglers, bis hin zum anagrammatisch-verdichteten Rom eines Durs Grünbein – theoretisch hätten besprochen werden können.

Dabei liest sich Rom rückwärts an manchen Stellen durchaus wie eine spannende Anthologie unterschiedlichster Text- und Bildauszüge, die von den jeweiligen Erläuterungen auch unabhängig zugänglich und im Hinblick auf ihren manifesten und latenten Rom-Bezug nachvollziehbar sind. Die entsprechenden Kommentare übernehmen in diesem Fall nicht nur eine einführende, sondern eine die Lektüren und Mutmaßungen der Leser dialogisch erweiternde Funktion ein. Hierfür nur zwei, im Ansatz wohl bemerkt, sehr unterschiedliche Beispiele: Zum einen die Lektüren, insbesondere zu Zolas Rom, von Barbara Vinken[6] – eine fein zu lesende Nacherzählung, die Zolas topisch-disphorische Darstellung Roms im Kontext eines Plädoyers für eine translatio von Rom nach Paris, zwar in einer gewissen Distanz zum Text, aber dafür in einer umso angenehmer unaufdringlichen Weise kommentiert; zum anderen Judith Kaspers Lektüre von Freud[7], in der ähnlich konstruktive Proportionen zwischen Zitat, Veranschaulichung und Analyse vorliegen, wobei gerade letztere Komponente ungleich stärker gewichtet ist, das heißt, unmittelbare Nähe zum Text voraussetzt und damit dem radikal-philologischen Postulat folgt, wonach die rhetorische Gestalt des Textes („die Struktur der Referenz“ (12), wie es im Vorwort heißt) selbst eine Quelle offener Bedeutung jenseits der vom Autor intendierten ist. Diese im ganzen Buch geltende Voraussetzung, führt in diesem Fall allerdings nicht zu dunklen Abstraktionen. Im Gegensatz zu anderen Fällen, werden bei Kasper die feinsten Diskontinuitäten, die Risse in den Textgebäuden nicht auf Anhieb vergrößert und wie Scharten, die einen Ausblick ins Nichts gestatten, behandelt. So wird in Kaspers Kommentar die bekannte freudsche Analogie zwischen Rom und dem psychischen Apparat zunächst gut nachvollziehbar, anhand textbegründeter Fragen erörtert und erst in einem zweiten Schritt in Einzelteile zerlegt und über den im Text manifesten Sinn hinausgetragen. Kasper beleuchtet den Auszug aus dem Unbehagen der Kultur im Licht eines sowohl biographisch als auch epistemologisch bedeutsamen Agon Freuds mit der Idee Rom. Sie zeigt, wie seine Rom-Metapher, also eine „Bedeutungs-Übertragung“, selbst zum Dispositiv einer „Übertragung“ im psychoanalytischen Sinn, also einer „sich selbst stets verfehl[enden]“ (241) und dadurch bedeutsamen Wiederholung gerät. Paradoxerweise ist es genau diese Tropen-immanente Dynamik einer steten Verschiebung, die Freuds Rom gegen und dennoch ganz in seinem Sinn bedeutsam macht – genau wie die Psyche ist Rom ein Ort der „Einschreibung mehrfacher Bedeutung“ (241) und wie die Psyche ist Roma, entsprechend der suggestiven Kraft seiner Anagramme, in sich gespannt zwischen amor und civitas, zwischen „Triebanspruch und Zivilisation“ (236). Von Freud selbst als unzulänglich verworfen, rehabilitiert Kasper dessen Rom-Analogie und veranschaulicht damit, nicht zuletzt, die im Vorwort diskutierte Eigenschaft der Referenz Roms, „ständig wieder[zu]kehr[en]“ (15).

