Jüdisch-argentinische Literatur (Doppelrezension P. Eser)

Beiträge, Spanisch

Patrick Eser, „Literaturen an der Grenze: zwei Bände widmen sich der faszinierenden Welt der ‚jüdisch-argentinischen Literatur‘“, Doppelrezension zweier Bücher von Erna Pfeiffer, Vorabdruck der Besprechung in Romanische Studien


Literaturen an der Grenze

Zwei Bände widmen sich der faszinierenden Welt der „jüdisch-argentinischen Literatur“

Patrick Eser (Kassel/La Plata)

Besprochene Bände:

Sie haben unser Gedächtnis nicht auslöschen können: jüdisch-argentinische Autorinnen und Autoren im Gespräch, herausgegeben und übersetzt von Erna Pfeiffer (Wien: Editionen des PEN im Löcker-Verlag, 2016).

Mit den Augen in der Hand: argentinische Jüdinnen und Juden erzählen, herausgegeben und übersetzt von Erna Pfeiffer (Wien: Mandelbaum Verlag, 2014).

Die kulturelle Heterogenität und Vielschichtigkeit Lateinamerikas und deren historischen Hintergründe konstituieren, zugleich dramatisch wie faszinierend, eine Spannung, die den Reiz der Kulturen jenes Kontinents ausmacht. Die verschiedenen Einwanderungsströme nach Lateinamerika haben ihre Spuren hinterlassen und ein vielschichtiges kulturelles Mosaik hervorgebracht, dem ein nicht weniger buntes Begriffsfeld zur Bezeichnung und Klassifikation dieser kulturellen Partikularitäten entspricht. Einer dieser Begriffe zur Ordnung der kulturellen Heterogenität ist der Terminus der jüdisch-lateinamerikanischen Kultur beziehungsweise, für die Philologie von Interesse, der jüdisch-lateinamerikanischen Literatur. Was diese charakterisieren und, sofern dieser überhaupt ausgemacht werden kann, ihren definitorischen Kern ausmachen soll, ist keinesfalls klar und Gegenstand von Debatten in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Lateinamerikanistik. Nicht einmal über den Gehalt des Attributs „jüdisch“ oder den Bezug auf eine „jüdische Identität“ herrscht Einigkeit vor. Wie auch in anderen Diskussionen und Redeweisen über kollektive Identitäten, ist prinzipiell Skepsis gegenüber essentialisierenden Aussagen angebracht. Kulturtheoretische Debatten über Transkulturalität, Diaspora und Hybridisierung haben sich in der Auseinandersetzung mit Vorstellungen von vermeintlich geronnenen und als fix vorgestellten kollektiven Identitäten als anregend erwiesen. Sie wurden auch in zahlreichen Studien, die sich an der Schnittstelle von Lateinamerikanistik und Jüdischen Studien bewegen, zur Anwendung gebracht. Doch was bleibt nach der Kritik an essentialisierenden Redeweisen von den unterstellten und mit Attributierungen wie „jüdisch“ oder „argentinisch“ markierten Partikularitäten noch übrig? Wie steht es um das Phänomen der jüdisch-argentinischen Literatur, das in zwei jüngst erschienenen und hier zu besprechenden Bänden thematisiert wird? Auch beim Terminus jüdisch-argentinischen Literatur handelt es sich um eine Bezeichnung, die nicht unbedingt präziser ist als die Kategorie der jüdisch-lateinamerikanischen Literatur, auch wenn der Gegenstandsbereich der ersteren konkreter und national eingefasst ist. Die in den Bänden enthaltenen zahlreichen Interviews zeigen auf, dass die verschiedenen Verwendungsweisen des Attributs jüdisch-argentinische Literatur mal sinnvoller sind und in anderen Zusammenhängen weniger angemessen.

