Queere Körper-Geschichte(n): Mathieu Riboulet (Chr. Behrens)
Christoph Behrens, âQueere Körper-Geschichte(n): RĂ©Ă©criture und mĂ©moire corporelles in Mathieu Riboulets âLes Ćuvres de misĂ©ricordeââ, Vorabdruck des Artikels in Romanische Studien 6 (2019).
Queere Körper-Geschichte(n)
RĂ©Ă©criture und mĂ©moire corporelles in Mathieu Riboulets Les Ćuvres de misĂ©ricorde
Christoph Behrens (Rostock)
In einem zu spĂŒrenden Umbruch in der französischen Erinnerungspolitik und Geschichtsschreibung, der zwischen der Dekonstruktion des âbon usage de la mĂ©moireâ und der archĂ€ologischen Besessenheit von der âmĂ©moire fouillĂ©eâ schwankt, setzen Mathieu Riboulets Les Ćuvres de misĂ©ricorde (2012) ein Zeichen.
Der Autor skizziert eine körperliche Umdeutung und âqueerendeâ Appropriation jenes christlichen-normativen âdevoir de mĂ©moireâ zu einer rĂ©ecriture und mĂ©moire corporelles, die es sowohl in der Aushandlung des Genres des revisionistischen historischen Romans als auch in der narratologischen Innovation seines Werkes hin zu einer queer narratology, die den Körper als ErzĂ€hlinstanz propagiert, zu zeigen gilt.
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Admettre quâĂ©crire câest justement travailler (dans) lâentre, interroger le procĂšs du mĂȘme et de lâautre sans lequel rien ne vit, dĂ©faire le travail de la mort, câest dâabord vouloir le deux, et les deux, lâensemble de lâun et lâautre non pas figĂ©s dans des sĂ©quences de lutte et dâexpulsion ou autre mise Ă mort, mais dynamisĂ©s Ă lâinfini par un incessant Ă©changement de lâun entre lâautre sujet diffĂ©rent, ne se connaissant et se recommençant quâĂ partir du bord vivant de lâautre: parcours multiple et inĂ©puisable Ă milliers de rencontres et transformations du mĂȘme dans lâautre et dans lâentre, dâoĂč la femme prend ses formes (et lâhomme, de son cĂŽtĂ©; mais câest son autre histoire). 1
1. Die âWerke der Barmherzigkeitâ: literarische Aneignung religiöser Praxis
Das Jahr 2016 wurde von Papst Franziskus zum âauĂerordentlichen heiligen Jahr der Barmherzigkeitâ erklĂ€rt.
Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. [âŠ] Barmherzigkeit ist das grundlegende Gesetz, das im Herzen eines jeden Menschen ruht und den Blick bestimmt, wenn er aufrichtig auf den Bruder und die Schwester schaut, die ihm auf dem Weg des Lebens begegnen.
So Franziskus zu Beginn seiner Misericordiae Vultus2 vom 11. April 2015. Im Mittelpunkt dieses JubilĂ€ums stehe somit die RĂŒckbesinnung des Christentums auf die âSieben Werke der Barmherzigkeitâ, jene AufzĂ€hlung von moralischen, spirituellen und körperlichen Imperativen, die im MatthĂ€us-Evangelium (Mt. 25, 35â46)3 die sogenannte Endzeitrede Jesu, seine letzte Rede, â bei MatthĂ€us folgt darauf direkt die Passionsgeschichte â, die er auf dem Ălberg adressiert an seine JĂŒnger gehalten habe, abschlieĂen.
Diese Rede enthĂ€lt neben mehreren Gleichnissen, mit denen Jesus auf seinen bevorstehenden Opfertod, seine Auferstehung sowie auf die universale Eschatologie des Weltgerichts hinweist, eben Jesu letzte Unterweisung seiner JĂŒnger, die sieben Imperative der Barmherzigkeit: Hungernde speisen, Durstige trĂ€nken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene besuchen und Tote bestatten4. Die Bedeutung der Werke der Barmherzigkeit liegt darin, nicht im Gedanken an die eigene weltgerichtliche Belohnung zu handeln, wie Luther der römisch-katholischen Kirche in seinem Sermon von den guten Werken (1520) in Bezug auf ihre Praxis, durch gute Werke im Leben trotz der eigenen SĂŒndhaftigkeit Gnade vor Gott zu erhalten, scharf vorwarf, sondern in Barmherzigkeit, in misericordia, d.h. wörtlich etwa mit dem Herzen bei den Elenden zu sein. Die tiefe Verankerung der Barmherzigkeit â und so auch der caritas, der tĂ€tigen NĂ€chstenliebe â in der katholischen Konfession und Glaubenspraxis5 fĂŒhrt zu einer weiteren Differenzierung bzw. Doppelung der Sieben6 Werke in spirituelle (Lehren, Beraten, Trösten, Zurechtweisen, Verzeihen, Ertragen, Beten) und körperliche (Speisen, Beherbergen, Bekleiden, Besuchen der Kranken und Gefangenen, Begraben, Geben). Das spirituelle und körperliche âguteâ Handeln der Glaubenden soll zu einem stĂ€rkeren Glauben, einem besseren Zusammenleben und natĂŒrlich zur Gnade fĂŒhren.
Mathieu Riboulet greift im Vorwort seines gleichnamigen Werks, Les Ćuvres de misĂ©ricorde (2012)7, die von mir skizzierten WissensbestĂ€nde katholischer religiöser Praxis auf:
[âŠ] les Ćuvres de misĂ©ricorde forment un ensemble dâimpĂ©ratifs moraux Ă©dictĂ©s par lâĂglise, censĂ©s dâobliger les chrĂ©tiens et peser leur poids lourd dans la balance du Jugement dernier. Au nombre de sept, comme les pĂ©chĂ©s capitaux, elles sont comme eux connus de tous ceux qui, nĂ©s en culture chrĂ©tienne, en sont imprĂ©gnĂ©s, quâils le veuillent ou non, sans bien savoir ni dâoĂč ils en tiennent la connaissance, ni Ă quoi elle se rattache prĂ©cisĂ©ment. [âŠ] On nâa rien sans rien.8
Riboulet stellt sein Werk somit in den Rahmen des katholischen Katechismus, den der Autor als tief verankertes kulturelles Praxis- und Ăberlebenswissen jedes/r Einzelnen/r herausstellt, dessen Kenntnis unbewusst erfahren wurde und unbewusst die LebensfĂŒhrung steuere. Gleichzeitig wird im Prolog auch die von Luther angegriffene Werkgerechtigkeit, der Zwang der guten Tat zur Sicherung der eigenen Gnade, durch ein Wortfeld der Macht und UnterdrĂŒckung (âformer, impĂ©ratifs moraux, Ă©dicter, censer, obliger, peser, poids, lourd, jugement, pĂ©chĂ© capital, imprĂ©gner, etc.â) aufgerufen, welches das Tun guter Werke nicht als Frömmigkeitspraxis darstellt, sondern es sich vielmehr als Zwang, als einen âdevoir spirituel et corporelâ entpuppen lĂ€sst, als notwendiges Ăbel, um dem âchĂątiment Ă©ternelâ9 zu entkommen bzw. als dem Menschen aufoktroyiertes Dilemma zwischen âchĂątiment Ă©ternelâ oder âvie Ă©ternelleâ entscheiden zu mĂŒssen.