Nun gibt es aber auch andere Beispiele, in denen die zitierten Passagen wenig bis keine Autonomie besitzen, da sie aus einem nicht eindeutig erschließbaren Kontext entrissen oder schlicht zu kurz sind. Es kommt hier vor, dass das Pertinenzverhältnis zwischen Referent und Referenzgegenstand fast ganz zu Gunsten des ersten verschoben wird. Rom scheint dann mehr Prätext als Text zu sein – ein Element, das vor allem mit Interesse für den zitierten Autor und sein Denken, weniger im Hinblick auf die, wie Dagmar Stöferle schreibt[8], im „Zwischenraum der Zeilen“ (78) verstreuten, transsubjektiven Aspekte der Referenz Rom erläutert wird. Aber auch da, wo diese im Fokus des Interesses steht, bleibt es dem Leser manchmal vergönnt, einen vom Kommentar unabhängigen Rom-Bezug herzustellen. Er hat hier keine andere Möglichkeit, als sich von den virtuosen Verbindungen, die die Autorinnen und Autoren ausgehend von manchmal sehr dunkel-suggestiven Fragmenten herstellen, verzücken oder verwirren zu lassen (z. B. der einsilbige Ausschnitt aus Quintilians Institutio, zu dem Anselm Haverkamp einen (brillant) verdichteten Abriss über die spezifisch römische Grundierung einer Entwicklung der Tropen- und Figurenkonzeption, die latent nachwirkt und „rückwärts“ in den Theorien Vicos (ricorso) und Baumgartens (figura cryptica) „auf den Begriff kommt“ (105), verfasst hat[9]; oder, noch radikaler, die sibyllinische Zeile, „Mannequin: AMORe avidos inhians in tE“, das von De Saussure kommentierte Proömium aus Lukrez’ De rerum natura, das Cornelia Wild eindringlich erläutert als Beispiel für die in Rom verbreitete und im Wort „Roma/Amor“ quasi begründete, „kulturelle Tradition“ (133) der Anagrammatik[10]).

Weg fällt in diesen Beispielen das anregende Verhältnis der Spannung zwischen Zitat und Lektüre, also zwischen, einerseits, den Textpassagen, die man entsprechend überlieferter Muster zu verorten geneigt ist, und, andererseits, den Kommentaren, welche diese Muster, wie im oben besprochenen Fall Kaspers, unterlaufen und dadurch ein Rom zwischen und hinter den Zeilen ihrer Bezugstexte erscheinen lassen. Die spezifische Herausforderung der Dekonstruktion, nämlich Gewohnheiten zu brüskieren, sie zu ent-gründen und sie auf der Basis einer nietzscheanisch „fröhlichen Wissenschaft“ neu zu denken – dieser Herausforderung halten jene Kommentare eher stand, die einen nicht ex abrupto vor entrückt-logische Gedankengebäude stellen, also nicht von einer bereits im Vorfeld ingeniös de- und rekonstruierten Position, sondern von einem qua Zitat ermittelbaren, traditionellen Standpunkt aus argumentieren. Konkret: Die hier versammelten dekonstruktivistischen Lektüren werden da zum (kognitiven) Erlebnis, wo ein konventionelles Referenzsystem mitsamt seinen beruhigenden Begrifflichkeiten zunächst aufgerufen und dann Schritt für Schritt unterlaufen wird – so wie es in der eingangs geschilderten Sequenz aus Fellinis Roma geschieht, wo die Stadt, je mehr wir uns dieser auf der Autobahnzufahrt nähern, umso dunkler und unheimlicher erscheint.

Genau diese paradoxe Dynamik zwischen Nähe und Ferne, zwischen Vertrautheit und Fremdheit, scheint Rom, also ein Ort, der gleichzeitig auch ein oder mehrere andere Orte ist, eigen zu sein – ein Umstand, dem auch die vielen paradoxen Sprachfiguren geschuldet sind, auf die in den Kommentaren immer wieder zurückgegriffen wird. Es sind tatsächlich die einzigen rhetorischen Mittel, die der logischen Herausforderung Roms beizukommen im Stande sind. An dieser Stelle aber bietet es sich nun an, dass wir uns vorübergehend von den Einschätzungen zur Form von Rom rückwärts ab- und den im Band vorausgesetzten, formbestimmenden Auffassungen des Gegenstands wieder zuwenden.

