Wahlkampf und Literatur in Frankreich: Binet – Sollers – Houellebecq

Beiträge, Französisch

Uwe Petry, „Binet – Sollers – Houellebecq: literarische Interferenzen auf der Folie des französischen Wahlkampfs 2017“, zur Publikation vorgesehen in Romanische Studien 6 (2017)

Laurent Binets satirischer Roman La septième fonction du langage (2015) hat den Blick eines größeren Publikums auf den literarischen Diskurs als Resonanzraum auch für die französische Politik, insbesondere in Wahlkampfzeiten, gelenkt. Im aktuellen Wahlkampfjahr 2017 sind solche Bezüge festzustellen und verdienen eine Lektüre, die das Niveau plakativer politischer Bezugnahmen in Richtung auf die Komplexität der angezielten literarischen Diskurse hin überschreitet.

Vorabdruck


Binet – Sollers – Houellebecq

Literarische Interferenzen auf der Folie
des französischen Wahlkampfs 2017

Uwe Petry (Genf)

In seinem satirischen Pastiche des französischen Literaturbetriebs an der Schwelle der Machtübernahme des sozialistischen Präsidenten François Mitterand, die gleichzeitig mit dem Ende der Avantgardebewegung um die Zeitschrift Tel Quel und ihres theoretisch und ideologisch zugespitzten Sprachbegriffs zusammenfällt, imaginiert Laurent Binet eine der Avantgarde wie der Politik bis dato vorgeblich verborgen gebliebene „siebte Funktion der Sprache“, die sich mit prosaischen Worten als rhetorische Überzeugungskraft umschreiben lässt.[1] Um den exklusiven Zugriff auf dieses, so die Fiktion, noch unerschlossene Potential der Sprache wetteifern zuvörderst die beiden politischen Konkurrenten Giscard d’Estaing und François Mitterand, und es ist der letztere, der im Roman unter Bezugnahme auf den historischen Wahlausgang von 1981 als Sieger im politisch-rhetorischen Wettkampf hervorgeht. In enger Verschränkung mit dieser politischen Thematik wird ein vergleichbarer Wettstreit auch zwischen Philippe Sollers, dem Hautprotagonisten der französischen Tel Quel-Bewegung, und Umberto Eco als Vertreter der letztlich sehr viel stärker in historischen Traditionen verankerten italienischen Neoavantgarde ausgetragen. Der Sieg Ecos bzw. die schmachvolle Niederlage von Sollers verweisen in diesem Fall auf das historische Faktum, dass die französische literarische Avantgarde in ihrer spezifischen Ausprägung der Gruppe Tel Quel mit dem Machtwechsel zu Mitterand und dem vom Roman als Handlungs-Nukleus fiktiv verbrämten Tod des Sprach- und Literaturtheoretikers Roland Barthes das Ende ihrer kulturellen Wirksamkeit erreicht hatte.

Binets Roman erschien im Jahr 2015, als der Niedergang der ersten sozialistischen Präsidentschaft nach Mitterand, der von François Hollande, bereits absehbar war. Der Autor hatte zuvor den Präsidentschaftswahlkampf Hollandes in Form einer literarisch-journalistischen Chronik[2] beschrieben, sich in der Folge jedoch enttäuscht über die mangelnde Einlösung der in sozialistischem Geist gegebenen Wahlversprechen geäußert. Vor diesem Hintergrund muss sein unterhaltsames Roman-Pastiche auch in der Absicht verstanden werden, dem neuerlichen Kampf um die politische Vorherrschaft in Frankreich, der mehr denn je von populistischen Verkürzungen der radikalen Rechten angetrieben wird, eine kulturelle und damit letztlich politisch linke Dimension einzuschreiben, vergleichbar mit der (behaupteten) Rolle der literarischen Avantgarde für den politischen Durchbruch von Mitterand.