Mit den Augen in der Hand: argentinische Jüdinnen und Juden erzählen (im Folgenden mit Augen abgekürzt) sowie Sie haben unser Gedächtnis nicht auslöschen können: jüdisch-argentinische Autorinnen und Autoren im Gespräch (im Folgenden mit Gedächtnis abgekürzt) sind von der österreichischen Romanistin Erna Pfeiffer herausgegeben worden. Der erste Band ist im Wiener Mandelbaum Verlag 2014 erschienen und der zweite deutlich umfangreichere Band ebenfalls in Wien, im Verlag Erhardt Löcker, 2016.

Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Bänden ist, soviel sei vorweggenommen, dass der erste Band vielschichtige und knappe Porträts liefert, der zweite sich hingegen auf die Interviews mit den Literat/innen konzentriert und diesen deutlich mehr Raum zugesteht. Der erste Band präsentiert die Autorinnen und Autoren in mehreren Aspekten, die Autorenporträts umfassen kurze bio-bibliographische Angaben, ein Foto, einen Interviewauszug sowie einen ins Deutsch übertragenen Ausschnitt aus der jeweiligen literarischen Produktion des/der Porträtierten. Die Autorenpräsentation des zweiten Bandes konzentriert sich auf die Interviews, die teils recht umfangreich ausfallen (sich in einzelnen Fällen auf bis zu 30 Seiten erstrecken), und umfasst zudem eine umfangreiche bibliographische Dokumentation. Diese enthält die veröffentlichten Schriften, ihre Übersetzungen in verschiedene Sprachen sowie Angaben zur Sekundärliteratur.

Mit den Augen in der Hand gibt nicht zuletzt durch die übersetzten Auszüge aus den literarischen Texten der Porträtierten einen guten Eindruck in ausgewählte Aspekte der literarischen Produktion der argentinischen Gegenwart. Insofern kann der Band als informative, wenn auch sehr spezielle Anthologie der argentinischen Gegenwartsliteratur gelten, die die produktive Verflechtung zahlreicher literarischer Traditionen vor Augen führt. In den porträtierten „jüdisch-argentinischen“ Erzählungen und Erzähler/innen kommen die reichen Traditionen breiter kultureller Einflüsse der verschiedenen Einwanderungsströme, seien sie aschkenasicher, sephardischer oder misrachischer Herkunft, zur Geltung. Anhand der dokumentierte Texten ist ein literarisches Schreiben zu beobachten, das „jüdische“ Kultursubstrate produktiv mit „typisch“ argentinischen Kultureinflüssen wie dem Tango, der Gauchesken, politischen Figuren und Besonderheiten (Perón, Evita), dem Fußball oder den sprachlichen Besonderheiten wie dem Lunfardo oder Cocoliche als lokalem Soziolekt verwebt. Zugleich werden jüdische Erzähltraditionen, chassidische Legenden und lateinamerikanische Strömungen wie der Magische Realismus oder die spezifische Tradition der Phantastik hybridisiert. Darüberhinaus setzen sich die Texte nicht bloß mit der Vergangenheit, der Flucht aus Europa, der Shoah und der Durchleuchtung der Kulturhybridisierung auseinander, sondern auch mit der jüngsten politischen Geschichte, der letzten zivil-militärischen Diktatur sowie mit den verschiedenen Migrations- und Exilerfahrungen, die im letzten Zyklus dann teilweise wieder den „Weg zurück nach Europa“ eingeschlagen haben.