Das Rom, das von den Kommentatoren und Kommentatorinnen freigelegt (bzw. neu er-funden wird) ist nicht nur von Text zu Text verschieden, sodass im Lauf der Lektüre von Rom rückwärts verschiedenste, gegensätzliche, nie identische Rom-Bedeutungen entsprechend eines steganographischen Verfahrens übereinander zu liegen kommen. Die in den Passagen freigelegten „nicht institutionalisierten Dimensionen“ (12) Roms, lassen dieses, wie wir gleich genauer sehen werden, innerhalb ein- und desselben Texts als vielfaches, in sich widersprüchliches Bedeutungskonvolut erscheinen. Die so in Rom rückwärts ausgestellte Multiplikation der Referenzen, bzw. der darin intendierten Bedeutungen lässt den gemeinsamen römischen Bezugspunkt in gleichsam unerreichbare Ferne entschwinden. Kraft des stets sich erneuernden Verweiszusammenhangs erneuert sich auch das Signifikat „Rom“ in jeder einzelnen Referenz. Wie Daniel Hoffman-Schwartz in seinem Beitrag zu Derridas Rom-Bezug schreibt[11], ist die urbs damit als Ort der Sinnpräsenz („phantasmatische Heimat von Philologie“, 164) gleichzeitig ein „Ort der Verschiebungen und Entortungen“ (165). Diese oxymorische Vorbedingung, die Rom zum stets sich verschiebenden Zentrum, zur sich selbst „fortwährend entgründenden (Be-)Gründungsfigur“ (13) macht, kommt nun nicht erst auf der syntagmatischen Achse, also in der Reihe der Rom unterschiedlich bewertenden Referenzen zum Ausdruck – hier negativ vergänglich (Tacitus, Augustinus, Luther, Du Bellay …), da positiv zeitlos (Livius, Curtius), hier gesellschaftlich-politisch exemplarisch (Petrarca, Montaigne), da zivilisatorisch verwerflich (Weil), hier ästhetisch maßgebend (Nietzsche), da ästhetisch steril (Weil, Kittler …), hier „Mutter“ (Plutarch, Kantorowicz, Warburg), da „Vater“ (Weil)… Vielmehr ist die Widersprüchlichkeit Roms, wie bereits angedeutet, in jeder einzelnen Referenz, in der Idee selbst und vorher noch im Signifikanten ROMA angelegt.

Tatsächlich ist jede „Rom-Referenz […] immer schon eine ‚gespaltene‘, bzw. ‚in-sich-gedoppelte‘“ (13). Das Beispiel Freuds bzw. Kaspers hat es bereits gezeigt: In keiner wie auch immer eindeutig intendierten Referentialisierung wird Rom eindeutig referiert: „[W]enn Rom übersetzt wird, wird stets anderes mit übertragen“ (13), wie es in der Einleitung lautet. In jedem Verweis auf Rom schwingen somit Nebenbedeutungen mit – ein „parasitärer Mittransport“ (13) –, die die intendierte Vermittlung je nachdem bewusst oder unbewusst erweitern, schwächen, widerlegen, verfremden. Salopp formuliert: Was auch immer wir über Rom sagen, es kommt immer mehr, Gegensätzliches, anderes dabei heraus. Sprechen wir von Roms imperialer Würde, fragen wir immer auch nach seiner Dekadenz. Sagen wir: Roma eterna, so fragen wir auch: Roma ladrona?! Denn „[d]ie die Referenz Rom konstituierenden Figuren der Gründung und Übermittlung einer geregelten symbolischen Praxis produzieren als Effekte immer auch eine Reihe von Figuren, die dem Herrschaftsanspruch nach Macht und Fortdauer entgegenstehen“ (12). Wobei diese Figuren nicht nur einfache Umkehrungen sind, die in der monumentalen Bedeutung Roms latent mit übertragen werden, im Sinne von freudschen Verneinungen. Die wohl radikalste Form von „Gegenfigur“ ist einer allgemeinsprachlichen Vorbedingung geschuldet – der von Derrida postulierten Unmöglichkeit der begrifflichen Verankerung von Bedeutung (der auf psychoanalytischer Ebene der Befund Matte Blancos von der „symmetrischen Logik“ entspricht[12]). So oder so: „Bedeutungskonstitution [ist] stets auch von unkontrollierbaren Kräften durchwirkt“ (14), wie Kasper und Wild weiter schreiben. Und deshalb konnotiert jede Referenz Inhalte, die, vom Referierenden womöglich gänzlich unbeabsichtigt, erst von den jeweiligen Interpreten freigelegt werden – ein Umstand, der hier insofern sehr bedeutsam ist, weil er Roms Anspruch auf Souveränität unterwandert und es „als Sinngenerator vorübergehend außer Kraft setz[t]“ (14). Roms somit virtuell unendliche Bedeutungsmöglichkeiten de-/konstruieren es gleichsam als Ort der Sinnpräsenz. Oder anders formuliert: Rom widerlegt somit die in ihm selbst begründete Idee einheitlich-transparenter Bedeutung.