Binets romanhaftes Hindeuten auf die anregenden Interferenzen literarisch-kultureller Diskurse mit dem politischen Feld findet in einem Kontext statt, der unter der Präsidentschaft Hollandes, aber auch schon zuvor, durch ein Abrücken linker Intellektueller von der direkten politischen Auseinandersetzung gekennzeichnet ist. Ein schlagendes Beispiel hierfür bietet Michel Onfray, selbsterklärter und publizistisch erfolgreicher Propagator eines Verständnisses von Demokratie als Anarchie[3], der seine Position im staatlichen Erziehungssystem aufgegeben hat und von der randständigen Stadt Caen aus ein volkserzieherisches Projekt auf der Grundlage von Prinzipien eines sozialen Materialismus betreibt. Eine links-konservative, jüdisch-konfessionell geprägte Gegenposition zu Onfray nimmt Alain Finkielkraut ein, der 2013 unter dem schlagwortartigen Titel L’identité malheureuse[4] eine problembewusst-selbstkritische Auseinandersetzung mit den aufklärerisch-revolutionären Grundlagen und der Geschichte der französischen Republik einfordert. Während Onfray aufgrund seines a-religiösen Dogmas vorübergehend in die Strudel politisierter Auseinandersetzungen um „den“ Islam geraten ist, hat Finkielkrauts Appell für eine neue, kritische Besinnung auf Identitäten inzwischen ein vielfaches, auch polemisches Echo gefunden. Unmittelbar nach Erscheinen der Publikation setze ihr der bereits erwähnte Groß-Schriftsteller Philippe Sollers in einer Internet-Video-Botschaft die Formel von der „identité heureuse“ als Leitbild für alle Franzosen entgegen[5]. Im September 2016 machte sich der vorübergehende konservative („republikanische“) Aspirant auf die Präsidentschaftskandidatur, Alain Juppé, diese umgedrehte Formel zu eigen, zwar ohne explizite Bezugnahme auf Sollers, aber diese doch zwangsläufig in Kauf nehmend.[6] Eine erste, wenn auch nicht bis in die letzte Konsequenz kalkulierte Interferenz zwischen den Feldern der Politik und der intellektuell-kulturellen Diskurse war damit im beginnenden Wahlkampf gesetzt. Seitdem hat der Kandidat aus dem Lager der unabhängigen Linken, Jean-Luc Mélenchon, mit seinem Slogan „La France insoumise“[7] einen weiteren solchen Bezug hergestellt. Mélenchon reagiert mit dieser Formel einerseits affirmativ auf die links-populäre Stärkung anarchisch-demokratischer Potentiale eines Michel Onfray. Andererseits schließt er ebenso auch zur Polemik der radikalen Rechten gegen das derzeit vor allem mit dem Islam assoziierte Rollenbild der „femme soumise“ auf. Seine appellative Kraft bezieht dieser Slogan jedoch nicht zuletzt aus der Anspielung auf den erfolgreichen, im Jahr 2015 zu allem Überfluss auch noch in zeitlicher Nähe zu islamistisch-terroristischen Anschlägen („Charlie Hebdo“) erschienenen Roman Soumission von Michel Houellebecq[8], in dem eine hyperbolische Fiktion der „Unterwerfung“ des republikanischen Frankreichs unter eine gemäßigte, von äußeren Mächten finanzierte und in politisch-kulturellen Traditionen des Islam stehende Regierungsform inszeniert wird. Als weniger rhetorisch, denn zerebral erscheint dagegen das Motto des sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon, der glauben machen will: „Le future désirable est possible“[9], während der schließlich von der republikanischen Rechten gekürte Kandidat François Fillon mit seiner Buchpublikation, die den lapidaren Titel Faire[10] trägt, der Unterstützung durch das Wort paradoxal entsagt.

Angesichts eines mit Spannung erwarteten Wahlausgangs in Frankreich, der ganz offensichtlich in besonderem Maße von der politisch-rhetorischen Überzeugungskraft der Kandidaten und ihres jeweiligen diskursiven Resonanzraums abhängt, drängt sich eine nähere Prüfung auch der literarisch-kulturellen Diskurse, die von verschiedener Seite für diesen Wahlkampf in Anspruch genommen werden, auf.

