CFP Éric Vuillard: Geschichte und Narration

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Éric Vuillard: Geschichte und Narration

Artikelausschreibung für eine Sektion der Romanischen Studien

Kai Nonnenmacher (nonnenmacher@romanischestudien.de)

 

Ainsi les hommes échappent à l’échafaud comme aux livres d’Histoire.
(Éric Vuillard, 14 juillet)

Un penchant obscur nous a livrés à l’ennemi, passifs et remplis de crainte. Depuis, nos livres d’Histoire ressassent l’événement effrayant, où la fulgurance et la raison auraient été d’accord.
(Éric Vuillard, L’ordre du jour)

Der bedeutende Prix Goncourt im November 2017 für Éric Vuillard[1] (geb. 1968 in Lyon) und für seinen 160-seitigen Roman L’ordre du jour über den ‚Anschluss‘ Österreichs am 12. März 1938 und Hitlers Aufstieg ist Anlass, die Geschichtspoetik seiner Romane im Kontext der französischen Gegenwartsliteratur zu untersuchen.

Der historische Roman ist seit einigen Jahren[2] in Frankreich auf einem Höhenflug, den man einerseits als Überbetonung von Aufmerksamkeitswerten, Relevanzgehabe und Welthaltigkeit im Roman kritisieren kann, aber auch umgekehrt lesen als produktive Vergegenwärtigung historischer Zeit mit den Mitteln des Literarischen. So stieß der Roman Congo des Autors Éric Vuillard über die Folgen der Kongokonferenz 1884 und die belgische Kolonialherrschaft in einem Verriss von Marko Martin auf empörte Ablehnung:

Man könnte dieses konfuse Machwerk mit Schweigen übergehen, wäre es nicht Teil eines gegenwärtigen Phänomens: Geschichte als Steinbruch für hyper-ambitionierte Autoren und deren „Ich stelle mir vor“-Preziosen – ein wenig Holocaust, ein wenig Kolonialismuskritik, ein wenig von alldem. Man sollte um die Existenz dieser Eintopf-Suppen wissen, um sie nicht mit wirklich relevanter Literatur zu verwechseln.[3]

Cornelius Wüllenkemper dagegen betonte in seiner Kritik desselben Romans, dass Literatur ihr Potenzial gegenüber abstrakter, offizieller Historiographie erweisen könne:

Eric Vuillards „Kongo“ ist kein historischer Roman, sondern eine Erzählung über die Geschichte. Auf gerade einmal 110 Seiten wird der Leser überwältigt von vielen bizarren Details des blutigen Kolonialabenteuers, die in der offiziellen Schulgeschichtsschreibung untergehen. Umso eindringlicher legt Vuillard nahe, politische Geschichte immer als das Ergebnis der Handlungen einzelner zu verstehen. Man muss Vuillard insofern als politischen, so manches Mal auch moralisierenden Autor lesen, der die Handlanger und Statisten der Geschichte nur zu lustvoll in gut und böse unterteilt. Die gute Nachricht ist, dass genau das nur Literatur vermag.[4]

Joseph Hanimann wiederum betonte in seiner Kritik von Congo die Freiheitsmomente eines nicht auf Dokumentation angelegten Erzählens[5], es ist insofern fraglich ob eine derart frei-spielerische Poetik überhaupt auf so etwas wie einen Geschichtsroman abzielt:

Statt Groteske und Tragik unter Hochtemperatur erzählerisch ineinander zu verschmelzen, wechselt Vuillard im Tonfall von einem zum anderen mit einer stilistischen Freiheit, die das Buch zu einer scharf geschwungenen Arabeske zur kolonialen Jahrhundertgeschichte werden lässt. […] Vuillard erzählt Weltgeschichte wie eine Zirkusclownposse. Mitunter hält er im Ereignisablauf plötzlich inne und holt wie der Solist beim Konzert zu einer virtuosen Improvisation aus. […] Vuillards Erzählung lebt mehr von der pointierten Darstellung historischer Situationen als vom stringenten Entwurf einer Geschichtsvision.[6]