Das kurze Vorwort, das eher einem katechetischen Lehrtext denn einer HinfĂŒhrung zur kommenden ErzĂ€hlung gleicht, endet mit der Episode des MatthĂ€us-Evangeliums (25, 41â46), die die Endzeitrede besiegelt und in der Jesus âdie Spreu vom Weizen trennt.â Die extradiegetische ErzĂ€hlstimme entgegnet darauf ablehnend resĂŒmierend: âOn nâa rien sans rien.â Im Kontext verweist das ârien sans rienâ zuallererst auf die fast blinde, unverstandene Aneignung christlicher Morallehre, denn ohne das Bewusstsein fĂŒr eine Handlungsanleitung kann diese auch zu keinem Resultat fĂŒhren. Das doppelte ârienâ ist demnach ein Handlungs-Nichts, welches das erzĂ€hlerische Ich des nun folgenden Texts fĂŒllen wird. Dass ohne gutes oder schlechtes Handeln kein gutes oder schlechtes Ergebnis entsteht und umgekehrt, lĂ€sst das ârien sans rienâ zu einer Leerstelle in einem Handlungsschema werden, welches zum FĂŒllen, zur Handlung aufruft. âRien sans rienâ nimmt demnach performativen Charakter an, es lĂ€dt erst dazu ein, sich die katechetischen Werke anzueignen, das ârienâ im Sinne der zuvor erwĂ€hnten unverstandenen PrĂ€gung aufzulösen, gar zu konterkarieren und das Nichts neu zu fĂŒllen. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lĂ€sst dies bereits erahnen: Nicht nur werden die 7 jeweils doppelten Werke zu 18, darĂŒber hinaus werden ihre Maximen â und es sei bereits darauf verwiesen, dass es sich dabei besonders um die sogenannten körperlichen Werke handelt, die, so das Vorwort, im Vordergrund stehen sollen â konterkarierend und ironisierend, vielleicht sogar blasphemierend, erweitert, bspw.:
3. Toucher ceux qui sont nus;
6. Toucher ceux qui sont morts;
13. Payer ceux qui nous baisent;
14. Payer ceux qui nous tuent;
15. HaĂŻr les malades, les prisonniers, les pĂšlerins, les morts, ceux qui ont faim et soif, haĂŻr ceux qui sont nus; etc.
Die Werke der Barmherzigkeit bilden daher, wie der Titel bereits aufzeigt und das Vorwort ausfĂŒhrt, das soziokulturelle GerĂŒst fĂŒr die poetologische Aneignung des repressiven und eschatologischen christlichen Narrativs, dessen vor allem körperliche Dimension10, zu Ungunsten der in der christlichen Vorstellung rein zu haltenden Seele, als performative Triebfeder gelten soll. Im Folgenden gilt es herauszustellen, dass die Werke der Barmherzigkeit ihrer christlichen Dimension enthoben und in eine metahistoriographische Revision der Schuldfrage in der kriegerischen Geschichte deutsch-französischer (1870â1945), aber auch transnationaler ethnischer Konflikte ĂŒberfĂŒhrt werden. Besonders die körperliche Ebene, die BerĂŒhrung der Elenden soll dabei als Motor der Narration und der Revision ins Blickfeld rĂŒcken. In diesem Zuge erfĂ€hrt die in der christlichen Barmherzigkeit angelegte körperliche NĂ€he nicht nur eine Sexualisierung, die sexuelle Vereinigung als eine transformative Körperlichkeit darstellt, sondern darĂŒber hinaus ein queering, d.h. eine Reperspektivierung von Erinnerungs- und Mitleidens-Praxis unter Einbezug eines fluiden, nicht-heteronormativen gender–sexuality-Spektrums, die, so soll gezeigt werden, die metahistoriographische Perspektive des Werkes speist. Die Pole von Gewinnern und Verlierern, Mördern und Ermordeten, Eros und Thanatos, Lust und Gewalt sowie Dominanz und Dominiert-Sein werden auf diese Weise dynamisiert und können so reevaluiert und neu interpretiert werden. Die Ă€sthetische Strategie des Romans resultiert meiner These zufolge in einer queeren Appropriation zweier soziokulturell tief verankerter Anforderungen: des âdevoir spirituel et corporelâ des Katechismus und des âdevoir de mĂ©moireâ11, jenes âbon usage de la mĂ©moireâ12, d.h. des normierten und verpflichtenden Modus, âune tradition Ă transmettreâ13, der Erinnerung an v.a. die Shoah.