Der Band, der als gelungene Teilanthologie der argentinischen Gegenwartsliteratur gelten kann zeigt auf dem ansprechend gestalteten Titelbild einen Davidstern von der Decke der jüngst renovierten Arbeter-Synagoge in Moisés Ville – jenem mythenumwobenen Ort, der emblematisch für die Epoche der aus Russland kommenden ersten jüdischen Einwanderungswellen nach Argentinien ab Ende des 19. Jahrhunderts steht. Die Herausgeberin erweist sich als profunde Kennerin der jüdisch-argentinischen Welt und ihrer Kulturgeschichte; die Covergestaltung kann auch in dieser Hinsicht als ein äußerst gelungener Griff gewertet werden, ist sie doch, jenseits der ikonischen Bedeutung des Davidsterns, als ein Hinweis auf jene kulturhistorisch bedeutende Epoche und Welt der gauchos judíos zu lesen, die in Alberto Gerchunoffs gleichnamigen Werk ihre literarische Adelung erfahren hat – und für die das Städtchen Moisés Ville in der Provinz Santa Fé, mit den mal mehr mal weniger gut erhaltenen Synagogen, der mittlerweile leider geschlossenen jüdischen Schule, dem beeindruckenden Theater Kadima, dem Friedhof (Gerüchten zufolge der erste jüdische Friedhof in Argentinien) und vor allem dessen lokales Museum noch heute als ein kulturelles wie historisches Schmuckstück gelten kann, insofern in ihm atemberaubende Spuren und Dokumente der turbulenten globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts aufblitzen.

Dem zweiten Band, Gedächtnis, gelingt es dank der umfangreichen und informativen Interviews einen tiefer gehenden Einblick in das Schaffen und Leben der Literat/innen zu vermitteln. Die Ausführungen zur literarischen Produktion haben in den Interviews ebenso ihren Platz wie auch die Gespräche über deren historisch-kulturelle Kontextualisierung. So enthalten die Gespräche beeindruckende Erzählungen der familiären Vorgeschichten, die die Bedingungen der Flucht und Migration nach Argentinien wie aber auch die Ankunft und Integration in die argentinische Gesellschaft thematisieren. Die ausführlichen Interviews, die in Gedächtnis enthalten sind, enthalten wertvolle Informationen zu diesen historisch-kulturellen Themenfeldern, nicht jedoch ohne die literarische Produktion der Interviewten zu vernachlässigen. So kommt es zu einer sehr gelungenen Kombination von historischem Wissen, poetologischen Vorstellungen und der Besprechung der jeweiligen literarischen Werke.

Die Interviews mit Mario Goloboff geben in beiden Bänden interessante Einblicke in die Migrationsgeschichte der Familie, das Zusammenleben auf der Ebene in der Kleinstadt Carlos Casares in der Provinz Buenos Aires, die Konfrontation mit antisemitischen Anfeindung auf lokaler Ebene und die intertextuellen Bezüge seiner Literatur. Luisa Futoranskys Ausführungen über die Frage der Weitergabe der jüdischen Gebote fernab religiöser Sinndimensionen (Augen, 63) sind ebenso von besonderem Interesse, wie das Interview mit Manuela Fingueret, für die ihre jüdische Identität ein bedeutender Aspekt ihres Selbstverständnisses ist. Fingueret beschreibt den historischen Wandel der jüdischen Bevölkerung in Argentinien entlang der verschiedenen Einwanderungsgenerationen und wie sich die „jüdische Identität“ in den politischen und kulturellen Organisationen und der Alltagskultur Argentiniens verändert und ausdifferenziert hat. Sie kommt zum Schluss, dass es kaum einen festen Kern gibt, der die jüdische Zugehörigkeit in Argentinien definieren könne: „Ich glaube nicht, dass wir jüdischen ArgentinierInnen mehr gemeinsame Merkmale haben jenseits der Sprache, das kein Hochspanisch ist, sondern die am Rio de la Plata gesprochene Variante“ (Augen 135). Ein ausführliches Interview mit Fingueret ist leider nicht in dem zweiten, später erschienenen Band Gedächtnis enthalten, da sie bereits 2013 verstorben ist (das Gleiche gilt auch für Alicia Steimberg, die 2012 verstarb und ebenso nicht in Gedächtnis enthalten ist), doch auch die kurze Version gibt einen guten Einblick in die Strukturen der organisierten jüdischen Gemeinden sowie die politischen Identitäten der Jüdinnen und Juden – bis hin zu den Kontroversen um die Positionierung gegenüber dem Staat Israel, die zwischen solidarischer Kritik, uneingeschränkt positivem Verhältnis oder einer „auffälligen Aversion“ variiert.