Dieses römische Paradox findet sich in mindestens zweierlei Hinsicht vorgezeichnet. Zum einen in den Ursprungserzählungen, das heißt im mythischen Narrativ, welches die Basis aller Rom-Überlieferungen bildet: Denn Roms Gründung, das heißt, der Anspruch auf römische Einheit, konnte nur unter der Bedingung der Aufhebung von Einheit, nämlich eines Brudermords realisiert werden. Zum anderen ist die der Rom-Referenz immanente Spannung aber sinnhaft angelegt in den anagrammatisch fundierten Bedeutungsmöglichkeiten der Buchstabenfolge ROMA (AMOR, MORA, MORS, MemORAre, etc.). Wohl bemerkt ist letztere wie jede lexikalisierte Buchstabenfolge auch jenseits etymologisch oder sprachgenealogischer Kriterien, oder allgemeiner, jenseits des aristotelisch-logischen Kriteriums falsch/richtig wirksam und kann somit auf der Basis seines bloßen Schrift- oder Klangbildes eine virtuell unendliche Reihe von Bedeutungen in Kraft setzen. Veranschaulicht wird dies beispielsweise im Beitrag von Barbara Natalie Nagel zu Luther[13], der sich auch aufgrund der klanglichen Qualität des Wortes Rom, bzw. den „Exkrementalcharakter“ des Vokals O, zur (für Luther) bedeutsamen Assoziation mit dem deutschen Wort „Rahm“ (gesprochen „Rom“), einem veralteten regionalen Begriff für „Ruß, Schmutz“ veranlasst fühlt.

Eine aufschlussreiche Veranschaulichung der somit doppelt aporetischen Grundstruktur der Referenz Rom liefert Gianluca Solla mit einem Beitrag[14], der den Band aus nicht zuletzt diesem Grund sinnvollerweise eröffnet – und mit dem diese Besprechung nun rückwärts beendet werden soll. In seiner Lektüre der Vitae parallelae, zeigt Solla, wie Roms wesentliche „Zweiheit“ (21) in Plutarchs Ursprungsbericht mythisch mitbegründet ist: Steht der Anfang Roms notwendigerweise im Zeichen eines Brudermords, da eine „Staats-Vaterschaft“ nur durch die „Beseitigung der brüderlichen Ambition“ (22) möglich ist, so bildet dieser gleichsam den übertragen genealogischen Hintergrund für die spätere, exklusiv paternalistische Herrschafts- oder „Gewalt“-Struktur Roms. Die Stunde Null dieser staatlichen Struktur wird damit also von Anfang dargestellt „als Frage der Trennung“ (22): ein Brudermord, „Figur des bellum civile“, bildet damit paradoxerweise die „Grundfigur der Einheit des Staates“ (22). Analog hierzu verhält es sich mit der so folgereichen „Erfindung des römischen Rechts“ (23), dem in der römischen Geschichte, laut Solla, der Stellenwert eines Ersatzes zufällt: Das römische Recht füllt die Lehrstelle der nie aufgefundenen Leiche des (seinerseits möglicherweise ermordeten) Romulus; die entsprechende Tabuisierung soll die Wahrheit rund um seinen Tod vergessen machen. Ein blutiger Zoll lastet somit auf der Festlegung der sowohl natürlichen als auch rechtlichen Grenzen Roms: Alle beide können nur mit Hilfe einer gewalttätigen und damit im Kern widersprüchlichen „Reduzierung der Zweiheit auf Einheit“ (23) verwirklicht werden. Plutarchs Darstellung der römischen Anfänge konfiguriert somit eine Art Urszene staatlicher und juridischer Souveränität. Sie ist der Referenz Rom als ein den eigenen Ansprüchen in sich, ja sozusagen in fieri widersprechendes Ereignis mit einbeschrieben.