Der namenlose ErzĂ€hler versucht damit eine Antwort auf die ontologischen Fragen âQue faire de tous ces morts, oĂč vivre, comment aimer?â14 zu finden, die ihn wie ein Spuk aus den groĂen Kriegen plagen. Gibt es eine Tradition, eine vielleicht sogar körperlich weitergegebene Vorsicht, Resultat einer Gewalterfahrung, die sich ĂŒber Generationen tradiert hat? Inwieweit sind die KriegsgrĂ€uel der vergangenen einhundertfĂŒnfzig Jahre in den heute Lebenden noch körperlich und spirituell prĂ€sent? Vor allem aber: Was ist angesichts dieser Geschichte heutzutage der âdevoir de misĂ©ricordeâ aus dem MatthĂ€us-Evangelium und der âdevoir de memoireâ der historiographischen Tradition? Riboulet lĂ€sst seinen französischen Ich-ErzĂ€hler zwischen Deutschland und Frankreich pendeln, um sich auf die Suche nach den Erinnerungen zu begeben, die die Erbfeindschaft zwischen beiden LĂ€ndern antreiben. Seine âunorthodoxeâ Methode15: Er zieht nicht nur die Literatur selbst, die Kunst, den Film16 und geschichtliche Dokumente sowie Monumente zu Rate, sondern auch den Körper. Indem er sich dem âDeutschenâ ĂŒber ausschweifende sexuelle Akte annĂ€hert, will er den de pĂšre en fils tradierten Zorn versuchen umzuschreiben. Er reist zuerst nach Köln und lernt Andreas kennen, einen deutschen Mann, mit dem er spĂ€ter mehrere Episoden in Berlin-Schönberger Darkrooms verbringt und die HistorizitĂ€t der Hauptstadt erfĂ€hrt. Hier lernt die mĂ€nnliche ErzĂ€hlinstanz auch TadjĂźn kennen, jenen âprince dâOrientâ, einen Deutsch-Kurden, der sich sein Studium als sexworker finanziert. In Frankreich entwickelt das erzĂ€hlende Ich zeitgleich eine weitere amouröse Bindung mit dem obdachlosen Kniegeigenspieler Adrien.
In seiner promisken SexualitĂ€t erst erfĂ€hrt das erzĂ€hlende Ich, wie Historie sinnlich erlebt werden kann. Was ĂŒber Jahrhunderte tiefe Narben in den Charakteren hinterlassen hat, beginnt plötzlich (wieder) neu zu schmerzen. Die GrĂ€ueltaten und Verbrechen der Vergangenheit â einen speziellen Fokus setzt Riboulet dabei auf das Schicksal der sogenannten âRosa Winkelâ â werden inkarniert und âperformedâ. Der Autor schöpft dabei aus der Dehiszenz zwischen Eros und Thanatos, zwischen Lust und Todesgewalt, um mit historiographischer Sorgfalt und erotischer Körperlichkeit das kollektive GedĂ€chtnis zu revisionieren. Riboulet berĂŒhrt die historisch vernarbten Körper mit einer narratologischen Dynamik und sprachlichen PerformativitĂ€t, die es im Weiteren zu erkunden gilt.
âfictions & rĂ©alitĂ©sâ: der revisionistische historische Roman
âMĂ©ditation mĂ©taphysique, roman vrai, essai esthĂ©tique, Les Ćuvres de misĂ©ricorde est tout cela et plus encore: un livre Ăąpre et magnifique, inclassable et Ă©mouvant [âŠ].â17 Ein deutscher Rezensent der Ăbersetzung (2016) schlieĂt sich diesem Urteil an und konstatiert: âDie âWerke der Barmherzigkeitâ sind in der Hauptsache gedanklich interessante Essays [âŠ].â18 Auch wenn ich Riboulets Werke â diese Bezeichnung habe ich bis hierher bewusst gewĂ€hlt â als alles andere als metaphysisch bezeichnen wĂŒrde, so ist die Ansicht der Rezensenten ĂŒber die Genre-HybriditĂ€t der Ćuvres de misĂ©ricorde zu teilen. Anders als die Literaturkritik sehe ich darin jedoch keinen Makel, sondern ein bewusstes Potential des Werkes. So kann dennoch von einem Roman, nĂ€mlich einem fast âklassischenâ postmodernen Roman, gesprochen werden, der abschnittsweise an einen historischen, psychologischen oder Liebesroman erinnert, aber seine stringente Narration durch essayistische, ekphrastische und (auto-)biographische Episoden und Ellipsen durchbricht. Riboulet schlieĂt hiermit, und dies mag der Grund fĂŒr die Abwertung der Kritik sein, weniger an das Geschichtsbild des nouveau roman19 an als vielmehr an eine sensu lato europĂ€ische und transatlantische Genrekonzeption des postmodernen Roman, wie sie wohl am prominentesten in den Postille (1983) zu Ecos Il nome della rosa (1980) dargelegt wurde. Anders als der moderne Roman, der, ausgelöst durch den âSinnverlustâ der Entfremdung, die das Individuum im âwaste landâ T. S. Elliots erfĂ€hrt, in permanente Ă€sthetische Selbstreflexionen ĂŒber seinen Status als Sprachkunstwerk und Fiktion verfĂ€llt, fĂŒhrt der postmoderne Roman wieder zu einem Spiel mit der mimetischen Illusion und arrangiert in Collagen und Pastiches bekanntes Material neu. Anders also als der avantgardistische nouveau roman, der die poiesis der mimesis vorzieht, baut der postmoderne Roman ein intertextuelles VerhĂ€ltnis zur RealitĂ€t auf. Besonders im Zuge des nordamerikanischen New Historicism der 1980er-Jahre wurde das VerhĂ€ltnis von histoire und Histoire, von literarischer ErzĂ€hlung und Geschichtsschreibung, neu bestimmt. Riboulet selbst gibt einen Hinweis auf die Verortung seines Werkes in dieser Debatte im Peritext. Dort heiĂt es im Untertitel des Innencovers: âfictions & rĂ©alitĂ©s.â20 Diese besonderen FiktionalitĂ€tsindikatoren schreiben Les Ćuvres de MisĂ©ricorde erneut in die postmoderne Verhandlung von FaktizitĂ€t und FiktionalitĂ€t bzw. FiktivitĂ€t von literarischer GeschichtserzĂ€hlung einerseits und historiographischer ErzĂ€hlung andererseits ein.
Der Historiker Hayden White fasste erstmals in Metahistory (1973) diese These prĂ€gnant zusammen: Er spricht von einer generellen LiterarizitĂ€t der Histoire, âhistory is no less a form of fiction than the novel is a form of historical representation.â21 Im Gegensatz zu Aristolelesâ Poetik, in der der Geschichtsschreiber vom Dichter unterschieden wird, da âder eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnteâ22, wĂŒrden die Historiker, so White, âconstitute their subjects as possible objects of narrative representation by the very language they use to describe them.â23 Historie sei daher nicht âunmittelbarâ zugĂ€nglich, es gĂ€be keine âGeschichte an sichâ, sondern lediglich âa verbal structure in the form of a narrative prose discourse that purports to be a model [âŠ] of past structures and processes in the interest of explaining what they were by representing them.â24 Jede Historie ist somit immer nur ĂŒbermittelte ErzĂ€hlung; jede Historiographie ist demnach immer durch grundlegende sprachlich-rhetorische und literarische Muster vorstrukturiert, âdie ErzĂ€hlstrukturen der Historiographie [sind] selbst semantisiert, d.h. aufgeladen mit Bedeutung sowie mit ideologischen und politischen Implikationen.â25
Auch wenn Whites Argumentation berechtigte Kritik vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft erfahren hat26, so bildet die postmoderne Geschichtsauffassung bzw. eben das neu verhandelte VerhĂ€ltnis zwischen âfictions & rĂ©alitĂ©sâ dennoch die Grundlage fĂŒr eine innovative Produktions- und RezeptionsĂ€sthetik des Historischen. Riboulets Werke nehmen an diese besonders in der Anglistik und Nordamerikanistik verhandelte âhistoriographic metafictionâ27 Anschluss28.