Das Interview mit Liliana Lukin, deren Lyrik und intellektuelles Selbstverständnis in einem tiefen Dialog mit Spinoza stehen und die im Zeichen des starken Assimilationswunsches ihrer Eltern erzogen wurde, führt ebenfalls spannende Aspekte der jüdisch-argentinischen Geschichte vor Augen. Lukin berichtet, wie es ihrer Großmutter untersagt war, sie in Jiddisch und in Religion zu unterweisen, was diese dann doch immer wieder heimlich versuchte. In Lukins Poesie steht die Reflexion auf den Körper im Vordergrund, die Themen der Erinnerung und des Judentums sind damit stets verflochten. Letztlich versteht sich Lukin als „Überlebende“, die Spuren der Shoah, die in ihrer Familiengeschichte tragische Wirkungen hinterlassen hat, sind von zentraler Bedeutung für ihr Verständnis als Jüdin, das sie zudem mit einer politischen Bedeutung versieht. Schließlich schwankt sie zwischen einer essentiellen Definition als Überlebende und deren Relativierung: „Jüdin zu sein heißt, in einem auch für das 20. Jahrhundert noch ungelösten Sinn, Überlebende zu sein… und im Besonderen, zuerst eine Überlebende des sozialistischen Traums, des sowjetischen, der voller Trauer aufgegeben wurde, der jedoch aus mir diejenige gemacht hat, die ich bin (…) Auch sozial sind wir exkommuniziert worden, öffentlich oder privat, in verschiedenen Momenten: als Kommunistin, Jüdin, Frau, Mutter, Geschiedene, Schriftstellerin“ (Gedächtnis, 323). In beiden Bänden enthalten sind Interviews mit Sergio Chejfec, einem renommierten und höchst innovativen argentinischen Gegenwartsautor, aus dessen Erinnerungsroman Los planetas, eine höchst spannende erzählerische Reflexion auf die Traumata und psycho-sozialen Folgen der letzten Militärdiktatur, ein Abschnitt in Augen abgedruckt ist.

Spannend ist zudem der Sachverhalt, dass einige der Autoren und Autorinnen sich gar gegen die Subsumtion unter die Rubrik „Jüdisch-argentinische Literaten“ wehren. Alicia Kozameh berichtet, dass ihr durch die Einladung zur Teilnahme an Anthologien wie der Jewish Writers of Latina America bewusst geworden sei, dass sie bloß aufgrund ihrer Herkunft angefragt wurde und das, obwohl jüdische Themen und Motive in ihrem Schreiben gar keine Rolle spielten. Der in beiden Bänden porträtierte Andrés Neuman hat auf die Einladung der Herausgeberin Pfeiffer, an der geplanten Anthologie zu jüdisch-argentinischen Schriftsteller/innen teilzunehmen, mit der Bedingung geantwortet, dass der Band keinen „stark identitätsbekundenden Zuschnitt“ aufweist. In einem Brief an die Herausgeberin, der in Gedächtnis in Auszügen abgedruckt ist (S. 30), macht Neuman, der seit seinem 14. Lebensjahr im spanischen Granada lebt, deutlich, dass ihm ein flexibles Verständnis jüdischer Identität und Zugehörigkeit wichtig ist, bei dem nicht die „Herkunft“ im Vordergrund steht. Die Flexibilität und Pluralität der Positionierungen im Feld der kollektiven Identitätsangebote wird bei zahlreichen der Interviewten deutlich. Die Autor/innen, die ebenfalls Argentinien dauerhaft verlassen haben, legen sowohl in ihrem Bezug auf ihre „jüdische Identität“ wie auch auf eine mögliche argentinische Identität unterschiedliche Umgangsweisen an den Tag. Die Schriftstellerin Ana María Shua, die nur kurze Zeit ihres Lebens außerhalb Argentiniens verbracht hat, wird zitiert mit einem Vortragstitel, der sowohl die Nichtausschließlichkeit wie auch die Relativität der Identitätsmarker betont: „Mujer, latinoamericana, judía, escritora, en ese orden o en cualquier otro“ (zit. nach Gedächtnis, 33). Pfeiffer kommentiert die kulturell-identitäre Heterogenität des in ihren beiden Bänden dokumentierten Phänomenbereichs in ihrem Vorwort zu Gedächtnis wie folgt: „Somit kann sehr schön beobachtet werden, wie territoriale, kulturelle, ethnische oder religiöse Zuschreibungen in einer globalisierten, hybriden Welt von Vielfachzugehörigkeiten und pluralen Identitäten langsam aufhören, in essentialistische Zuschreibungen zu münden, sondern Facetten, Spielarten, Schattierungen eines multiplen Selbst werden, das zwischen verschiedenen Welten und Systemen verkehren kann“ (Gedächtnis, 33).