Jene „irriduzible Differenz innerhalb der Bedeutung Roms“, von der in der Einleitung die Rede ist (13), wird in Sollas Plutarch-Lektüre nun eben nicht nur auf einer imaginären, sondern auch auf einer sprachlich-erzählerischen sowie anasemischen Ebene thematisiert. Da wäre einmal die polyphone und damit romanhafte Erzählgestalt: Sie erlaubt es Plutarch, die Vielzahl der inhaltlich nicht kongruenten Erklärungen über Roms Ursprung als solche zu bewältigen, Rom selbst dadurch nur umso mythischer, nämlich als einen Ort nicht eindeutig bestimmbarer Herkunft zu beschreiben. Der „monolithische Charakter“ von traditionellen Ursprungs- bzw. „Machtdiskurse[n]“ (24) wird in dieser Weise unterlaufen. Aber wie Solla zeigt, stellt sich bei Plutarch die Frage der Un-Bestimmbarkeit der römischen Ursprünge auch als Frage einer (pseudo-)etymologischen Ambivalenz. Indem der Autor seinen Text damit selbst zur Figur der „endlosen Vieldeutigkeit“ (25) Roms werden lässt, erklärt er den Namen „Rom“ mitunter in einem doppelt paronomastischen Sinn, nämlich in Zusammenhang mit dem griechischen rhome (Kraft) und dem lateinischen ruma (Brust). Dabei lässt letzteres auf die legendäre Wölfin und, dank einer möglichen übertragenen Bedeutung des lateinischen Begriffes, auf die „Hure“, also auf Roms unreine Genealogie schließen.

Plutarchs Rom/-an erscheint in Sollas Lektüre als eminent „skriptibel“ und damit als perfektes Beispiel der scheinbar unendlich generativen Kraft (der Texte) Roms. Der Autor der Vitae parallelae, selbst auf ambivalente Texte und Zeichen referierend, schreibt Rom fort als einen Ort der Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit; damit stimuliert er seinerseits immer neue Lektüren, fordert immer wieder neue „Entzifferungen“ (12) – unter ihnen auch Sollas Lektüre selbst. Auch dieser reiht sich somit in die potentiell unbegrenzte Serie der Übertragungsgeschichten ein, die vom „Sinngenerator“ (14) oder von der, wie Solla selbst schreibt, geschichte-produzierenden „Maschine“ (25) Roms erzeugt werden.