Im Fall von Philippe Sollers, der mit seiner Gegenformel einer „identité heureuse“ zum Wahlkampfpaten der gemäßigten Rechten geworden ist, muss man zu diesem Zweck auf die literarische Produktion zurückgreifen, mit der der Autor seit dem Ende der Avantgardebewegung von Tel Quel, also seit den frühen 1980er Jahren, hervorgetreten ist. Femmes[11], sein erster Roman, der nach diesem Umbruch erschien und ihm 1983 einen Skandalerfolg eintrug, eignet sich für eine entsprechende kurze Analyse in mehrfacher Hinsicht.

Skandalös erschien der Roman zum einen wegen seiner als pornographisch empfundenen Beschreibungen sexueller Begegnungen mit wechselnden weiblichen Partnern, die der Ich-Erzähler, ein vorübergehend in Paris lebender Amerikaner und Romanschriftsteller, immer wieder zu Papier bringt und die an die Romane eines Marquis de Sade erinnern. Zum anderen bietet der Roman seinen Lesern mehrere satirische Verballhornungen von Leitfiguren der kulturell-politischen Avantgarde, unter anderem von Roland Barthes, dessen homosexuelle Neigungen den kontrastreichen Gegenpol zur donjuanesk-heterosexuellen Selbstdarstellung des Erzählers bilden. Unversöhnlich geht der Erzähler mit denjenigen weiblichen Romanfiguren um, denen er feministische Einstellungen zuschreibt. Schließlich fällt auch noch der psychoanalytische Zugang zum Phänomen der Sexualität seinem Verdikt anheim. Diese thematischen Tabubrüche im Zeichen von Sexual- und Genderperspektiven sind aber letztlich kein Selbstzweck, sondern fungieren, in Transzendierung der eigenen, drastisch inszenierten subjektiven Perspektive des Erzählers, als Befreiung und Entlastung des Deutungsrahmens des Romans insgesamt von jedweden moralischen, biologisch-theologisch-substanzhaften oder soziologisch-politischen Begründungen von Sexualität als einem Kernbestandteil der conditio humana. Ausgehend von einer solchen vorurteilslosen tabula rasa, die „den Menschen“ als das unbestimmte und damit individuell selbstverantwortliche Wesen exponiert (und die Sollers Ende der 1960er Jahre in den ‚Errungenschaften‘ der chinesischen Kulturrevolution abgebildet glaubte), entwickelt der Roman eine vielschichtige Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft. Die Gegenstände dieser Kritik, etwa die auf Dauer gestellte heterosexuelle (‚bürgerliche‘) Zweierbeziehung, erscheinen dabei weniger als progressiv zu überwindende Fehler oder Irrtümer; wichtiger ist vielmehr der Gewinn der Einsicht in die prekäre, von unterschiedlichen Interessen der beteiligten Partner geförderte Konstitution dieser Konstellationen. Höchstes Erkenntnisziel ist denn auch, wie Sollers seinem Erzähler als sokratischen Dialog à la Sherlock Holmes/Watson in den Mund legt, die ironische Einstellung, die in eine Referenz auf die Poetik der deutschen Frühromantik mündet: „ – …Baise inerte… Plus un effort… Élémentaire, Watson!… – Trop d’ironie! – Schlegel, mon cher: ‚L’ironie est la conscience claire de l’agilité éternelle, de la plénitude infinie du chaos‘“[12]. Sollersʼ Romanstrategie läuft insofern auf die Vermittlung einer sich selbst reflexiv gewordenen Aufklärung hinaus, die das Individuum immer wieder vor die Herausforderung stellt, den eigenen parti pris kritisch zu hinterfragen. Unter dieser Voraussetzung wird auch das scheinbare Paradox plausibel, das in Sollersʼ literarischem Kokettieren mit dem katholischen Glauben (der Roman Femmes inszeniert fiktional eine reale Begegnung zwischen Sollers und Papst Johannes Paul II[13]) sowie mit der Seinsphilosophie eines Duns Scotus und Martin Heideggers aufscheint. In post-aufklärerischer Perspektive kann der von der Romantik inspirierte Gedanke der Unendlichkeit, der unvermeidlich auch religiös-ontologische Anklänge transportiert, als Korrektiv einer Vernunft dienen, die sich sonst nur allzu leicht in ihren eigenen Einsichten verfangen würde. Im Offenhalten des Verständnisses für eine grundsätzliche, selbstkritische und ironisch hervorzubringende „agilité“, die nicht zuletzt die Bedingung für eine befriedigende Lektüre des Romans bildet, scheint für Sollers die Aussicht auf eine „identité heureuse“ begründet zu sein. Bezeichnenderweise hat Sollers denn auch in der zitierten Internet-Video-Replik auf Alain Finkielkrauts Behauptung einer französischen „identité malheureuse“ Filmaufnahmen des Besuchs von Général De Gaulle bei Papst Johannes XXIII aus dem Jahr 1959, den Anfängen der V. Republik im Zeichen der Algerienfrage, in ironischer, auf ein Unendliches zielende religiöser Verbrämung integriert.