[D]ieses Genre hat neue Erscheinungsformen der [âŠ] Fiktion hervorgebracht, die sich in selbstreflexiver Weise mit Problemen historischer und historiografischer Sinnbildung auseinandersetzen und produktive Fiktionen fĂŒr die kollektive Erinnerung und die Generierung von Geschichtsbildern in der zeitgenössischen Gesellschaft ĂŒbernehmen, [âŠ] die mit neuen Textverfahren und literarischen ReprĂ€sentationen von Geschichte Anteil an der Herausbildung der Geschichtsbilder seiner Gesellschaft hat.29
Das Anliegen der metahistoriographischen Fiktion30, wie ihr VerhĂ€ltnis eigentlich zu benennen wĂ€re, ist es, die âdark areas of historyâ darzustellen, ĂŒber welche die offizielle Historiographie schweigt. In seiner zweibĂ€ndigen Habilitationsschrift Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (1995) leitet NĂŒnning aus dieser Funktionsbestimmung fĂŒnf Subgenres ab; besonders der als ârevisionistischâ31 bezeichnete historische Roman soll als weitere Bestimmungsfolie dienen.
The postmodernist historical novel is revisionist in two senses. First, it revises the content of [and reinterprets, CB] the historical record, often demystifying [âŠ] the orthodox version of the past. Secondly, it [âŠ] transforms the conventions and norms of historical fiction itself.32
In zweifacher Weise greift diese Bestimmung des Romans Riboulets Ă€sthetische Strategie auf: einerseits beschreibt sie die Desakralisierung der Barmherzigkeit, der Orthodoxie im Umgang mit den Opfern bzw. Feinden; andererseits ist hier jedoch auch die den Roman Riboulets tragende Ăberschreitung von heteronormativen wie auch narratologischen Normen und Konventionen, die die Geschichtsschreibung und -fiktion33 besonders der groĂen Kriege bestimmen, Rechnung getragen.
Riboulets Werk ist demnach nicht ein, wie so oft in Besprechungen hervorgehoben, âroman homosexuelâ34 per se, sondern er nutzt vermeintliche Devianz nicht nur primĂ€r gattungsbezogen, sondern darĂŒber hinaus auch mit dem Ziel, die kanonische Historiographie um bis dato âverborgene Themenâ zu erweitern und kritisch zu hinterfragen. Etablierte Geschichte/n werden umgeschrieben und durch alternative âGegengeschichtenâ35 aufgebrochen, âgequeertâ. Les Ćuvres de misĂ©ricorde liegen somit mehrfach âquerâ zum historiographischen und Genre-Diskurs, sie defamiliarisieren ihn, um âverĂ€nderte Auffassungen von Geschichte, Erinnerung, GedĂ€chtnis, Zeit und historischer Erkenntnisâ, ergo neue Deutungsmuster zu befördern.
Erweitert werden kann dieser Genre-Diskurs noch um die Feststellung, dass GedĂ€chtnis immer gendered 36 â und wie uns Riboulet zeigt â eben auch sexualized ist. GeschlechterverhĂ€ltnisse und SexualitĂ€tsdiskurse sowie die Praxis kulturellen Erinnerns und Vergessens bzw. auch die bewusste Auslassung und das Verschweigen von Erinnerungen stehen in einem WechselverhĂ€ltnis: Normierungen von Geschlecht und SexualitĂ€t, also die Wertestruktur der âheterosexuellen Matrixâ bzw. der âZwangsheterosexualitĂ€tâ, prĂ€formieren auch die Selektionsprozesse kultureller Erinnerung. Beste Beispiele sind etwa die âGeschichten groĂer MĂ€nnerâ oder die explizite Aufarbeitung der (Lebens-)Geschichte von LGBTI*Q-Personen. âKulturelles Erinnern kann [demzufolge] bestehende GeschlechterverhĂ€ltnisse legitimieren oder delegitimierenâ37, d.h. im Gegenzug HeteronormativitĂ€t und Erinnerungshegemonien hinterfragen.
Es ist ein Konsens der GedĂ€chtnisforschung, dass Formung die Voraussetzung fĂŒr Erinnern ist.38 Aktives Erinnern erfolgt durch Aufrufen der Erinnerung in einem Repertoire konventionalisierter Formen, Wiedergebrauchsmuster, Riten und Bilder. Gattungen stellen diese Konventionen in der Literatur dar und werden so zu TrĂ€germedien von Ideologien des kulturellen GedĂ€chtnisses, d.h. sie kontrollieren Historiographie und Historie. Gender, Sexuality, Erinnerung und Genre wirken demnach wechselseitig zusammen. Les Ćuvres de misĂ©ricorde loten den schmalen Grat zwischen diesen Komponenten auf der einen Seite durch ihre transgressive Thematik, auf der anderen Seite durch ihre Genre-UnverlĂ€sslichkeit aus. In dieser Ăberschreibung scheinen sie also weniger mimesis denn poeisis zu sein39, eben jenes performative AuffĂŒllen des ârien sans rien.â Als besonders wirksam scheint in diesem KrĂ€ftespiel die ungewöhnliche ErzĂ€hlinstanz: der namenlose, sexuell aktive, homosexuelle Körper, dessen PerformativitĂ€t ich mich abschlieĂend widmen möchte.