In ähnlicher Richtung argumentiert Judith von Sternburg für Vuillards La Bataille d’Occident (von ‚Roman‘ spricht sie dabei schon nicht mehr, sondern von einem ‚Langessay‘), wenn sie die Anschaulichkeit sich so weit emanzipieren sieht, dass die schiere Fülle der Details die durchdringende Geschichtsdeutung zu überlagern droht:

Der französische Schriftsteller Éric Vuillard analysiert den Ersten Weltkrieg nicht. Bisweilen erweckt er den Eindruck, sich treiben zu lassen durch die Menschenmenge und die Ereignisse, die ihm erledigt und unerledigt zugleich aus den Geschichtsbüchern entgegenstarren. Details interessieren ihn. Etwa, welche Pferderassen für den Krieg zusammengeschart wurden: „Andalusier, Lusitanier, Anglo-Araber, Friesen, Kabardiner, Hannoveraner, Comtois, schön stämmige Anglo-Normannen, Boulonnaispferde mit ihrem merkwürdigen Zirkuspferdaussehen, Holländer, Tarpane, Ardenner, Lipizzaner, Mérens-Pferde, Palominos, Achal-Tekkiner, Englische Vollblüter, Poitevins mit robusten Fesseln, Shires mit fellbehangenen Hufen.“[7]

Folgt man Andreas Rötzers These in einem Interview, zeigt sich mit der zeitgenössischen Verfasstheit des historischen Romans in Frankreich zugleich ein spezifischer Status des Schriftstellers:

Auch wenn sie historische Themen behandeln, muss man sagen, dass zum Beispiel Riboulet oder Éric Vuillard, dass das eine Art Rebellen oder literarische Aktivisten sind, also viel mehr noch als reine Schriftsteller. Die haben also eine Agenda, die sie durchsetzen wollen, und das macht sie so besonders, und das führt sie auch weit über das Genre des Romans eigentlich hinaus. Es sind zum Teil Essays, es sind sehr dramatische Textformen. Es ist also formal auch sehr spannend bearbeitet.[8]

Vuillards geschichtspoetologisches Programm, wie es hier an Beispielen der v.a. deutschen Literaturkritik skizziert wurde, wird auch in ersten Reaktionen auf die Vergabe des Prix Goncourt 2017 weitergeführt, wenn etwa Dirk Fuhrig seine Lektüre des Romans L’ordre du jour zusammenfasst:

Vuillard wählt eine ganz persönliche Perspektive. Nicht die eines Historikers, sondern sie setzt sich zusammen aus den Kleinlichkeiten und Unentschlossenheiten der Individuen − die handeln oder eben nicht handeln. Es zeigt sich eine unfassbare Lethargie, Willfährigkeit und Selbstbezogenheit der führenden Österreicher und Opportunisten, denen die Demokratie und das Parlament völlig egal sind und die sich den deutschen Befehlen fast lustvoll hingeben.[9]

Mit dieser Artikelausschreibung werden bis 15. Dezember 2017 Beitragsvorschläge zu einer Sektion „Éric Vuillard: Geschichte und Narration“ für die Zeitschrift Romanische Studien erbeten, zu richten an nonnenmacher@romanischestudien.de. Die Aufsätze können auf Deutsch oder Französisch verfasst sein. Die Abgabe der angenommenen Beiträge ist bis 15. April 2018 vorgesehen.

Texte von Éric Vuillard

  • Le Chasseur: récit (Paris: Éditions Michalon, 1999)
  • Bois vert: poésies (Paris: Éditions Léo Scheer, 2002).
  • Tohu: poésies (Paris: Éditions Léo Scheer, 2005).
  • Conquistadors: roman (Paris: Éditions Léo Scheer, 2009).
  • La bataille d’Occident (Arles: Éditions Actes Sud, 2012), dt. Ballade vom Abendland, übers. von Nicola Denis (Berlin: Matthes & Seitz, 2014). Rez. Judith von Sternburg, FR, 31. Juli 2014; Andreas Kilb, FAZ, 5. April 2014
  • Congo (Arles: Actes Sud, 2012), dt. Kongo, übers. von Nicola Denis (Berlin: Matthes & Seitz, 2015). Rez. Georg Renöckl, NZZ, 24. Juni 2015; Joseph Hanimann, SZ, 5. Juni 2015.
  • Tristesse de la terre: une histoire de Buffalo Bill Cody (Arles: Actes Sud, 2014), dt. Traurigkeit der Erde: eine Geschichte von Buffalo Bill Cody, übers. von Nicola Denis (Berlin: Matthes & Seitz, 2017). Rez. Niklas Bender, FAZ, 19. September 2017.
  • 14 juillet (Arles: Actes Sud, 2016)
  • L’ordre du jour (Arles: Actes Sud, 2017)