Die letzten Gesichtspunkte machen deutlich, inwiefern die den beiden Bänden zugrunde gelegte Annahme der Existenz einer „jüdisch-argentinischen Literatur“ kein solides Fundament darstellen kann. Eine sinnvolle Verwendung dieser Kategorie würde darin bestehen, das Feld der literarischen Produktion Argentinien mittels einer „weichen“ Typologie zu ordnen. Was letztlich eine/n spezifisch jüdische/n Literaten/Literatin ausmacht, ist dadurch noch lange nicht gesagt. Problematisch wird die Kategorie, die sinnvoll ist, insofern sie auf spezifische Erzähltraditionen, Stoffgeschichten oder explizite Problematisierungen jüdischer (historischer, kultureller, politischer) Angelegenheiten verweist, wenn sie auf Herkunft abstellt und aus diesem Sachverhalt eine Besonderheit abzuleiten beansprucht. Diese thematische Spannung ist dem Band eingeschrieben und, wie die zitierten Randbemerkungen der Herausgeberin zeigen, auch in dessen Anlage mitbedacht. Generell stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die Klassifizierung „jüdisch-argentinischer Literat“ denn überhaupt auf Personen wie Andrés Neuman anzuwenden sind, inwiefern die Zuschreibungen „jüdisch“ und „argentinisch“ überhaupt etwas beschreiben, was Neumans Schreiben wesentlich ausmacht, oder ob diese Zuschreibungen nicht vielmehr ein angemessenes Verständnis seiner literarischen Produktion verstellen und jenes eher in denn Begriffen einer „Weltliteratur“ denn im Rahmen nationalphilologisch ausgerichteter Konzeptionen zu gewinnen wäre. Grenzen und „Wesensgehalt“ der Kategorie „jüdisch-argentinische Literatur“ sind porös. Was tun mit einem der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, David Viñas, der nie als jüdisch-argentinischer Autor wahrgenommen wurde, dem aber „genealogisch“ über seine Mutter Esther Porter eine jüdische Herkunft oder Identität zugeschrieben werden könnte; oder mit der Künstlerin Marta Minujín, die argentinische Konzeptkünstlerin, die auf der documenta 14 in Kassel mit dem Parthenon der Bücher für Aufsehen gesorgt hat: in dem Medientrubel über die exzentrische Künstlerin und ihr Werk spielte ihre „Herkunft“ keine Rolle; oder, um weitere Beispiele aus dem literarischen Feld heranzuziehen: wie verhält es sich mit dem argentinischen Gegenwartsautor Martin Kohan, dessen behandelte Stoffe die Klassifizierung als „jüdisch-lateinamerikanischer Literatur“ nicht hergeben, oder aber mit Ariel Magnus, dessen Stoffe dies sehr wohl tun. Magnus, dessen Roman La abuela (2006) sich autobiographisch motiviert mit der Lebensgeschichte seiner jüdischen Großmutter, einer Überlebende der Shoah, auseinandersetzt (und der 2012 bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel Zwei lange Unterhosen der Marke Hering veröffentlicht wurde), spielt in den Bänden ebenso wenig eine Rolle wie Andrés Rivera. Wie Rivera einschätzen, dessen biographische Herkunft aus einer Immigrantenfamilie, deren Eltern vor den Pogromen im Zarenreich fliehen mussten, in der Wahrnehmung seines literarischen Oeuvres keine größere Rolle spielte: das Werk des ehemaligen Fabrikarbeiters und späteren Schriftstellers trägt deutliche politische Züge, bewegt sich im Kosmos von Gewerkschaften, Textilarbeitern und revolutionären politischen Organisationen und Überlegungen, wobei die Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft und Identität erst in seiner letzten Erzählung Kadish (2011) größere Bedeutung spielte.