âIl mâa fallu comprendre le Corps Allemandâ: rĂ©Ă©criture und mĂ©moire corporelles als Voraussetzung einer queer narratology
Aus der poststrukturalistischen Diskussion um Geschlecht und SexualitĂ€t ist der Körper als Ort und Medium gesellschaftlicher Einschreibungen und Anforderungen nicht mehr wegzudenken. Der Körper ist in das Sprechen und Wissen ĂŒber Körper eingebunden und Produkt desselben. Der Diskurs wiederum verschleiert diese Prozesse und erzeugt den Körper als âNaturâ, genauer als Naturalisierung. Der Körper ist demnach ein Archiv, âein Ort der Einschreibung kulturellen Wissens, [an dem sich] Formen der Tradierung, der Fixierung, Verwerfung und Umschrift erinnerter oder vergessener Geschichte(n)â40 artikulieren. Der Körper dient folglich als ZeichentrĂ€ger kultureller Erinnerung, die, um sensu lato mit Butler zu sprechen, in sich wiederholenden, iterablen performances vorherrschender Normen und Praktiken hervorgebracht und gefestigt wird. Der Körper besitzt eine mĂ©moire corporelle bzw., wie Riboulet es spezifiziert:
Il mâa fallu comprendre le Corps Allemand, majuscules Ă lâappui, aprĂšs ĂȘtre entrĂ© Ă trois reprises dans la vie française par effraction (1870, 1914, 1939), continue Ă façonner certains apects de notre existence dâhĂ©ritiers de cette histoire. [âŠ] Je veux serrer dans mes bras le corps dâun de ces hommes dont je ne parle pas la langue, le corps dâun de ces hommes que lâHistoire longuement mâopposa, le corps dâun homme allemand.41
Die Produktion und Reproduktion von Körpererinnerung erweist sich aufgrund ihrer PerformativitĂ€t als dynamischer Prozess. Diese Dynamik macht sich Riboulet auch auf narratologischer Ebene zunutze und bindet sie an die Revision des âdevoir de mĂ©moireâ zurĂŒck. Anders als die ErzĂ€hltheorie Genetteâscher PrĂ€gung strebt die postmoderne Narratologiebildung âeine radikale Kritikâ und den âBruch mit der strukturalistischen Tradition an.â42 Gerade eine queer narratology tĂ€te gut daran, die statische, geometrisierende Textkategorisierung zugunsten von âexperimental or âplayâ termsâ43 und einer fluiden Terminologie zu entwickeln. Besonders HĂ©lĂšne Cixousâ Arbeiten zur Ă©criture fĂ©minine, die aufgrund ihrer psychoanalytischen und stark differenzfeministischen Position oft als dĂ©modĂ© gelten, schlagen eine BrĂŒcke von der PerformativitĂ€t weiblicher Schrift zur Körperlichkeit. Anders als die narratologisch strukturierte Textgeometrie geht Cixous von einem âutopischen Programm [aus], das sich einem strukturierenden Zugriff zu entziehen suchtâ44; vielmehr strebt sie einen holistischen Zugang zum Schreiben an, der die strukturalistischen Ebenen von histoire und discours, erzĂ€hlender Instanz und erzĂ€hlter Instanz verschwimmen lĂ€sst45. In einem ihrer meist rezipierten, fast Performance-Essay âLe Rire de la MĂ©duseâ (1975) hĂ€lt die Autorin fest: âIl faut que la femme se mette au texte â comme au monde, et Ă lâhistoire â, de son propre mouvement.â46 Diese Kraft des Einschreibens, die Ă©criture, basiert bereits auf der Ebene des Körpers, denn dieser âconnaĂźt des chants inouĂŻsâ, die es erst ermöglichen âĂ exploser de torrents lumineux, de formes beaucoup plus belles que celles qui encadrĂ©es se vendent pour toute la galette qui pue.â47 Denn es ist gerade der Rahmen einer âsociĂ©tĂ© biblico-capitaliste,â48, der die Geschichtsschreibung entspringe, â[qui] a plus que confisquĂ© [le corps de la femme], dont [lâHistoire] a fait lâinquiĂ©tant Ă©tranger dans la place, le malade ou le mort, et qui si souvent est le mauvais compagnon, cause et lieu des inhibitions.â49 Ihr credo, welches auch als die Poetik Riboulets verstanden werden könnte, lautet demnach: âĂcris-toi: il faut que ton corps se fasse entendre.â â und noch viel treffender in Bezug auf Riboulets Anwendungsbereich dieser Imperative liest sich Cixousâ Schlussfolgerung: âĂcrire [son corps] lâarrachera Ă la structure surmoĂŻsĂ©e dans laquelle on lui rĂ©servait toujours la mĂȘme place de coupable (coupable de tout, Ă tous les coups⊠.â50 Oder, in Riboulets Worten: âEt leur corps est tĂ©moin de lâerrance quâils pratiquent, leur histoire sây inscrit et sây lit sans un mot.â51
Riboulet theoretisiert diese körperliche ErzĂ€hlung nicht nur, sondern setzt sie narratologisch um: in einer rĂ©Ă©criture corporelle52, wie sie in Anlehnung an Cixousâ Konzept bezeichnet werden kann, die narratologisch in Körperpraxis verortete revisionistische ErzĂ€hlung jener Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich.53 Erst die Vereinigung der nicht-zu-vereinbarenden Körper bringt jene transformative Kraft der rĂ©Ă©criture, jene queere Appropriation zum Tragen, die sich direkt in eine Dekonstruktion geschichtlichen Spuks wandelt:
Lâentente sexuelle nâest pas une mince affaire, elle a la puissance imparable des cataclysmes naturels, dĂ©route la raison, la dĂ©boute, ne sâapaise que parvenue au bout de ses propres logiques. Elle nous fait rire, Andreas et moi. [âŠ] Ce que nous touchons dans lâamour en pĂ©nĂ©trant le corps: le lieu oĂč la pensĂ©e bascule, que submerge lâobscur [âŠ].54
Die körperliche ErzÀhlinstanz schafft so eine queere, revisionistische Form narrativer Wirklichkeitserfahrung, die sich als formalÀsthetische Umsetzung von Gesellschaftskritik, d.h. als eine im weitesten Sinne Desakralisierung von GedÀchtnis und Erinnerung, verstehen lÀsst.
In einer Rezension seines neuesten Romans Entre les deux il nây a rien (2015) bezeichnet Sophie Joubert Mathieu Riboulet als âĂ©crivain du corps.â55 In der Tat reihen sich Les Ćuvres de misĂ©ricorde in eine regelrechte Untersuchung der narratologischen und soziokulturellen Potentiale von KörpererzĂ€hlung ein, die Riboulet in seinem Gesamtwerk entwirft. In unterschiedlichsten Settings lotete der Autor den Körper bereits aus: Mit Quelquâun sâapproche (2000), Le Corps des Anges (2005), LâAmant des morts (2008), Avec Bastien (2010), LisiĂšres du corps (2015) und Or, il parlait des sanctuaire de son corps (2016) lĂ€sst sich nicht nur von einer âpolitique inscrite dans le corpsâ, sondern vielmehr auch von einer poĂ©tique inscrite dans le corps sprechen, die sich als Ausgangsbasis fĂŒr innovative Narratologien anbietet.