Michel Houellebecq hat bereits in seinem ersten größeren Romanerfolg, Les particules élémentaires[14], eine Anspielung auf den realen Autor Philippe Sollers eingebracht, indem er Bruno, den Protagonisten des Romans, mit der von Sollers im Verlag Gallimard herausgegebenen Zeitschrift L’infini in Kontakt treten lässt[15]. Die gegenseitige literaturkritische Wahrnehmung der beiden Autoren in der Folgezeit lässt sich per Internetsuche vielfältig belegen.[16] Houellebecqs neuester Roman Soumission ist, im Gegensatz zu Sollersʼ selbstreflexiver Erzählweise, eine mit den Mitteln der traditionellen Fiktionsillusion erzählte campus novel einschließlich der dabei obligaten Akademiker-Satire, die ihren Kern im Kontrast zwischen der materiellen Subsistenzsicherung und den hehren geistigen Ansprüchen der akademischen Arbeit hat. Im Fall von Soumission ist dieser Campus derjenige der Sorbonne (u.a. bekannt als der Ausgangspunkt der Revolte von 1968), die im Zuge des Übergangs der Macht in Frankreich auf einen islamischen Präsidenten hohe finanzielle Zuwendungen aus dem islamischen Ausland erhält und die (männliche) Prätendenten für eine akademische Anstellung bei Bedarf und unter dem Schirm der arrangierten islamischen Ehe auch zusätzlich noch effizient mit weiblichen Sexualpartnerinnen versorgen kann. Die Anlage von Houellebecqs Roman als campus novel bietet auf den ersten Blick für den akademisch-literarisch gebildeten Leser ein großes intertextuelles Deutungspotential im Stil der Romane von Umberto Eco, da das wissenschaftliche Forschungsinteresse des Protagonisten den berühmten, aber eher wenig gelesenen ‚dekadenten‘ Romancier Joris-Karl Huysmans betrifft. In einer wichtigen Episode des Romans, die vor dem Hintergrund von gewaltsamen ethnischen Auseinandersetzungen in einzelnen Vierteln von Paris angesiedelt ist, findet sich die Option einer solchen deutenden Vertiefung jedoch plakativ negiert. Der Protagonist begegnet hier einer akademischen Kollegin, die mit Huysmans gar nichts anfangen kann, da sie in ihrem wissenschaftlichen und auch sonstigen Interesse offensichtlich ganz der „Frühromantik“ („elle était Frühromantik à l’extrême“[17]) verschrieben hat. Diese nicht in Paris, sondern in Lyon lehrende Alice erweist sich zudem als die einzige Frauengestalt des Romans, auf die der Protagonist nicht nur sexuelle Lusterwartungen projiziert (wie vor allem im Fall der anderen herausgehobenen weiblichen Romanfigur Myriam), sondern der die Ausstrahlung eines romantischen und gleichzeitig potentiell auch in der Realität einzulösenden Glücksversprechens beigegeben ist: „Elle était intelligente, élégante, jolie – quel âge pouvait-elle avoir? à peu près le même que le mien, entre quarante et quarante-cinq ans – et selon toute apparence elle était seule. […] Remarquable!