 


 

  1. Pierre Schoentjes, „Éric Vuillard en dialogue avec Pierre Schoentjes“, Revue Critique de Fixxion Française Contemporaine 14 (2017): 170–4, http://www.revue-critique-de-fixxion-francaise-contemporaine.org/rcffc/article/view/fx14.17/113.
  2. Vgl. u.a. Ursula Bähler und Wolfgang Asholt, Hrsg., Le savoir historique du roman contemporain, Revue des Sciences Humaines 321 (Lille: Presses Universitaires du Septentrion, 2016).
  3. Marko Martin, „100 Seiten Geschwätzigkeit: ‚Kongo‘ von Éric Vuillard“, Deutschlandradio Kultur, Lesart, 28. März 2015, http://www.deutschlandfunkkultur.de/kongo-von-eric-vuillard-100-seiten-geschwaetzigkeit.1270.de.html?dram:article_id=315523.
  4. Cornelius Wüllenkemper, „Als Europa Afrika unter sich aufteilte“, Deutschlandfunk, Büchermarkt, 25. Mai 2015, http://www.deutschlandfunk.de/erzaehlung-als-europa-afrika-unter-sich-aufteilte.700.de.html?dram:article_id=320963.
  5. Vgl. die auf historiographische Korrektheit zielende Vuillard-Lektüre von Thomas Laux, „Französische Romane zum Ersten Weltkrieg: eine Abfolge von Fehlern“, Dokumente = Documents 3 (Herbst 2014): 54.
  6. Joseph Hanimann, „Ein Herzstück Afrika gefällig? Finster: Éric Vuillards Kolonialerzählung ‚Kongo‘“, Süddeutsche Zeitung, 5. Juni 2015, http://www.sueddeutsche.de/kultur/franzoesische-literatur-ein-herzstueck-afrika-gefaellig-1.2505678.
  7. Judith von Sternburg, „Als sie merkten, dass man sie von zuhause weggelockt hatte: Éric Vuillard, Ballade vom Abendland“, Frankfurter Rundschau, 30. Juli 2014, http://www.fr.de/kultur/literatur/eric-vuillard-ballade-vom-abendland-als-sie-merkten-dass-man-sie-von-zuhause-weggelockt-hatte-a-588271.
  8. Andreas Rötzer im Gespräch mit Dina Netz, „Autoren als ‚Rebellen und literarische Aktivisten‘“, Deutschlandfunk, Büchermarkt, 3. April 2017, http://www.deutschlandfunk.de/franzoesische-literatur-autoren-als-rebellen-und.700.de.html?dram:article_id=382640.
  9. Dirk Fuhrig, „Eric Vuillard bekommt den Prix Goncourt“, Deutschlandfunk Kultur, 6. November 2017, http://www.deutschlandfunkkultur.de/franzoesischer-literaturpreis-eric-vuillard-bekommt-den.1895.de.html?dram:article_id=399969. Vgl. als erste Reaktion in Le Monde etwa Raphaëlle Leyris, „‚L’Ordre du jour‘, d’Eric Vuillard, couronné par le prix Goncourt“, Le Monde, 6. November 2017, http://www.lemonde.fr/livres/article/2017/11/06/le-prix-goncourt-recompense-eric-vuillard-pour-l-ordre-du-jour_5210830_3260.html.

 

Ill.: Einmarsch der faschistischen deutschen Wehrmacht in Österreich und Annexion des Landes im März 1938. Ansprache Adolf Hitlers am 15. März 1938 auf dem Helden-Platz in Wien. ADN-ZB/Archiv

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