- HĂ©lĂšne Cixous erstmals erschienen als, âLe Rire de la mĂ©duseâ, LâArc 61 (1975): 39â54; hier zitiert aus HĂ©lĂšne Cixous, Le Rire de la MĂ©duse et autres ironies, hrsg. von FrĂ©dĂ©ric Regard (Paris: GallilĂ©e, 2010), 35â69, hier 51. Der Aufsatz ist zwar in der englischen Ăbersetzung von 1976 erschienen als âThe Laugh of the Medusaâ in Signs 1, Nr. 4 (1976): 875â93 durchaus weiter rezipiert worden, ich möchte jedoch auf den französischen Originaltext verweisen.â©
- Ich beziehe mich auf die deutsche Ăbersetzung. Papst Franziskus, âMisericordiae Vultus: VerkĂŒndigungsbulle des auĂerordentlichen JubilĂ€ums der Barmherzigkeitâ, 15. August 2015, http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_letters/documents/papa-francesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html.â©
- â35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im GefĂ€ngnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.â Lutherbibel 2017, http://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibelâ2017/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/50/250001/259999.â©
- Das siebente Werk âTote bestattenâ wurde durch den Kirchenvater Lactantius (â nach 317) mit Bezug auf das Buch Tobit (1, 17â20) in der katechetischen Tradition hinzugefĂŒgt. Seinem Epitome divinarum institutionum folgend kann sogar von neun Werken gesprochen werden, die mehr oder weniger als Ausdifferenzierung der sieben auf weitere gesellschaftliche Randgruppen der Zeit gelten können: Obdachlose, Waisen, Witwen, Arme, Zugezogene.â©
- Der Katechismus der Katholischen Kirche, Handbuch der Unterweisung in den Grundfragen des römisch-katholischen Glaubens, das von Papst Johannes Paul II. 1992 approbiert wurde, fĂŒhrt die Werke der Barmherzigkeit in ihrer Doppelung unter dem Paragraphen zur Auslegung des Dekalogs, genauer zum 7. Gebot âDu sollst nicht stehlenâ aus: â2447 Die Werke der Barmherzigkeit sind Liebestaten, durch die wir unserem NĂ€chsten in seinen leiblichen und geistigen BedĂŒrfnissen zuhilfe kommen [Vgl. Jes 58,6â7; Hebr 13,3]. Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen sind geistliche Werke der Barmherzigkeit. Leibliche Werke der Barmherzigkeit sind vor allem: die Hungrigen speisen, Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen und Tote begraben [Vgl. Mt 25,31â46]. Unter diesen Werken ist das Almosenspenden an Arme [Vgl. Tob 4,5âIL Sir 17,22] eines der Hauptzeugnisse der Bruderliebe; es ist auch eine Gott wohlgefĂ€llige Tat der Gerechtigkeit [Vgl. Mt 6,2â4]â. Vatikan, âKatechismus der Katholischen Kirche.â http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_P8L.HTM.â©
- Die Zahl Sieben trĂ€gt im Christentum die symbolische Bedeutung der Vollendung. Schon in der Schöpfungsgeschichte verankert, ĂŒber die Sieben Plagen bei Mose bis zu den Sieben Wundern Jesu und den Sieben Posaunen in der Offenbarung des Johannes, kĂŒndet die Zahl von der vollkommenen Vollendung, vom tiefen Zusammenhang der TrinitĂ€t mit den vier (irdischen) Elementen.â©
- Ausgezeichnet mit dem Prix de DĂ©cembre (2012) und sowie 2016 ins Deutsche ĂŒbersetzt. Mathieu Riboulet, Die Werke der Barmherzigkeit, ĂŒbersetzt von Paul Sourzac (ZĂŒrich: Secession Verlag fĂŒr Literatur, 2016).â©
- Mathieu Riboulet, Les Ćuvres de misĂ©ricorde (Lagrasse: Ăditions Verdier, 2012), 10â1, im Weiteren OM.â©
- OM, 11.â©
- âCet ensemble forme donc les Ćuvres de misĂ©ricorde dite âcorporelleâ auxquelles il faut ajouter pour ĂȘtre complet sept Ćuvres de misĂ©ricorde spirituelle [âŠ] dont il ne sera pas question ici [âŠ].â OM, 10â1.â©
- Die hexagonale Debatte und die in den Romanischen Studien (2016) durch Kai Nonnenmacher angestoĂene Debatte in der Romanistik entfaltet sich zwischen Revisionist/innen des âdevoir de mĂ©moireâ, vgl. u.a. SĂ©bastien Ledoux, Le devoir de mĂ©moire: une formule et son histoire (Paris: CNRS Ăditions, 2016); Myriam Bienenstock, Hrsg., Devoir de mĂ©moire? Les lois mĂ©morielles et lâhistoire (Paris: Ăditions de lâĂ©clat, 2014) und BefĂŒrworter/innen, vgl. u.a. Henry Rousso, Face au passĂ©: essai sur la mĂ©moire contemporaine (Paris: Belin, 2016). Le monde des livres vom 24. MĂ€rz 2016 fasst zusammen, âque lâhistoire nâapparaissait plus aux Français comme une tradition Ă transmettre mais comme un espace conflictuel, marquĂ© par lâoubli de ses moments les plus honteuxâ. Dies resultiere, so der Autor Jean-Louis Jeannelle, in einer mĂ©moire fouillĂ©e, die durch den âdevoir de mĂ©moireâ, jene im Sinne Foucaults âarchĂ€ologischeâ, aber normative VergegenwĂ€rtigung eines individuellen âraccourci moralisantâ, die KomplexitĂ€t geschichtlicher Ereignisse zum âĆuvre de misĂ©ricordeâ werden lĂ€sst.â©
- Luc CĂ©delle, âHistoire, du bon usage de la mĂ©moireâ, Le Monde, 22. MĂ€rz 2016, http://www.lemonde.fr/idees/article/2016/03/22/histoire-du-bon-usage-de-la-memoire_4887812_3232.html.â©
- Jean-Louis Jeannelle, âLa mĂ©moire fouillĂ©eâ, Le Monde des livres, 24. MĂ€rz 2016, http://www.lemonde.fr/livres/article/2016/03/24/la-memoire-fouillee_4889398_3260.html.â©
- OM, 84.â©