Der Phänomenbereich, der als „jüdisch-argentinische Literatur“ bezeichnet werden kann, ist weniger eindeutig als es zunächst erscheint. Auch wenn die Bände an manchen Stellen die Existenz eines transparenten Gegenstandes zu insinuieren tendieren, zeigen sie doch zugleich die Komplexität des umrissenen Phänomens. Sie stellen eine gelungene Fortsetzung von Forschungen dar, die bisher in der deutschsprachigen historischen wie philologischen Lateinamerikanistik geleistet wurden – wie, um nur ein Beispiel zu nennen, die Arbeit Zion und Zionismus in der jüdisch-argentinischen Literatur von Reiner Kornberger (2003) – und die auch in den wissenschaftlich-bibliographischen Rahmungen der beiden Bände dokumentiert sind. In beiden Bänden ist eine Einleitung von Saúl Sosnowski, Leonardo Senkman und Florinda Goldberg über die „jüdisch-argentinischen AutorInnen in Exil, Migration und Diaspora“ enthalten wie auch der Epilog von Elisabeth Baldauf-Sommerbauer. Es wirkt etwas einfallslos, dass sowohl der sehr informative, einführende Artikel von Sosnowski, Senkman und Goldberg aus Augen in Gedächtnis einfach übernommen wurde. Das gleiche gilt für das Nachwort von Baldauf-Sommerbauer, das schon in Augen am Ende des Buchs einen theoretisch informierten Überblick über Zugehörigkeiten im Kontext von Exil, Migration und Diaspora lieferte und das in Gedächtnis in leicht veränderter Form wiederabgedruckt ist. Eine anders gestaltete Rahmung der Autorenporträts und Interviews der beiden Bände hätte den einzelnen Bänden noch ein eigenständigeres Profil verleihen können.

Zudem sei noch kritisch angemerkt, dass der Titel des zweiten Bandes Sie haben unser Gedächtnis nicht auslöschen können irreführend ist. Die Wendung ist einem Interview mit Sara Rosenberg entnommen und könnte, für sich genommen, missverstanden werden. Sie legt, zumal in der Kombination mit dem Untertitel „Jüdisch-argentinische Autorinnen und Autoren im Gespräch“, eine Assoziation der Begriffe „Auslöschen“ und „Gedächtnis“ und somit einen Bezug auf die Shoah nahe. Diese naheliegende Interpretation gibt das Zitat jedoch nicht her, geht es doch an der zitierten Stelle des Interviews um ein ganz anderes Gedächtnis und um die Erinnerung an eine politische Erfahrung Rosenbergs: Es geht um das Milieu der seit den 1960er Jahren stark politisierten argentinischen Intellektuellen und Aktivisten, zu deren politischer Bekämpfung der argentinische Staat im Laufe der 1970er Jahren, sowohl zu Zeiten der Demokratie als auch während der Militärdiktatur, zu paramilitärischen und genozidalen Methoden gegriffen hatte. Rosenberg berichtet von diesen politisierten Milieus der 1970er Jahre und von deren Kampf um Gerechtigkeit und Gleichheit, der ihrer Erinnerung zufolge konsequent verfolgt wurde. Im Argentinien der jüngsten Gegenwart (das Interview wurde 2013 durchgeführt) sei es gelungen, Erinnerung und Kampf zu verbinden und ein aktives Gedächtnis an jene Epoche des politischen Kampfes zu stiften und somit neue Generationen zu motivieren, diese politischen Kämpfe wiederaufzunehmen: „[s]ie haben unser Gedächtnis nicht auslöschen können“ (Mit den Augen in der Hand, 112). Das Zitat dieser Wendung im Buchtitel legt somit einen Bezug auf ein spezifisch jüdisches Opfergedächtnis oder gar auf die Shoa nahe, was allerdings in der eigentlichen Aussage des Interviews gar nicht enthalten ist.