Dass diese „Maschine“ nicht nur textbegründend sondern auch -begründet ist; dass das Wort „Rom“ die Idee „Rom“ nicht etwa erfasst, sondern über-trägt, also stets verfehlt; ja dass es keine einfache, diesem Wort zu Grunde liegende Bedeutung gibt, sondern eine virtuell infinite Reihe von Bedeutungen, die durch das Wort, seinen Klang und sein Schriftbild freigesetzt werden können: all diese generaliter dekonstruktivistischen Leitsätze werden in diesem Band auf eindrückliche Art und Weise veranschaulicht. Und dies, wohl bemerkt, ohne dass dem „Dämon der Theorie“ die Türen des gemeinen Menschenverstands zu weit geöffnet würden (das Bild ist Compagnon entliehen[15]). Wenngleich radikal in ihrem textkritischen Ehrgeiz, so entsprechen die hier versammelten Studien dennoch nicht dem Versuch, Derridas radikales Postulat, nämlich die Negation jeglicher Beziehung zwischen Zeichen und Referent, einfach so einzuüben. Dagegen spräche schon die Tatsache, dass „Rom“ den von den Herausgeberinnen erklärten Status einer „Figur der Übertragung“ („Trope der Trope“, 15) nur aufgrund seiner konkreten Geschichtlichkeit über-tragen kann. Ist nicht etwa Roms nachhaltig wirksame Praxis der Übertragung seiner selbst in die Gebiete des römischen Imperiums – also eine konkrete, machtpolitische Erfahrung – die Voraussetzung der Möglichkeit einer metaphorischen Abstraktion im besagten (tropisch-tropischen) Sinn?

Ist „Rom“ in diesem Band, wie im Vorwort betont wird, Gegenstand eines vornehmlich sprachlich-rhetorischen und nicht (oder nur indirekt) eines historischen Interesses, so ist letzteres dennoch keineswegs absent. Anders formuliert, die hier versammelten Studien berichten nicht vom empirisch erfahrbaren, logisch sich entwickelnden Roma, sondern von einem gegenläufigen, geträumten Amor. Dabei negieren sie indes weder die Existenz Roms als textexterne Bedingung, noch die Bedeutung des Texts als einer, wie auch immer verunreinigten Quelle (oder „Spur“) einer Wahrheit über Rom. Vielmehr lassen sie diese neu aufleben, treten zu ihr, wie Agamben sagen würde, in eine „lebendige Beziehung“; und wirken so dem Umgang mit Europas geistigem Erbe seitens der „herrschenden Mächte“, sprich seiner „Auslagerung in Museen“, entgegen[16]. Und in genau diesem Sinn lässt sich dieser Band der konventionellen Reiseliteratur zur Seite stellen. Es empfiehlt sich, die für Romreisende vorgezeichneten Routen rückwärts zu begehen, verzauberte Seiten- und verstörende Abwege zu beschreiten – unabhängig von den Pfeilen organisierter Routen, mit denen man Rom vergeblich zu bändigen, es in die beruhigende Geschichte einer nie existierten Vergangenheit zu verwandeln sucht.

Diese Empfehlung zur Pragmatisierung von Rom rückwärts ist nicht zuletzt motiviert von einem Eindruck, den die hier anthologisierten Texte vermitteln: Sie legen nahe, dass nicht alle Verbindungen zwischen Schrift und Welt einfach so zu kappen sind. Mögen viele der zitierten Autor/innen die Idee Roms auf der Basis von idealistisch-historischen Abstraktionen erfassen, ja instrumentalisieren (z. B. bei Kantorowicz[17], oder bei Kittler, bei dem Rom und das Römische, wie Gumbrecht zeigt[18], wegen seiner auf „Positionsgewinn und Machtakkumulation“ (39) ausgerichteten Kultur in idiosynkratischer Gegenüberstellung zum sinnlich Griechischen erscheint). Mag „Rom“ ferner bei allen, auch ohne besseren Wissens, ein bloßes Momentum im abstrakten Raum der Zeichen darstellen. Die meisten von ihnen äußern sich dennoch aus dem konkreten Anlass dazu, nämlich einer persönlichen Begegnung mit Rom: Cy Twomblys Palimpsest-Kunst, eine Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte, reift in der erlebten Umgebung der „erodierten Spuren des alten Roms“ (Denise Koller, 136)[19]; Freuds Rom-Träume werden bereichert von seinem (1930) siebenfachen Rom-Erlebnis (236); Curtius’ (provisorische) Identifikation Roms mit einem „zeitlos gültigen Maß“ (107) liegt, wie der von Julian Drews kommentierte Auszug nahelegt[20], ein Rom-Aufenthalt zu Grunde („Seit meinem ersten Besuch war mir die Stadt […] eine angestammte Heimat“, 107). Die hier versammelten Rom-Referenzen sind also nicht nur „loc[i] textueller Verknüpfungen“ (Lowrie zu Lucans Scaeva-Darstellung, 177[21]), sind nicht nur Knoten im Netzwerk anderer Rom-Referenzen, sind nicht völlig vom Referenten unabhängige und ana-grammatisch wuchernde Patterns. In den Bildern und in der rhetorischen Gestalt der hier zitierten Texte hallt die urbs als konkreter äußerer Anlass nach. Sie ist die einzigartige Energie, die in den hier anthologisierten Texten und den entsprechenden Kommentaren vielfach auf ihren Begriff kommt.