- Die deutsche Ăbersetzung nutzt ironischerweise im Klappentext dieses Adjektiv. Die Unorthodoxie wird sogleich von der rechts-konservativen Marianne-Feuilletonistin Aude Lancelin aufgegriffen und als âdevoir de mĂ©moire in caleçonâ ridikĂŒlisiert, 25. November 2012, http://www.marianne.net/Le-devoir-de-memoire-en-calecon_a224468.html. Eine gleiche Richtschnur legt auch Markus Neuert an, indem er in einer metĂĄbasis eis ĂĄllo gĂ©nos bemĂ€ngelt, dass dem Werk weniger âtomber la chemiseâ und mehr binationale Reflexion besser getan hĂ€tte. Der Wechsel in das popmusikalische Genre (Zebda, âTomber la chemiseâ, 1999; Art vs. Science, âParlez-vous français?â, 2009) beendet seine Rezension und bekrĂ€ftigt seine ZurĂŒckhaltung, das Werk in die âLiteraturâ einzuordnen, âFormale Verschlingungen in erotisch aufgeladenem Essayromanâ, Rezensionen-Welt, Oktober 2016, http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/diewerkederbarmherzigkeit-r.htm.â©
- Zum transmedialen Aspekt der OM vgl. Fabien Gris, âBal des arts, des corps et des histoires: incarnation et figuration dans Les Ćuvres de misĂ©ricorde de Mathieu Ribouletâ, in Le bal des arts: le sujet et lâimage, Ă©crire avec lâart, hrsg. von Elisa Bricco (Macerata: Quodlibet, 2015), 65â77.â©
- Jean-Claude Perrier, âCaravagesqueâ, Livres Hebdo 916 (2012): 69.â©
- Marcus Neuert, âFormale Verschlingungen in erotisch aufgeladenem Essayromanâ, http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/diewerkederbarmherzigkeit-r.htm.â©
- François Dugast, âLe nouveau roman et lâhistoire aprĂšs 1980â, in Nouvelles Ă©critures littĂ©raires de lâHistoire, hrsg. von Dominique Viart (Caen: Lettres modernes Minarde, 2015), 41â73.â©
- Ganz im Gegensatz zur deutschen Ausgabe, die auf dem Buchcover die Gattungsbezeichnung âRomanâ nennt. âFiktionen & Wirklichkeitenâ werden dennoch im Innencover erwĂ€hnt.â©
- Hayden White, Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1978), 122.â©
- Aristoteles, Poetik, ĂŒbers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann (Stuttgart: Reclam, 1982), Kapitel 9.â©
- Hayden White, The Content of the Form: narrative Discourse and historical Representation (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1987), 95.â©
- White, The Content of the Form, 122.â©
- Ansgar NĂŒnning, âLiterarische Geschichtsdarstellung: theoretische Grundlagen, fiktionale Privilegien, Gattungstypologie und Funktionenâ, in Erinnern und ErzĂ€hlen: der spanische BĂŒrgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, hrsg. von Bettina Bannasch und Christiane Holm (TĂŒbingen: Gunter Narr Verlag, 2005), 34â58, hier 37.â©
- So wĂ€re an dieser Stelle ebenfalls Aristotelesâ 9. Kapitel der Poetik anzufĂŒhren, der den unterschiedlichen Wahrheitsanspruch von Geschichte und Dichtung unterscheidet: die erstere stelle das Besondere dar, die letztere das Allgemeine. Diesem Anspruch liegen selbstverstĂ€ndlich ein unterschiedlicher Gebrauch rhetorischer und literarischer Muster sowie ein anderer bzw. gewollter Grad an FiktionalitĂ€t und emplotment zugrunde. Vgl. u.a. NĂŒnning, âLiterarische Geschichtsdarstellungâ, 38.â©
- EingefĂŒhrt von Linda Hutcheon, A Poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction (New York: Routledge, 1988), 105.â©
- Ich danke meiner Kollegin Andrea Zittlau fĂŒr das Aufzeigen einer Parallele zu E. L. Doctorovs The Book of Daniel (1971). Nicht nur die religiöse Ummantelung beider Werke, sondern auch deren Gebrauch als Ă€sthetische Grundlage fĂŒr die Revision von Historiographie und Historie sind zu erwĂ€hnen.â©
- Ansgar NĂŒnning, âLiterarische Geschichtsdarstellungâ, 35.â©
- M.E. steht die historiographical metafiction dem von Viart (2009) jĂŒngst entworfenen Modell des roman archĂ©ologique gegenĂŒber, der im besonderen MaĂe die Obsession mit der mĂ©moire zum Modell hat. Vgl. Dominique Viart, âNouveau modĂšles de la reprĂ©sentation de lâHistoire en littĂ©rature contemporaineâ, in Nouvelles Ă©critures littĂ©raires de lâHistoire, hrsg. von Dominique Viart (Caen: Lettres modernes Minarde, 2015), 11â42, hier 22â7.â©
- Ansgar NĂŒnning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion: Band 1. Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (Trier: WVT, 1995), 275.â©
- Brian McHale, Postmodernist Fiction (New York und London: Methuen, 1987), 90. Zitiert nach NĂŒnning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 268.â©
- Kursivierung Verf. SĂ©bastien Japrisots Roman und Jean-Pierre Jeunets gleichnamige Kinoadaption Un long dimanche de fiançailles (1991/2004) [dt. Mathilde â eine groĂe Liebe] können enigmatisch fĂŒr diese heteronormative, psychologisierende und archĂ€ologische GedĂ€chtnisfiktion stehen.â©