Insgesamt sind jedoch die beiden Bände auch in ihren thematischen Bezügen auf die Geschichte des Antisemitismus eine sehr informative wie notwendigerweise niederschmetternde Dokumentation. Die Interviews zielen, geschickt von Pfeiffer geführt, oftmals auf Elemente des Familiengedächtnisses ab, so dass die in einem weiten Sinne dokumentierte „Exilliteratur“ – d.h. Literatur „Exilierter in erster, zweiter oder dritter Generation“ – eine Erinnerung stiftet an die Vertreibung und Flucht aus Europa wie auch an das Ankommen in Argentinien und an die Integration in die argentinische Gesellschaft und partiell auch den Nachhall der antisemitischen Verbrechensgeschichte in den Subjektivitäten der Gegenwart sichtbar macht. Neben dem sehr schönen Einblick in Auszüge der argentinischen Gegenwartsliteratur vermitteln die Bände, wie schon erwähnt, ein beeindruckendes Wissen über Verfolgung, Flucht und das Ankommen in Argentinien.

Die Bände stehen insofern in der besten Tradition der Interviews, die Gert Eisenbürger seit Beginn der 1990er Jahre unter dem Motto Lebenswege für die Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika, kurz ila, durchgeführt hat und von denen 1995 eine Auswahl in dem kleinen Verlag Assoziation A veröffentlicht wurde. Unter diesen befinden sich auch Gespräche mit Schriftstellern wie dem aus Wien stammenden Alfredo Bauer oder dem in Fürth aufgewachsenen Robert Schopflocher, die beide als Juden vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten und später in Argentinien auf Spanisch zu schreiben begonnen haben und deren Schreiben sich unter anderem auch um Verfolgung, Flucht und Integration drehte. Handelt es sich bei Bauer und Schopflocher nicht vielleicht auch um „jüdisch-argentinische Autoren“? Auch wenn weder Bauer noch Schopflocher in den Bänden erwähnt werden (wie leider ebenso wenig der Band von Eisenbürger), kann doch gerade an deren beiden Leben und Werken gezeigt werden, wie problematisch oder verkürzend nationalphilologische und klare identitäre Attribuierungen in der heutigen Gegenwart sein können, deren literarische Produktion viel eher im Zeichen von „Weltliteratur“ zu diskutieren wäre. Der vielschichtige Kosmos von Autorinnen und Autoren, für die Argentinien sowie das Judentum eine bedeutende Rolle spielt oder gar einen wichtigen Identitätsmarker spielt, biographisch, kulturell wie auch politisch, ist und bleibt ein atemberaubendes Untersuchungsfeld. Für deren weitere Diskussion und Erforschung liefern die Bände von Pfeiffer wichtige Impulse, die in weltphilologischer oder wie auch immer apostrophierter transnationaler Perspektive aufgenommen werden sollten.

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One thought on “Jüdisch-argentinische Literatur (Doppelrezension P. Eser)

  • Ich darf in diesem Zusammenhang hinweisen auf die Dissertation von Anastasia Telaak, ‚Körper Sprache Tradition. Jüdische Topographien im Werk zeitgenössischer Autorinnen und Autoren aus Argentinien‘. Berlin, wbv, 2003. ISBN 3-936846-17-0.Die Arbeit vor allem folgenden Autoren/Autorinnen: Mario Szichman, Alicia Steimberg, Alejandra Pizarnik.

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