“[18], bestätigt denn auch der Romanheld, kann sich aber nicht entschließen, den Kontakt zu vertiefen. Stattdessen winkt ihm gegen Ende des Romans das ganz anders geartete Glücksversprechen einer auskömmlichen Position an der nun islamisch geprägten Sorbonne, samt Befriedigung aller weiteren Bedürfnisse, die ein liberaler religiöser Moralkodex dem Individuum zugesteht. Es gehört zum Raffinement von Houellebecqs Roman, dass er das Ergreifen oder besser die Wahl dieser Möglichkeit im letzten Kapitel durchweg in der sprachlichen Konditionalform belässt, einschließlich der Verfremdung des wohl berühmtesten Verses der französischen Chanson-Ikone Edith Piaf, die aufgrund dieses falschen Anklangs nur scheinbar das letzte Wort erhält: „Je n’aurais rien à regretter.“[19] Schon zuvor hat der Autor eine weitere zweideutige Verweisung auf einen kanonischen Bestandteil der modernen französischen Kulturtradition in den Erzähldiskurs eingeschmuggelt, indem der Protagonist mit Meursault, einer der besten burgundischen Weißwein-Kreszenzen, zur Annahme des Lehrangebots an der nun islamisch geprägten Sorbonne gefügig gemacht werden soll. Meursault ist aber, wie sprichwörtlich jeder Franzose weiß, auch der Name des Helden in Camusʼ Roman L’étranger[20], dessen Revolte in Form der Konfrontation mit dem Absurden die Kultur und Lebenswelt im Nachkriegsfrankreich, und nicht nur dort, maßgeblich beeinflusst hat.[21] Da der Schauplatz dieses Romans im damals noch kolonialisierten Algerien angesiedelt ist, erhält die „Namenspanscherei“ im Kontext von Houellebecqs Roman und seiner Thematisierung des Islam einerseits Relevanz, andererseits aber auch eine vieldeutige Unschärfe. Houellebecqs Roman erweist sich insofern als ein Parcours, auf dem eindeutige Wegmarken der Existenzbewältigung, wie ein reflexives Selbstverhältnis (repräsentiert von der Frühromantik), existentiell rückversicherte Entschlossenheit (Camus) oder eine trotzig-freche Selbstbehauptung (Edith Piaf), zwar diskursiv gesetzt sind, aber von dem charakteristischerweise in einer traditionell erzählten Geschichte befangenen Erzähler-Helden nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden und der Held insofern von der lebensweltlichen Situierung der Handlung, in diesem Fall in einer Nah-Utopie des Jahres 2022, gänzlich determiniert wird. Das – mit der Ausnahme des in der Möglichkeitsform erzählten letzten Kapitels – Ergebensein des Helden in die von ihm erzählte Geschichte ist insofern auch romanästhetisch ein Ausdruck dafür, dass Houellebecqs Verzicht auf die von Sollers praktizierte selbstreflexiv-avantgardistische Erzählhaltung als ein bewusst gesetztes retrogrades Signal interpretiert werden muss. Erst in der Zusammenschau der beiden Schreibweisen von Sollers bzw. Houellebecq gewinnt das Lesepublikum einen Eindruck davon, vor welche Sinn-Alternativen es im Vollzug dieser ästhetischen Inszenierungen gestellt ist. Sollersʼ aus der Tradition der spätmodernen Avantgarde kommende Vermittlung einer selbstreflexiven „identité heureuse“ erscheint dabei als der noch einigermaßen gerade Weg zum (Leser-)Glück. Vielleicht muss sich der Leser aber die Frage stellen, ob Houellebecqs retrograde und entfernt an die dekadente Ästhetik eines Huysmans erinnernde Inszenierung, die sehr viel indirekter auf noch dazu fragliche Glücksperspektiven verweist, der aktuellen „Lage“ nicht angemessener erscheint, indem der Leser stärker als bei Sollers auf eine selbständige Suche „nach dem Glück“ geschickt wird, für die der Roman keine unmittelbare Anleitung mehr gibt.