- Vgl. u.a. Jacques Aboucaya, âLes Ćuvres de misĂ©ricorde, de Mathieu Riboulet. Faites lâamour, pas la guerreâ, Datum unbekannt (âil y a 49 moisâ), http://salon-litteraire.linternaute.com/fr/mathieux-riboulet/review/1806246-les-Ćuvres-de-misericorde-de-mathieu-riboulet-faites-l-amour-pas-la-guerre; zum âroman homosexuelâ vgl. insbesondere Mathieu Riboulets poetologische Aussagen in âLe sexe, le dĂ©sir, le texteâ, Revue critique de fixxion française contemporaine, Nr. 12 (2016): 209â12. Riboulet distanziert sich dabei explizit von einer sogenannten gay novel, die die mimesis einer community sein will; vielmehr sieht er politisches Potential der HomosexualitĂ€t, wie hier auch zu zeigen sein wird. Metapoetologische Aussichten finden sich u.a. bei Ătienne Beaulieu, âNous en sommes laÌ. Ouvrage recenseÌ: Mathieu Riboulet, Lâamant des morts, Lagrasse, Verdier, 2008â, Contre-jour: cahiers litteÌraires 17 (2008â09): 167â71 sowie bei Ăric Bordas, Owen Heahcote, âHomosexualitĂ©s et fictions en France de 1981 Ă nos joursâ, im gleichnamigen Themenheft der Revue critique de fixxion française contemporaine 12 (2016): 1â4.â©
- Jörn RĂŒsen, âDie vier Typen des historischen ErzĂ€hlensâ, in Formen der Geschichtsschreibung, hrsg. von R. Koselleck und H. Kutz (MĂŒnchen: DTV, 1982), 514â605, hier 551.Zitiert nach NĂŒnning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 269.â©
- Astrid Erll und Klaudia Seibel, âGattungen, Formtraditionen und kulturelles GedĂ€chtnisâ, in ErzĂ€hltextanalyse und Gender Studies, hrsg. von Vera und Ansgar NĂŒnning (Stuttgart und Weimar: Metzler, 2004), 180â208, sowie Claudia ĂhlschĂ€ger, âGender/Körper, GedĂ€chtnis und Literaturâ, in GedĂ€chtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, hrsg. von Astrid Erll und Ansgar NĂŒnning (Berlin: de Gruyter, 2005), 227â48.â©
- Erll und Seibel, âGattungen, Formtraditionen und kulturelles GedĂ€chtnisâ, 185.â©
- Erll und Seibel, âGattungen, Formtraditionen und kulturelles GedĂ€chtnisâ, 187.â©
- âMit dem Terminus âPoiesisâ soll somit schlagwortartig hervorgehoben werden, daĂ historische Romane nicht ein ihnen zeitlich oder sachlich vorausliegendes Geschehen abbildend darstellen, sondern eigenstĂ€ndige Manifestationsformen gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins darstellen und mit ihren erzĂ€hlerischen Gestaltungsmitteln selbst neue mentale Modelle oder Vorstellungen von Geschichte erzeugen können.â NĂŒnning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 57.â©
- ĂhlschlĂ€ger, âGender/Körper, GedĂ€chtnis und Literaturâ, 228.â©
- OM, UmschlagrĂŒckseite; 14.â©
- Gaby Allrath und Marion Gymnich, âNeue Entwicklungen in der gender-orientierten ErzĂ€hltheorieâ, in NĂŒnning, Hrsg., ErzĂ€hltextanalyse und Gender Studies, 33â71, hier 42.â©
- Andrew Gibson, Towards a Postmodern Theory of Narrative (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1996), 25.â©
- Allrath und Gymnich, âNeue Entwicklungen in der gender-orientierten ErzĂ€hltheorieâ, 43.â©
- Luba Jurgenson bezeichnet diese narratologische Form in Riboulet als âintĂ©rioritĂ©s dĂ©mulitipliĂ©esâ; m.E. fĂŒhrt diese Terminologie ein wenig irre, da sie zu Ungunsten der âexterieurenâ Interkation der Körper die strukturalistische âfocalisation interneâ als tiefste Innerlichkeit einer ErzĂ€hlung ins Feld fĂŒhrt. Luba Jurgenson, âFictions contemporaines des violences de masse: le dispositif Ă lâĂ©preuve du rĂ©elâ, in Revue critique de fixxion française contemporaine 13 (2016): 57â67, hier 63.â©
- Cixous, âLe Rire de la MĂ©duseâ, 37.â©
- Cixous, âLe Rire de la MĂ©duseâ, 38.â©
- Cixous, âLe Rire de la MĂ©duseâ, 57.â©
- Cixous, âLe Rire de la MĂ©duseâ, 57.â©
- Cixous, âLe Rire de la MĂ©duseâ, 45â6.â©
- OM, 41; 52.â©
- U.a. Susanne Kaiser, Körper erzĂ€hlen: der postkoloniale Maghreb von Assia Djebar und Tahar Ben Jelloun (Bielefeld: transcript 2015), 73â114 erklĂ€rt diesen Prozess anhand des weiblichen writing back von Assia Djebar. In Hinblick auf eine queer narratology sei verwiesen auf Christina Marcandiers foucauldianischen Zugang zum âcorps-texteâ, âLe corps-texte de Michel Foucault, personnage romanesque et Ă©noncĂ© fictionnelâ, Revue critique de fixxion française contemporaine 13 (2016): 130â42.â©
- Riboulets Anwendung der rĂ©Ă©criture corporelle geht ĂŒber die Aufarbeitung der Erbfeindschaft und des Kriegsspuks hinaus. Mit dieser Ă€sthetischen Strategie greift er sowohl die Grenzziehung durch sozioökonomische (s. hierzu das Beispiel des Kniegeigenspielers Adrien; insbesondere Kap. 5) als auch durch ethnisch-rassialisierende Differenzkategorien (s. das Kennenlernen des âprince dâorientâ, TadjĂźn; insbesondere Kap. 13 und 14) an; weiterhin dient ihm diese Strategie als Revision der Historiographie und der Erinnerungskultur der Verfolgung von Homosexuellen wĂ€hrend des Nationalsozialismus in Deutschland (s. insbesondere die Episode am âDenkmal fĂŒr die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellenâ in Berlin, Kap. 15) und in Frankreich (s. im gleichen Kapitel, 126â28, die Aufarbeitung der Pariser Demonstration gegen den PACS 1999).â©
- OM, 49.â©
- Sophie Joubert, âLa politique inscrite dans le corpsâ, Rezension zu Riboulets Entre deux il nây a rien, lâHumanitĂ©, 24. September 2015. http://www.humanite.fr/la-politique-inscrite-dans-les-corpsâ584754.â©
Ill.: Duvette BenoĂźt, Mathieu Riboulet dans Le Corps des Anges, adaptation cinĂ©matographique par BenoĂźt Duvette – Collectif des Routes, Creative Commons