Rom ist eben tatsächlich und in höchstem Maße „Liebe und Stadt“, „Regel und Überschuss“ (Wild, 134) zugleich; in ihm existiert tatsächlich „das historische Nacheinander“ in der von Freud phantasierten Form mehrfach räumlicher „Ausfüllung“ (235); es gibt tatsächlich Gelegenheit, die (psychoanalytische) Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart zu träumen; es ist tatsächlich eine materielle Vorbedingung jener sinnlichen Erfahrung „unendlich wirkender Räume“ (Allerkamp, 224), die in der scena per angolo zum Ausdruck gelangt[22]. Kurz, die hier versammelten Schriften konstituieren Rom nicht weniger, als Rom die hier versammelten Schriften seinerseits konstituiert.

 

  1. Judith Kasper und Cornelia Wild, „Roms Tropen: Referenz, Gramma und Affekt“ (11–7).
  2. Traffico di Roma – Federico Fellini racconta, https://m.youtube.com/watch?v=T9I83F5W2pk (zuletzt aufgerufen am 20. 2. 2017).
  3. Marco Tabacchini, „Gewalt (Simone Weil)“, 31–5.
  4. Robert Stockhammer, „rom-isch (Friedrich Schlegel), 158–62.
  5. Hermann Doetsch, „Abdruck (Roberto Rossellini)“, 243–9.
  6. Barbara Vinken, „Götzendienst (Emile Zola)“, 61–5.
  7. Judith Kasper, „Verstörung (Sigmund Freud)“, 235–42.
  8. Dagmar Stöferle, „Raum (Carl Schmitt)“, 75–81.
  9. Anselm Haverkamp, „riverrun (Quintilian, Vico, Joyce)“, 103–6.
  10. Cornelia Wild, „Anagramm (Ferdinand de Saussure)“, 130–5.
  11. Daniel Hoffmann-Schwartz, „Inklination (Jacques Derrida)“, 163–8.
  12. Vgl. Ignacio Matte Blanco, The unconscious and infinite sets: An essay in bi-logic (London: Duckworth, 1975).
  13. Barbara Natalie Nagel, „Tautologie (Martin Luther)“, 56–60.
  14. Gianluca Solla, „Brudermord (Plutarch)“, 21–5.
  15. Antoine Compagnon, Le démon de la théorie : littérature et sens commun (Paris: Gallimard, 1998).
  16. Giorgio Agamben, „Europa muss kollabieren“, Die Zeit, 25. August 2015.
  17. Gianluca Solla, „renovatio (Ernst Kantorowicz)“, 114–7.
  18. Hans Ulrich Gumbrecht, „Kältepunkt (Friedrich A. Kittler)“, 36–40.
  19. Denise Koller, „Marmor (Cy Twombley)“, 136–40.
  20. Julian Drews, „Bildung (Ernst Robert Curtius)“, 107–13.
  21. Michèle Lowrie, „Reversio (Lucan)“, 171–8.
  22. Andrea Allerkamp, „Inventio (Piranesi/ Baudelaire)“, 223–7.

Ill.: Platinumportfolio, Rom

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