Dies wäre dann – um abschließend nochmals den Bogen zur Politik zu schlagen – auch eine Ermutigung, von den Kandidaten der anstehenden Wahlen keine fertigen Lösungen zu erwarten und eventuell sogar alternative Möglichkeiten der politischen Partizipation für sich selbst in Aussicht zu nehmen.

 


  1. Laurent Binet, La septième fonction du langage: qui a tué Roland Barthes? (Paris: Grasset, 2015); in der deutschen Übersetzung von Kristian Wachinger erschienen als Die siebte Sprachfunktion (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2016).
  2. Laurent Binet, Rien ne se passe comme prévu (Paris: Grasset, 2012).
  3. Vgl. seine jüngste Publikation: Michel Onfray, Le miroir aux alouettes: principes d’athéisme social (Paris: Plon, 2016).
  4. Alain Finkielkraut, L’identité malheureuse (Paris: Stock, 2013).
  5. Ästhetisch verbrämt im Stil von De Gaulles Aufruf vom 18. Juni 1940; abrufbar unter http://www.philippesollers.net/intervention13oct13.html.
  6. Nachweis z. B. unter: http://www.lemonde.fr/politique/article/2016/09/13/a-strasbourg-alain-juppe-assume-l-identite-heureuse_4997186_823448.html.
  7. Nachweis z. B. unter: https://www.challenges.fr/election-presidentielle-2017/presidentielle-2017-le-programme-de-la-france-insoumise-de-jean-luc-melenchon_463537.
  8. Michel Houellebecq, Soumission (Paris: Flammarion, 2015).
  9. Nachweis z. B. unter: https://www.challenges.fr/election-presidentielle-2017/le-programme-de-benoit-hamon-l-equation-impossible-de-son-futur-desirable_461443.
  10. François Fillon, Faire (Paris, Albin Michel, 2015).
  11. Philippe Sollers, Femmes (Paris: Gallimard, 1983); im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Paris: Folio, 1985.
  12. Sollers, Femmes, 406; das Schlegel-Zitat entstammt den Ideen (Nr. 69: „Ironie ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.“); vgl. Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe seiner Werke, hrsg. Ernst Behler (München: Schöningh, 1967), 1. Abt., Bd. II, 263.
  13. Sollers, Femmes, 453–6.
  14. Michel Houellebecq, Les particules élémentaires (Paris: Flammarion, 1998).
  15. Bezeichnenderweise im fiktiven Kontext der Befassung des Protagonisten mit der Rolle des Papstes Johannes Paul II.; vgl. Houllebecq, Particules, 229.
  16. Vgl. beispielhaft das gemeinsame Interview der beiden Schriftsteller in der Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur vom 8. Oktober 1998.
  17. Houellebecq, Soumission, 60.
  18. Houellebecq, Soumission, 62.
  19. Houellebecq, Soumission, 300; der korrekte Text des Chansonverses von Edith Piaf lautet: „Non, je ne regrette rien.“; Textdichter: Michel Vaucaire; Veröffentlichung des Chanson im Jahr 1960.
  20. Albert Camus, L’étranger (Paris: Gallimard, 1942).
  21. Zur aktuellen Camus-Rezeption vgl. Michel Onfray, L’ordre libertaire: la vie philosophique d’Albert Camus (Paris: Flammarion, 2012); in deutscher Übersetzung von Stephanie Singh erschienen als Im Namen der Freiheit: Leben und Philosophie des Albert Camus (München: Knaus, 2013).

 

Ill.: Photomontage

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